Die Sonne war längst aufgegangen, als der König und der Herzog hervorkrochen. Sie sahen recht verschlafen aus; aber nachdem sie über Bord gesprungen waren und etwas geschwommen hatten, waren sie bedeutend frischer. Nach dem Frühstück setzte sich der König auf eine Ecke des Floßes, zog die Stiefel aus, rollte die Hosen auf, ließ die Beine bequem ins Wasser hängen, zündete die Pfeife an und begann seinen Teil in ›Romeo und Julie‹ auswendig zu lernen. Als er es ziemlich gut inne hatte, übten er und der Herzog zusammen. Der Herzog ließ ihn seufzen und die Hand aufs Herz legen; nach einiger Zeit sagte er, es ginge ziemlich gut; »nur,« meinte er, »mußt du ›Romeo‹ nicht so herausbrüllen wie ein Stier – du mußt's sanft liebeskrank und vergehend so sagen: – R–o–o–meo! denn Julie ist ein liebes süßes Mädchen, fast ein Kind, weißt du, und schreit nicht wie ein Esel.«
Nun holten sie ein paar lange Schwerter hervor, die der Herzog aus Eichenstöcken gemacht hatte, und übten ihr Schwertgefecht – der Herzog nannte sich Richard III., und es war wirklich großartig anzusehen, wie sie drauf los hieben[151] und umhersprangen. Nach einiger Zeit glitt der König aus und fiel über Bord; danach rasteten sie und plauderten von allen möglichen Abenteuern, die sie früher längs des Stromes erlebt hatten.
Sobald sich eine Gelegenheit bot, ließ der Herzog einige Anschlagzettel drucken. Auf dem Floß aber ging es in den darauffolgenden Tagen, während wir stromab trieben, sehr lebhaft zu: es gab nichts als Schwertgefechte und Generalproben – wie der Herzog es nannte. Eines Morgens, als wir schon ziemlich weit drunten im Staate Arkansas waren, sahen wir ein kleines Städtchen in einer großen Bucht. Wir legten etwa eine dreiviertel Meile oberhalb an, in der Mündung eines Baches, der, von Zypressen überragt, wie ein Tunnel aussah; und wir alle außer Jim nahmen das Kanoe und fuhren hinunter, um zu sehen, was für Gelegenheit in dem Städtchen für unsere Vorstellung wäre.
Wir trafen es glücklich; am Nachmittag sollte dort ein Kunstreiter-Zirkus stattfinden, und das Landvolk fing schon an, in allerlei alten Rappelkasten von Wagen und auch zu Pferde, herbeizuströmen. Die Kunstreiter wollten vor Abend weiterreisen, so war für unsere Vorstellung gute Gelegenheit. Der Herzog mietete die Rathaushalle und wir gingen umher und klebten unsere Zettel an. Die lauteten so:
Wunderbare Attraktion!!
Nur für einen Abend!
Die weltberühmten Tragöden
David Garrick der Jüngere vom Drury-Gasse-Theater London
und
Edmund Kean der Ältere vom königlichen Heumarkt-Theater, Piccadilly-London wie auch der königlichen Continental-Theater – in ihrem erhabenen
Schau-Stück:
[152] Die Balcon-Szene
aus
Romeo und Julie!!!
Romeo .......... Herr Garrick.
Julie ............... Herr Kean.
Unterstützt von allen Kräften der Gesellschaft!
Neue Kostüme, neue Dekorationen, alles neu!
Ferner:
Der erschütternde, meisterhafte, blut-erstarrende
Schwertkampf
aus Richard III.!!!
Richard III. ......... Herr Garrick.
Richmond ................ Herr Kean.
Ferner
(auf besonderen Wunsch):
Hamlets unsterblicher Monolog!
Gegeben von dem berühmten Kean,
der ihn an 300 auf einander folgenden Abenden in Paris gespielt hat!
Nur einen Abend,
wegen unversäumbarer europäischer Engagements!
Eintritt 25 Cents; Kinder und Dienstboten 10 Cents.
Dann trieben wir uns etwas im Städtchen umher. Die Läden und anderen Häuser waren meistens alte hölzerne Rumpelkasten, die nie einen Anstrich gehabt hatten; sie standen drei bis vier Fuß über der Erde wie auf Stelzen, um nicht überschwemmt zu werden, wenn der Strom austrat.
Die Kaufläden waren alle an einer Straße. Vor denselben waren weiße Segeltuchdächer über die Seitenwege gespannt und an die Pfosten, welche diese Dächer stützten, band das Landvolk die Pferde. Unter diesen Zeltdächern standen leere Kisten,[153] auf denen sich den Tag über Faullenzer räkelten und mit ihren großen Messern daran herumschnitzten. Es war ein tabakkauendes, gähnendes, faulenzendes und Maulaffen feilhaltendes Gesindel.
Dem Fluß entlang sah man Häuser, welche sich kaum mehr halten konnten und so vornüber neigten, als müßten sie jeden Augenblick hineinpurzeln. Die Leute waren schon ausgezogen. Unter dieser oder jener Häuserecke hatte der Fluß bereits die Erde weggespült, so daß die Ecken sich vornüber neigten. Trotzdem wohnten noch Menschen darin, aber es war gefährlich, denn zuweilen versinkt ein Stück Land, so breit wie ein Haus, mit einem Male. Solch ein Städtchen muß sich immer weiter zurückziehen, denn der Strom nagt beständig daran.
Je näher der Mittag herankam, desto dichter drängten sich Wagen und Pferde in den Straßen und immer kamen noch mehr. Familien vom Lande brachten ihr Mittagsessen mit und verzehrten es in ihren Wagen. Es wurde viel Branntwein getrunken und ich sah drei Prügeleien.
Also am Abend hatten wir unsere Vorstellung; es waren aber kaum ein Dutzend Leute dabei – eben genug, um die Unkosten zu decken. Und sie lachten fortwährend, das machte den Herzog ärgerlich; noch vor dem Ende der Aufführung waren alle wieder fortgegangen, mit Ausnahme eines Jungen, der eingeschlafen war. Da sagte der Herzog: »Diese Arkansas-Kaffern stehen zu tief für Shakespeare; was sie wollen, ist niedrige Komödie – und vielleicht gar noch Schlimmeres als das. Ich kann mir schon denken, was die wollen.« Am nächsten Morgen nahm er große Bogen Packpapier nebst schwarzer Farbe, malte Anzeigen darauf und klebte sie überall an. Sie lauteten:
[154]
»Im Rathause!
David Garrick der Jüngere!
und
Edmund Kean der Ältere!
vom London- und den Continental-Theatern in dem ergreifenden Trauerspiel:
Des Königs Kamelopard
oder
Das königliche Non plus ultra!!!
Eintritt 50 Cents.«
Ganz unten war in fetter Schrift zu lesen:
Frauen und Kinder sind ausgeschlossen.
»Wenn das nicht zieht,« sagte der Herzog, »dann kenne ich Arkansas schlecht.«
Den ganzen Tag waren König und Herzog damit beschäftigt, die Bühne, den Vorhang und eine Reihe Talglichter für die Rampe zurecht zu machen. Am Abend war in kurzer Zeit die Halle gesteckt voll Männer. Als keiner mehr hineinging, verließ der Herzog seinen Posten am Eingang, ging hinten herum auf die Bühne und trat vor den Vorhang. Er hielt eine kleine Rede, worin er das angekündigte Trauerspiel pries; es sei das ergreifendste, das überhaupt existiere, und so fuhr er fort zu prahlen mit dem Trauerspiel und mit Edmund Kean dem Älteren, der die Hauptrolle spielen würde. Endlich, als jedermanns Erwartungen aufs höchste gespannt waren, zog er den Vorhang auf und im nächsten Augenblick kam der König auf allen Vieren und fast völlig nackt hereingesprungen. Er war ganz bemalt mit Ringen und Streifen aller Farben, prächtig wie ein Regenbogen. Das Volk fiel fast um vor Lachen, und als der König sich müde gesprungen hatte und hinter die Scene kroch, da klatschte, trampelte, wieherte[155] und stürmte die Menge, bis er wiederkam und alles wiederholte, und er mußte es dann noch einmal machen, denn sie riefen ihn wieder heraus. Der Unsinn, welchen der alte Kerl machte, war allerdings toll genug, um sogar eine Kuh zum Lachen zu bringen.
Dann ließ der Herzog den Vorhang herunter, verbeugte sich und sagte, das Trauerspiel würde nur noch zwei Abende gegeben werden wegen dringender Engagements in London, wo die Plätze dafür im Drury-Gassen-Theater bereits alle verkauft seien. Dann machte er noch eine Verbeugung und sagte: »Wenn es uns gelungen ist, Sie zu amüsieren und zu belehren, werden wir Ihnen dankbar sein, wenn Sie es Ihren Freunden sagen, damit die auch kommen, uns zu sehen.«
Etwa zwanzig Stimmen riefen:
»Was? schon vorüber? ist das alles?«
Der Herzog sagte »ja«. Dann wurde es lebhaft. Alles schrie: »Oho!« sprang wild auf und nach der Bühne zu. Aber ein großer, fein aussehender Mann sprang auf eine Bank und rief:
»Ruhe! ein Wort meine Herren.«
Sie schwiegen wirklich und horchten. »Wir sind zum besten gehalten worden – ziemlich arg zum besten. Aber wir wollen uns doch nicht von der ganzen Stadt auslachen lassen. Nein. Wir wollen hübsch stille fortgehen und über die Vorstellung prahlen, damit der Rest der Stadt ebenso genarrt werde; dann wissen alle, wie es ist, und keiner kann den andern auslachen. Ist das nicht vernünftig? (›Das ist wahr! – Der Richter hat recht!‹ riefen alle.) Wohl denn, also nicht ein übles Wort. – Geht heim und ratet jedem, das Trauerspiel zu besuchen.«
Am nächsten Tag war von nichts die Rede, als von dem herrlichen Trauerspiel. Am Abend war das Haus wieder überfüllt[156] und auch diese Versammlung war genarrt. Als ich und der König und der Herzog wieder auf das Floß zurückkamen, aßen wir zusammen zu Abend. Nachher, etwa um Mitternacht, ließen sie Jim und mich das Floß in die Mitte des Stromes steuern und etwa zwei Meilen unterhalb der Stadt anlegen.
Am dritten Abend war das Haus wieder gepackt voll – es waren diesmal keine neuen Gesichter, sondern Leute, die schon an den vorigen Abenden dagewesen waren. Ich stand beim Herzog und sah, daß jeder, der hineinging, etwas in seinen Taschen oder unter seinem Rocke versteckt trug – und ich konnte sehen, daß es keine Parfümflaschen waren – nein, gewiß nicht! Es hatte einen eklichen Geruch, der an schlechte Eier und verfaulte Kohlköpfe erinnerte und dergleichen. Als niemand mehr hinein konnte, gab der Herzog einem in der Nähe Stehenden einen viertel Dollar und bat ihn, für eine Minute Thürwächter zu sein. Dann ging er hinten herum nach der Bühnenthüre, ich hinter ihm her; doch kaum um die Ecke gebogen und im Dunkeln, sprach er:
»Jetzt geh' rasch, bis du von den Häusern weg bist, und dann mach, daß du so schnell zum Floß kommst, als sei der Böse hinter dir!«
Ich that's, und er gleichfalls. Wir kamen zu gleicher Zeit dort an und im Nu glitten wir stromab – niemand sprach ein Wort. Ich dachte an den armen König, und wie es ihm mit seiner Audienz gehen würde; aber nichts da; der kroch lustig aus dem Zelt hervor und sagte:
»Nun, Herzog, wie hat sich die Geschichte diesmal gelohnt?«
Er war nämlich gar nicht in die Stadt gegangen.
Wir zeigten kein Licht bis wir zehn Meilen stromab waren. Dann machten wir Licht, und nahmen unser Abendessen. König und Herzog lachten sich fast die Knochen auseinander[157] über die Art, wie sie das Volk überlistet hatten. Da sagte der Herzog:
»Grünschnäbel, Dummköpfe! Ich wußte wohl, das erste Publikum würde 's Maul halten, damit die übrigen auch in die Falle gingen; ich wußte, daß sie den dritten Abend denken würden, die Reihe käme nun an sie. Ja, jetzt haben sie ihre Revanche. Ich gäbe was drum, wenn ich sehen könnte, was sie für ein Gesicht dabei machen.«
Diese Teufelskerls hatten wirklich 465 Dollars an diesen drei Abenden eingenommen. Ich habe nie früher einen solchen Berg voll Kleingeld beisammen gesehen.
Bald schliefen und schnarchten die beiden; da sagte Jim zu mir:
»Du nix sein erstaunt, von unsre Könige, Huck?«
»Nein,« sagte ich, »durchaus nicht!«
»Aber Huck, sein ja wahre Teufelskerls, nix anderes, rechte echte Teufelskerls.«
»Nun, so viel ich weiß, sind das viele Könige.«
»So, du das meinen? Dann Jim nix wollen wissen von Könige.« –
»Lies doch etwas darüber nach, dann wirst du's sehen. Da ist Henry VIII.; im Vergleich mit dem ist der unsrige ein Sonntagsschul-Superintendent. Und dann Charles II. und Louis XIV. und Louis XV. und James II. und Eduard II. und Richard III. und noch viel mehr; fast all die angelsächsischen Fürsten in den alten Zeiten waren rechte Kains-Kinder. O, du solltest Henry VIII. in seiner Blüte gesehen haben. Das war ein Hauptkerl. Der heiratete ein neues Weib jeden Tag und am nächsten Morgen hieß es immer: ›Kopf ab!‹ Und er that dabei so gleichgültig, als ob er sich ein paar Eier bestellte. ›Nell Gwynn her,‹ rief er. Man brachte sie. – Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ und ab war er. ›Jane[158] Shore her,‹ rief er. Sie kommt. – Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹ – ab war er. ›Leute, die schöne Rosamund' herbei‹; ›schön Rosamund'‹ folgt dem Lockruf. – Nächsten Morgen: ›Kopf ab!‹«
»Jede von diesen Frauen mußte ihm in jeder Nacht eine Geschichte erzählen und er sammelte dieselben, bis es tausend und eine waren; dann machte er ein Buch daraus, welches er Domesday book nannte.1 Ja, Jim, ich könnte dir noch manches von jenem König erzählen. Hast du nie davon gehört, was dieser Heinrich für Händel mit unserem Land anfing? Das ging so zu. Auf einmal läßt er – mir nichts dir nichts – im Hafen von Boston allen Thee über Bord schmeißen und läßt eine Unabhängigkeits-Erklärung vom Stapel und droht mit einem Krieg. Das war seine Art so – keine Spur von Rücksicht und Billigkeit. Ein andermal hatte er seinen Vater, den Herzog von Wellington, im Verdacht. Was thut er? – Er geht her und läßt ihn in einem Syrupfaß ersäufen, wie eine Katze. Wenn die Leute Geld herumliegen ließen und er sah es – wupp dich, steckte er es ein. Er brauchte nur den Mund aufzuthun und wenn er ihn nicht gleich wieder zuklappte, kam allemal eine Lüge heraus. Ja, wenn dieser Heinrich über das Städtchen drüben gekommen wäre, der hätte ihm noch ganz anders mitgespielt, das kannst du mir glauben.«
»Huck, das sein ganz abscheulich. Wollte, hätten solche Leute nicht auf Floß.«
»Mir geht's ebenso, Jim. Aber sie sind nun einmal da und wir müssen denken, daß sie so erzogen sind und nichts dafür können.«
Was hätte es genützt, Jim zu sagen, daß die beiden gar kein König und Herzog seien?
1 | Die Vorstellung, welche Huck von dem Buche der englischen Grundrechte und anderen geschichtlichen Begebenheiten hat, läßt uns seine Ansicht über Könige nachsichtig beurteilen. |
Ausgewählte Ausgaben von
Abenteuer und Fahrten des Huckleberry Finn
|
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro