Acht und zwanzigstes Kapitel

[290] Albertinens Leben war zwar gerettet; aber – wer faßt den Jammer! – sie blieb des Lichtes ihrer Augen, ihrer wunderschönen blauen Augen beraubt! – Der unwiederbringliche Verlust ihrer Schönheit wurde gegen dieses schwere Unglück kaum bemerkt. In dem Frühling ihrer Tage, in dem Rosengarten[290] ihres Lebens, umgab das schreckliche Dunkel der Blindheit den Sinn, durch den uns der Anblick der Wunder in Gottes schöner Natur einen Strahl dauernder Freude und höherer Andacht in die Seele sendet. So lange noch ein Schimmer von Hoffnung war, ergab sie sich still den Fügungen der Ärzte. Als nun aber die immer wiederholten neuen Versuche alle täuschten, überließ sie sich einem stillen Gram, der um so rührender war, da sie ihn in sich verschloß und er ihren zarten Körperbau sichtlich angriff.

An dem bebenden Ton ihrer Lieben vernahm sie die zurückgehaltene Wehmuth derselben. Lindenhains Schmerz äußerte sich, wie seine Natur es wollte, mit Ungestüm und meist im Style des Vorwurfes. »Wärst du nicht in jene unglücklichen Hütten gegangen, das Unglück wäre nicht geschehen! Was gingen dich jene Kinder an?« – Das drückte dann die arme Albertine ganz darnieder; sie suchte seine Hand, bedeckte sie demüthig mit Küssen, und bat ihm ihr Unglück[291] ab. Ernst und besonnen schlug sie ihm die Scheidung vor, da sie den Zweck des Hausstandes nicht mehr erfüllen könne, und nun im Dunkeln wandeln müsse; »weil ich meinen Lieben nur Leiden, statt der gehofften Freuden geben kann!« setzte sie schmerzlich hinzu. »Ach, mein Theurer, nur ein stilles Winkelchen räume mir ein; die Zeit wird auch mir den Frieden geben, der so unverkennbar das Erbtheil aller des Lichts Beraubten ist! Du bist zu jung und lebenslustig, als daß es recht seyn könne, dein Dasein an das einer armen Unglücklichen zu ketten, und ihre Last mit zu schleppen.«

Dergleichen Auftritte, die nur zu oft in der ersten Zeit vorkamen, überwältigten dann des Mannes Herz; seine Thränen flossen, und mit von Schmerz aufgelöstem Herzen stürzte er hinaus ins Freie, ritt zwecklos umher, und kehrte düster und schweigend dann erst zurück, wenn seinem Pferde die Kräfte, ihn weiter zu tragen, entgingen.

Wenn er dann Albertinens Klagetöne[292] am Fortepiano vernahm, indem sie ein Lied, das sie selbst über ihren Zustand gedichtet und componirt hatte, mit dem himmelsüßen Ausdruck inniger Schwermuth sang, oder wenn er sie, beim raschen Eintritte in's Zimmer, mit zum Himmel gebreiteten Armen betend fand, so regte sich der wüthendste Schmerz von neuem. Er drückte sie an seine hochklopfende Brust, und doch schauderte seine sinnliche Natur bei der Annäherung des armen kleinen Ungeheuers zusammen. In seiner Brust war das Mitleiden kein milder Trieb; es war Leidenschaft, ungestüme, zerstörende Leidenschaft, die seine Kraft zermalmte und sich in sich selbst aufrieb.

Rührender noch war der Anblick, wenn die Unglückliche sich bestrebte, ihrem Hauswesen, wie in gesunden Tagen, vorzustehen, und ehe der Mechanismus der Gewohnheit ihren Bewegungen zu Hülfe kam, tappend umher irrte, und oft ganz entgegengesetzte Richtungen nahm. Als einst bei einem solchen Anlasse Lindenhain selbst in Laurettens Augen Thränen sah, stürzte er auf sie zu,[293] und umarmte sie heftig. Laurette aber schämte sich ihrer Rührung, und behauptete, es sei ihr nur Staub in's Auge geflogen.

Albertine gewöhnte sich allmählich an ihre Lage, und trug mit frommer Resignation, was nicht mehr zu ändern war. Überdem hatte sie die glückliche Gemüthsanlage, an allen ihren Lebenszuständen sich die beste Seite aufzusuchen und sie sich anzueignen. Sie litt jetzt nur noch in ihren Freunden, in ihrem Gatten. Sie entwarf sich einen neuen, ihrem Zustande angemessenen Lebensplan. Adelaide hatte ihr Unterricht auf der Harfe gegeben; ihr glückliches Talent hatte dieses ihr Lieblingsinstrument sich bald zu eigen ge macht. Sie wechselte mit Musik und Handarbeiten, die sie zur Bewunderung fertig machte. Henriette oder Adelaide lasen ihr vor, oder sie überließ sich ihren eigenen Betrachtungen; auch gewann sie bald die Fertigkeit, leserlich zu schreiben, und nie war ihre Phantasie reger[294] und blühender gewesen, als da ihr die äußern Eindrücke versagt waren.

An schönen Tagen saß sie in den Lauben ihres Gartens und übersah mit den Augen ihres Geistes die ihr bekannte schöne Gegend. Sie hatte in guten Tagen einen Schatz von Ideen und Kenntnissen gesammelt, mit dem sie nun in ihren Leidenstagen wucherte und diese versüßte.

Wie ihr Freund Albert an ihr Theil nehmen mußte, sagt uns die vergangene Zeit. Schon war er im Begriff gewesen, die Gegend zu verlassen, weil er aus einigen Winken, die Henriette ihm, ohne es beinahe zu wollen, gab, geschlossen hatte, Lindenhain habe sich selbst nicht genug gekannt, als er seinen Vorsatz, Albertinen nicht mehr zu sehen, ihm ausredete. Als aber das Unglück über seine Freunde ausbrach, wich jede andere Rücksicht; denn nun war alles anders, und jetzt war es ihm Pflicht, der Leidenden alles zu werden, was er ihr, seiner redlichen Überzeugung nach, seyn durfte.[295]

Wenn sie so im traulichen Zirkel um sie saßen und er auf ihre Rede lauschte; wenn ihr heiterer Sinn und ihr heißes Gefühl für alles Edle und Große wie ein himmlischer Trost in seiner Seele aufging: dann bemerkte er nicht, daß ihre Gestalt verändert war; dann war sie ihm schön, wie in den ersten Wonnetagen seiner Bekanntschaft mit ihr; dann sah er nicht die tiefgenarbte Wange, den verzogenen Mund, den dicken rothen Kreis um das ehemals so schöne Auge, aus dem ihm der ganze Himmel gelacht hatte.

Ganz anders wirkte der nemliche Anblick auf Lindenhain. Nie warf er den Blick auf Albertinen, daß er nicht zusammen schauderte; sich ihr zu nähern, kostete ihm Überwindung; nur was von schönen Lippen kam, fand er geistreich. Die Schärfe des Schmerzes stumpfte sich freilich mit der Zeit ab, ging aber in Verdruß und Abneigung gegen den Aufenthalt in seinem Hause über. Die Eifersucht stachelte ihn jetzt nicht mehr, und es war ihm eben recht, wenn[296] Albert und der ganze Zirkel um Albertinen versammelt war, weil er sie dann unterhalten wußte und seine Gegenwart um so entbehrlicher war. Er wurde ein Jäger; und zwar so leidenschaftlich, wie er alles in sich aufnahm. Oft kam er erst heim, wenn die Andern den Abendtisch schon verlassen hatten, oder er blieb auch Nächte aus, worauf dann die sanfte Albertine nichts weiter, als seufzend sagte: »Ach, ich kann es ihm ja nicht verdenken!« –

Adelaidens zarter, herrlicher Sinn glänzte in seinem strahlendsten Lichte. Ihre Lage war delikat und ihr Verhältniß zur Familie forderte eine feine Behandlung. In ihrem offnen, unbefangenen Betragen gegen Lindenhain veränderte sie nichts; es blieb sich gleich. Gleichwohl hatte sie ihn unsäglich geliebt und war zu einiger Erwiederung berechtigt. Jetzt hatte sie der Hülfe bedürftigen Albertine alles zugewendet, was ihr schönes Herz zu geben hatte; und mehr noch, als kalte Principien, gab ihr ihre schöne Natur ein, was sie dieser,[297] da Finsterniß ihr Auge deckte, jetzt seyn mußte.

Nur ungern verstattete man dem Onkel Zutritt zu Albertinen; er weinte laut, wie ein Kind, und drückte sich so klagend über ihren Zustand aus, daß ihr Gemüth aus seinem Gleichgewicht kam, und wenn sie ihn zu trösten bemüht war, oft laut in seinen Schmerz einstimmte.

Quelle:
Friederike Helene Unger: Albert und Albertine, Berlin 1804, S. 290-298.
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