[206] Albertine fand die Parthie, an der Hand des Hofmarschalls, der immer witzig seyn wollte, diesen Abend so langweilig, daß sie ihre Gesellschaft aufsuchte, die denn auch sogleich willig war, das Haus zu verlassen, weil es durch aus ennuyant sei, sie auch den großen Herrn nicht angetroffen habe. Schon waren sie dem Ausgange nahe, als Rosa munde sich plötzlich wendete. »Da ist er!« rief sie. »Ich muß zurück; dazu muß ich[206] Sie haben, Herr Hofmarschall! Herr Baron, Sie führen indeß die Frau von Lindenhain nach Hause; und Sie, Albertine, sind so gut, mich in meinem Zimmer mit dem Thee zu erwarten!«
Albertine fand nichts Bedenkliches darin, dem Baron ihren Arm zu geben. Indem aber diese Auswechselung geschah, streifte der Kosake dicht an ihr vorüber und machte eine mißbilligende Bewegung mit der Hand, die Weißensee nicht bemerkte. Dem Kosaken warf sein Diener einen braunen Mantel um, gab ihm Pistolen, die er am Gürtel befestigte, und nun bestieg derselbe, wie es Albertinen vorkam, indem sie in die Kutsche stieg, ein Pferd, worauf er schnell von dannen eilte.
Als sie sich mit dem Baron allein im Wagen befand, nahm er plötzlich ein Betragen an, wie sie es bei ihm noch nie gesehen hatte. Vertraut umschlang er ihren zarten Leib, und sprach von Leidenschaft und Liebe, indem er ihr einen Kuß zu rauben strebte. Angstvoll entwand sie[207] sich ihm und versuchte den Kutschenschlag zu öffnen; da bemerkte sie, daß sie in einer ihr unbekannten Gegend der Stadt sei, und eben über eine Brücke fuhr, die zu einer entlegenen Vorstadt führte. »Wo sind wir? Wo bringen Sie mich hin, Baron? Hier ist's nicht richtig!« – »Es ist alles ganz richtig, meine Geliebte! Ich führe Sie in's Paradies der Liebe ein. Sie streben vergebens, sich los zu machen. Der Kutscher hat seine Anweisungen.« – Albertine benahm sich hier mit der ganzen Würde der Tugend; sie tobte, sie schmähte nicht; sie schwieg, mit dem vollen Gewichte der Verachtung; ihr Herz war gebrochen, doch sagte sie ganz ruhig: »Ich hielt Sie für einen ehrlichen Mann, der keines Bubenstückes fähig sei; ich stehe unter dem Schutz der Gesetze und fürchte Sie nicht; so verlassen ich in diesem schrecklichen Moment scheine, ahne ich die unausbleibliche Erlösung!« – »Die Liebe begeht keine Bubenstücke und kennt keine Gesetze. Sie sind mein!« – Der Wagen hielt vor einem[208] kleinen, einsamen Häuschen. Ein altes Weib erschien auf ein Zeichen, mit einem Lichte an der Thüre. Albertine weigerte sich, auszusteigen; der Baron wollte sie mit starkem Arme fassen, als er selbst von einem stärkeren gefaßt wurde.
»Was hast du vor, Nichtswürdiger?« rief eine Stimme. Albertine erkannte an dem Scheine des Lichtes den Kosaken, und in diesem ihren Erretter Albert. – »Wer bist du, daß du es wagst, mich auf meinem Wege zu verfolgen?« – »Der Freund dieser Dame, die du jetzt in dieser Höle des Verderbens vernichten willst.« – »O, daß ich keinen Degen habe!« – »Sei ruhig; ich schlage mich nicht mit Nichtswürdigen; aber die Gesetze sollen dich schlagen, da du so vieler Unthaten überwiesen bist. Diese bricht dir und deiner Rotte den Hals!« –
Albertine hörte bebend diesem seltsamen Gespräche zu, das sich damit endigte, daß die im Hinterhalt lauernden Polizeidiener hervortraten und den überführten Verbrecher in ihre Obhut nahmen.[209]
Jetzt gab Albert sein Pferd seinem Diener, und stieg zu Albertinen in den Wagen. – »Verzeihen Sie mir, meine arme, auf den Tod erschreckte Freundin! Ich konnte Ihnen diese Scene nicht ersparen; denn ohne diese Überführung seiner Nichtswürdigkeit, konnt' ich mich seiner nicht bemächtigen. Keiner weiß, wer Sie sind. Ihre Ehre ist ungefährdet. Erst heute erfuhr ich mit Gewißheit seinen wahren Stand; und ich habe Anstalten getroffen, daß er morgen schon über die Grenze gebracht wird.«
Albertine war starr und stumm vor Schreck und Beschämung. Sie weinte still. Die letzte Periode ihres Lebens stand schwarz vor ihr, und schnitt scharf die vorigen goldenen Tage ihrer reinen Unbefangenheit von der Gegenwart ab. – »Ich darf's Ihnen, Edelster der Freunde, nicht verhehlen, daß ich diesem Elenden unglücklicherweise Geldverbindlichkeiten habe.« – Albert erschrak, wurde aber sehr beruhigt, als sie ihm erklärt wurden; da er denn bekennen mußte, daß er der Unbekannte, der ihre Schuld getilgt[210] habe, gewesen sei, indem er Madame Eulers Aufträge ausgerichtet habe. Albertine rief mit gefalteten, empor gehobenen Händen: »O, ihr einzigen, einzigen, edelsten Freunde! verdien' ich euch?« –
Albert ließ bei Madame Euler halten, aus Delicatesse, daß Albertine sich erst am Herzen dieser auserlesenen Freundin erholen möchte, ehe sie in ihrem Hause erschiene. Henriette stand da mit offnen Armen, ihre Albertine aufzunehmen; aber Albertine lag, ehe sie es hindern konnte, stumm weinend zu ihren Füßen. – »Wollen Sie Ihre Albertine, Ihre arme, verirrte Albertine wieder annehmen?« – »Jetzt haben Sie es versucht, meine einzige Liebe, wie sich's schutzlos leben läßt. Albertine, meine immer gute Albertine, begeben Sie sich unter den Schutz eines Mannes, dieses Mannes. Albert, möcht' ich sagen dürfen, dieses Kleinod sei dein!« – Albert lag zu Albertinens Füßen; sein Blick sprach, flehete; Albertine reichte ihm die Hand, und verhieß ihm ihre Liebe. Henriette sprach[211] gerührt den Segen zu diesem schönen Bunde, durch den alle glücklich werden sollten.
Unter diesen Ereignissen war die Nacht beinahe vergangen. Albertine wünschte in ihre Wohnung zurück zu kehren, und Henriette, die sich in dieser einzigen Situation nicht von ihr trennen konnte, wünschte sie zu begleiten. Sie kamen alle drei bei Albertinen an.
Die Begierde, mit der seltsamen Neuigkeit heraus zu platzen, hatte Lisetten dieses Mal wundersam munter erhalten. »Ach Herr Je!« begann sie; »hier ist recht was kurioses passirt!« – Albertine, die irgend eine Beziehung auf ihre eigne Geschichte ahnete, stieß das Mädchen leise zurück, und wollte in ihr Schlafzimmer. – »Aber so warten Sie doch, gnädige Frau! Da ist ja Einer drin, der nicht recht klug ist. Er ist, Gott verzeih' mir's! ganz gewiß Euer Gnaden gnädiger Herr Bruder, so wie ich mir den vorstelle.«
Albertine vernahm nicht sobald das Wort Bruder, als sie rasch in's Zimmer flog, und[212] der Gestalt, die sie bei den trübe brennenden Kerzen leicht für die ihres Bruders halten konnte, in die Arme. Albert und Henriette waren ihr auf dem Fuße gefolgt, die schöne Scene des Wiedersehens mit zu feiern.
Lindenhain vermochte nicht zu sprechen; die Freude tödtete die Worte. Langsam rollte die männliche Thräne die Wange herab. Endlich kam ein: »O, meine Albertine!« in gebrochenen, bebenden Accenten hervor. Albertine vernahm den Laut der Stimme, richtete den Blick auf das Antlitz des vermeinten Bruders, riß sich mit einem Schrei des Entsetzens aus seinen Armen und stürzte an Henriettens Busen. »Es ist Louis, Louis!« ächzete sie matt und bebend. »Mein Strafgericht beginnt!« – – Louis – er war es wirklich – blieb den zu Albertinens Umarmung ausgebreiteten Armen schweigend mit auf sie gerichtetem Blicke stehen. – Endlich sagte er langsam und dumpf: »was ist mit dieser, daß sie sich des Wiederkehrenden nicht freut? Weiß sie[213] es denn schon, daß ich ein Krüppel bin? Freilich ist die Hand, die ich zum Unterpfand der Treue gab, verloren. Aber sie, sie gab freiwillig die Hand, die noch mein ist!«
Er sprach mit sich selbst. Albert und Henriette blieben stumm. Albertinens Brust hob sich krampfhaft; sie wagte keinen Blick auf den für sie Erstandenen. »Sind Sie es, Baron Weißensee, der mir dieses himmlische Herz stahl?« – »Lindenhain, was darf den Mann so fassungslos machen, daß er seine ältesten, besten Freunde nicht erkennt? Daß er seines Ulmenhorsts vergißt?« – – »Ulmenhorst! O Gott! Ja, er ist's, er ist's!« als er ihn beleuchtet hatte. »Aber verzeihe, wenn dieser Anblick, diese schrecklichen Vermuthungen mich für diesen Moment ganz hinnehmen. O Albertine! jeder Vorwurf löst sich ja in Liebe auf. Komm! Sei wieder mein!« – Albertine blickte einen Augenblick nach ihm hin, und verbarg schnell wieder das Angesicht an der Freundin Busen. »O, der strafende[214] Blick! Dieses verruchte Kleid!« (ihr Maskenkleid) lispelte sie Henrietten zu.
»Albertine, bin ich dir denn nun schrecklich? Hat eine neue Liebe dich so ganz hingenommen? Siehe, Albertine, betteln muß ich um deine Liebe, betteln um mein Eigenthum. Ein armer, verstümmelter Mensch darf nicht fordern. Siehe hier, wie sie deinen Ludwig zugerichtet haben!« – der rechte Arm war bis an den Ellenbogen abgenommen – »und hier diese zerfleischte Brust! Mag dies ein junges, rasches Weib von mir abwenden; aber so die erste Freude verbittern; o, o, das ist sehr hart!« –
Albertinens Zartgefühl malte ihr ihre Vergehen mit schwärzeren Farben, als sie es verdiente. Wir wissen, daß sie in Alberten nur den edlen Mann, den treuen Freund achtete; und wissen es gewiß, daß nur ein Wohlgefallen an der Unterhaltung des Weißensee und eine Auszeichnung desselben vor den andern Männern, die sie sah, alles war, was sie sich vorzuwerfen[215] hatte. Und sie hat es feierlich betheuert, daß sie keinen Mann auf Erden dem lebenden Lindenhain je vorgezogen haben würde; wie sie sein Andenken auch heilig in der Tiefe ihrer Brust ehrte und werth hielt.
Als Albertine Lindenhains Wunden sah, als sie vernahm, wie er sich einen Krüppel nannte, hielt sich ihr Herz nicht länger. Der Verdacht, sie verlasse ihn deshalb, war ihr unerträglich. Ehe er die Worte noch ganz vollendet hatte, lag sie in seinen Armen. Ihr Herz ergoß sich nun in vollen, segnenden Strömen; in der vollständigen Erweichung, in der sie war, würde sie sich aller Arten von Vergehen, allenfalls auch Verbrechen, wie unsere Kirchenagenden uns so treuherzig zu thun zwingen, schuldig bekannt haben, hätte die vorsichtigere Henriette nicht den Strom gehemmt, indem sie, die alte Freundin, sich auch von Lindenhain bemerken ließ.
Jetzt, da die ersten tumultuarischen Bewegungen der von beiden Theilen gereizten[216] Empfindsamkeit sich legten und der Gang des Gesprächs ruhiger daher floß, wurde auch Lindenhain aufgefordert, von seinem Benehmen Rechenschaft zu geben; und Ulmenhorst warf es ihm vor, daß alles, was er vielleicht mißbilligen zu müssen glauben könne, nur durch sein störriges Schweigen, wodurch er die Nachricht von seinem Tode bestätigt habe, veranlaßt sei. Lindenhain gab ihm Recht, und sagte: »Nur diese Liebe hier hat ein Recht, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Sie wird viel zu verzeihen haben; aber kein Wort davon heute. Morgen erscheint meine Rechtfertigung.«
Alle waren einstimmig dafür, daß man diese erste Zusammenkunft durch den Schlaf abbrechen müsse, sich zu einer zweiten stärkend zu bereiten. Besonders war die arme Albertine auf so mancherlei Weise angegriffen und erschüttert worden, daß wir ihr die Ruhe nach so erschöpfenden Auftritten gern gönnen. Henriette blieb im Wohnzimmer auf dem Sopha, und Albert versprach, sich gleich früh Morgens wieder einzustellen.[217]
Buchempfehlung
»Was mich einigermaßen berechtigt, meine Erlebnisse mitzuteilen, ist der Umstand, daß ich mit vielen interessanten und hervorragenden Zeitgenossen zusammengetroffen und daß meine Anteilnahme an einer Bewegung, die sich allmählich zu historischer Tragweite herausgewachsen hat, mir manchen Einblick in das politische Getriebe unserer Zeit gewährte und daß ich im ganzen also wirklich Mitteilenswertes zu sagen habe.« B.v.S.
530 Seiten, 24.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro