|
[259] Vor mir liegt:
›Geographie für höhere Lehranstalten‹ von Dr. Michael Geistbeck und Dr. Alois Geistbeck. Achter Teil. Staatenkunde von Frankreich, Großbritannien und den außereuropäischen Staaten. München und Oldenburg 1925. Sechste Auflage.
»Die Erweiterung des Geographieunterrichts an den höhern Lehranstalten Bayerns«, heißt es in der Einleitung, »und die Gestaltung desselben als geographische Staatenkunde, endlich die gewaltigen politisch-geographischen Veränderungen durch den Ausgang des Weltkrieges erheischten erhebliche Ergänzungen und Änderungen der Vorlage. Dieser Aufgabe hat sich Herr Professor Wührer unterzogen, der seine Kraft schon mit der Verabfassung der Heimatkunde des 1. Teiles in den Dienst des Lehrbuchs gestellt hatte.« Eine deutsche Übersetzung dieses bayerischen Satzes steht noch aus.
Das Buch enthält eine Fülle von tatsächlichen Unwahrheiten, die lediglich zu dem Zweck aufgenommen sind, die Wahrheiten der ›Münchner Neusten Nachrichten‹ in wehrlose Kinder hineinzupressen. Beispiele:
»Eine hervorstechende Eigenschaft des Franzosen ist sein Fleiß und seine Sparsamkeit. Die Folge ist ein allgemeiner Wohlstand. Doch fehlt dem Franzosen der Tätigkeitsdrang und die Unternehmungslust des Deutschen; er strebt nach frühzeitigem Rentnertum. Kennzeichen des französischen Volkes sind aber auch glühender Ehrgeiz und Herrschsucht. Sie haben Frankreichs Schuldenlast vor der Revolution bis zum Staatsbankrott gesteigert, sie haben seine Volkskraft in der Zeit Napoleons erschöpft, sie haben zur Niederlage von Sedan geführt und haben es angetrieben, den Weltkrieg mit allen Mitteln vorzubereiten, aus dem es, aus den schwersten Wunden blutend, lediglich durch fremde Hilfe als ›Sieger‹ hervorgegangen ist.«
Es ist nachweislich falsch, daß dem Franzosen Tätigkeitsdrang und Unternehmungslust fehlen; daß ihm »der Tätigkeitsdrang des Deutschen« fehlt, ist ebenso richtig wie die Behauptung, daß der Deutsche nicht die jagdlichen Anlagen eines australischen Buschmanns besitze, sondern eben seine eignen. Wührer muß wissen, was die Franzosen aus ihren Kolonien gemacht haben, ein Faktum, das wir negativ bewerten, er aber anerkennen müßte. Es ist nicht wahr, daß die Franzosen von glühendem Ehrgeiz und Herrschsucht besessen seien. Die schärfsten französischen Nationalisten haben keinerlei Expansivgelüste; es gibt keinen aggressiven Imperialismus in Frankreich. Es ist nicht wahr, daß Frankreich den »Weltkrieg mit allen Mitteln vorbereitet hat« – es hat genau, genau so gerüstet, wie alle europäischen[259] Staaten das getan haben, genau wie England, genau wie Deutschland, genau wie Rußland. Die Schuld am Ausbruch trifft alle Staaten gleichmäßig; ich glaube, daß die deutsch-österreichische Konspiration der letzten vier Wochen vor dem 1. August ein Plus an Schuld trägt. Es ist nicht recht, einem Lande, das für seine nationalen Interessen, die Wührer bei den Deutschen bejaht, so geblutet hat wie Frankreich – es ist nicht recht, diesem Lande noch heute seine Verluste vorzuwerfen, und es ist eine hervorragend deutsche Eigenart, ein weltgeschichtliches Geschehnis dadurch aus der Welt schaffen zu wollen, daß man es in Anführungsstriche setzt. Frankreich ist nicht als ›Sieger‹ aus diesem Kriege hervorgegangen, sondern als Sieger, und Deutschland hat diesen Krieg verloren.
Vom französischen Kolonialreich:
»Der eigentliche Grund dieses Ausdehnungsstrebens war sowohl das Bedürfnis, die Einbuße an Ruhm und Ansehen, die der Krieg von 1870/71 herbeigeführt hatte, durch große überseeische Unternehmungen wieder wettzumachen . . . «
Jacob Burckhardt, im März 1873: »Das erste große Phänomen nach dem Kriege von 1870/71 ist die nochmalige, außerordentliche Steigerung des Erwerbssinnes, weit über das bloße Ausfüllen der Lücken und Verluste hinaus, die Nutzbarmachung und Erweckung unendlich vieler Werte, samt dem sich daran heftenden Schwindel (Gründertum).« Dies zunächst für Deutschland. Von Frankreich aber: »Das Staunen der ganzen Fachwelt erweckt die Zahlungsfähigkeit Frankreichs, das in seiner Niederlage einen Kredit genießt, wie kaum je ein Land im vollen Siege.«
»Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß die französische Kunst trotz mannigfacher Schwächen tonangebend in der Welt geblieben ist.«
Cézanne erhält also auch in Bayern die Note im ganzen befriedigend und darf sich setzen. Aber:
»Es kann aber auch nicht in Abrede gestellt werden, daß Paris mehr als andre Millionenstädte ein Ausgangspunkt sittlicher Zersetzung ist.«
»Mehr als andre Millionenstädte« – das ist Berlin. Ich weiß nicht, was München zersetzt; die zahlreichen Eisenbahnschlampereien, die so vielen Menschen den Tod gekostet haben, werden es wohl nicht sein.
Aber ich weiß, daß die bayerischen Schulräte, die dieses Buch haben durchgehn lassen, so viel von Paris verstehn, wie das Buch wert ist. Bayern tröste sich: es ist noch nicht zersetzt, sondern hat sich seine bundesstaatliche Eigenart bewahrt.
»Seit 1688 hat kein Feind mehr britischen Boden betreten. Erst während des Weltkrieges griffen die deutschen Kriegsschiffe zu[260] wiederholten Malen die englischen Küstenstädte an und fielen aus deutschen Kriegs-Luftschiffen Bomben auf englische Städte hernieder.«
Das ist deutsch, für Schüler. Der Luft-Angriff war ein Verstoß gegen das Völkerrecht und ein überflüssiges Verbrechen dazu, das aus England den letzten Funken Energie herausgeholt hat.
Von England:
»Es fehlte . . . «
Nun, wo fehlts denn bei denen?
»Es fehlte den leitenden Männern der englischen Industrie vielfach eine gründliche technische und wissenschaftliche Durchbildung. Man begnügte sich zu einseitig mit der praktischen Erfahrung.«
Wohin kämen wir auch damit –!
»Die englische Industrie blieb hinter der deutschen hauptsächlich in den Zweigen zurück, die am meisten auf wissenschaftlicher Forschung aufgebaut sind, so in der Stahlbereitung, in der chemischen Industrie und der Präzisionsmechanik. Ein weiterer Vorteil der jungen deutschen Betriebe war die Verwendung der neusten Maschinen, während die alten englischen Betriebe vielfach noch mit unvollkommenen alten Maschinen arbeiteten.«
Daß jedes Volk seine Spezialität hat, in der es besser arbeitet als andre, ist nicht neu. Die Welt ist kein Rennplatz, und England arbeitet weder besser noch schlechter als Deutschland, sondern anders.
»Als gefährlichster Nebenbuhler im Bereiche des Handels erschien neben den Vereinigten Staaten das Deutsche Reich. Es war auch tatsächlich im Absatz seiner Industrieerzeugnisse, in Schiffahrt, überseeischem Handel und überseeischer Betätigung England immer nähergerückt und hat ihm in mancher Hinsicht sogar den Rang abgelaufen. Hauptsächlich durch den deutschen und amerikanischen Wettbewerb sah die englische Volkswirtschaft sowohl in der Industrie wie im Handel ihre Vorzugsstellung bedroht«
und fing daher einen Krieg mit den Vereinigten Staaten an – nein:
»Der Krieg schien eine geeignete Gelegenheit, die Kraft des einen Konkurrenten zu schwächen. Dies gelang zwar, aber gleichzeitig wuchs die Union England über den Kopf.«
Nachweislich falsch. Die Arbeitsmethoden der englischen Industrie unterscheiden sich allerdings von den deutschen, denen ein Schilderer mit Recht vorgeworfen hat, sie seien überlackiert und auf Fassade gestellt. Daß die »Union England über den Kopf wächst«, ist für jeden Kenner der Verhältnisse ein Nonsens. Dieser Satz ist überhaupt nicht diskutierbar – man lese nach, was etwa Professor S. Saenger darüber schreibt, der England wirklich kennt, und man wird versucht sein, an der Sorgfalt bayerischer Schulbehörden sanft zu zweifeln.
[261] Gebiete, die durch den Vertrag von Versailles den Deutschen verloren gingen, stehen nach wie vor unter »Deutsch-Südwest-Afrika«, tragen also unrichtige Bezeichnungen; eine genaue Beschreibung dieser Gebiete findet sich in der »Geographie Deutschlands«, Bayern erkennt Versailles nicht an, und die Engländer werden sich schön ärgern.
Auch die Japaner kriegen einen aufs Dach. Hätten sie sich im Kriege nicht gegen Deutschland gewandt – wer weiß, vielleicht hätte sich Bayern für neutral erklärt, aber so . . .
»Mit Japan ist eine neue Großmacht, mitbestimmend in der Weltgeschichte, eingetreten: eine nichtarische und nichtchristliche Macht.«
Der Mikado soll ja nicht einmal auf die ›Münchner Neusten Nachrichten‹ abonniert sein! Eine Macht, die nicht beichten geht, die nicht so garantiert rasserein ist wie die Germanen, hoihotoho mit Zugstiefeln, eine Macht, die zwar nicht direkt aus Juden besteht, aber immerhin . . . gelb sind diese Kerle . . . die Araber sind auch gelb . . . hepp, hepp! gsuffa!
Dergleichen steht in einem Lehrbuch der deutschen Republik. Die bayerischen Belange (sprich das aus wie: Melange), die katholische Einflußsphäre, deren Auswirkungen sich jeder anständige und gebildete Katholik schämen sollte, die Hetze zu neuen Kriegen und zur Revanche sind deutlichst zu spüren.
Es folgt aus diesem Buch, daß die Befriedigung, der Fortschritt und die Pflege eines neuen Geistes zu allererst in den kleinen Zellen zu erfolgen hätte, und grade da erfolgt sie nicht. Die Monstre-Bürokratie Deutschlands kann uns viel erzählen – maßgeblich ist und bleibt nur, was im Konferenzzimmer der Schulen, in den Provinzialschul-Kollegien, in den Bürgermeistereien und in den Schreibstuben der Güter getrieben wird, und das sieht in der Gesinnung so aus wie dieses von Unrichtigkeiten wimmelnde Buch.
Das Buch steht in der sechsten Auflage. Sechste Auflage heißt nicht: sechstausend Stück, denn wahrscheinlich ist die Zahl der gedruckten Exemplare weitaus höher. Sechste Auflage heißt bei einem Schulbuch überhaupt nicht soundsoviel Stück.
Sondern sechste Auflage bedeutet:
Jahraus, jahrein wird aufnahmefähigen Kindergehirnen ein Lehrstoff eingetrommelt, den sie wahrscheinlich nie wieder vergessen werden und den auszuradieren nur wenige Gelegenheit und Kraft haben. In diesem Alter prägt sich Gesagtes rasch und kräftig ein; um wie viel mehr erst, wenn es durch die Autorität der Schule gestützt und entsprechend feierlich ex cathedra vorgetragen wird.
Jenes Buch steht in der sechsten Auflage. Wann also, so dürfte unsre Rechenaufgabe lauten, haben wir den nächsten Krieg –?
[262] Pazifistische Eltern, die das Unglück haben, ihre Kinder in so eine Verbildungsanstalt schicken zu müssen, dürfen sich dann an die sehr zweischneidige Aufgabe machen, Tag für Tag die Schule zu desavouieren. Hoffentlich tun sies.
So, genau so, ist der Weltkrieg geistig vorbereitet worden. Von Frankreich zu sagen:
»Der äußern Machtstellung entspricht nicht die innere Kraft. So kann der Sieg Frankreichs nur als ein vorübergehender Erfolg seiner Politik betrachtet werden . . . «
ist die klare Aufhetzung zur Revanche, um so mehr, wenn hinzugefügt wird, daß die Franzosen nur vierzig Millionen stark sind, die Deutschen aber achtzig Millionen stark seien – eine Zählung, die offenbar alle Deutschen, auch die in fremden Ländern, mitgezählt hat.
Über die großdeutsch-nationale, klein-bayerische Gedankenlosigkeit der absoluten Staatssouveränität aber siege der Gedanke der Vereinigten Staaten von Europa.
Buchempfehlung
Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.
270 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro