Ein und dreißigstes Kapitel

[307] Albertine hatte den langen, trüben Winter hindurch einem verzehrenden Nervenfieber fast unterlegen. Was Liebe, was Freundschaft vermag, gewährten ihr die seltenen Freundinnen. Das zarte Gemüth der Leidenden untergrub seinen Frieden durch unverdiente Vorwürfe, es habe nicht genug geliebt und dadurch den Gatten von sich entfernt, dessen Bild jetzt in unumwölkter Klarheit in Albertinens Seele lebte. Alle seine kleinen Unarten und üblen Gewohnheiten waren ihr mit in die Gruft gesenkt;[307] seine Tugenden nur, seine Großmuth, sein männlicher Sinn, seine frühere Liebe, sein Feuereifer für's Edle und Schöne, der gebildete Geist, die warme Vaterlandsliebe, standen in edler Schöne hoch emporstrebend um das Grab, das seine Fehler deckte. »Mein Unglück, meine darauf entstandene düstre Stimmung entfernten ihn, und darum – o Gott! darum – war sein Ende so unglücklich; darum ging er in der Kraft der Jahre zu Grunde. O, ich habe nicht genug geliebt! O, daß ich mit ihm stürbe!« rief sie oft verzweifelnd aus.

»Selten, meine Albertine, verdienen wir den Vorwurf, daß wir zu wenig lieben,« sagte Adelaide tröstend. »Ach, wir lieben viel zu viel, kommen den Männern mit viel zu viel ermüdender Liebe entgegen. Mit viel zu viel Liebe tragen wir ihre Unarten. O, wären sie unsrer nicht so bis zum Übermaß gewiß, die Geschlechtsverhältnisse würden selbst noch in der Ehe zarter und pikanter seyn. Die Launen einer Ungetreuen, die Bizarrerien einer Maitresse[308] fesseln das grillenhafte Wesen des Mannes stärker, als die ausharrendste Liebe der Gattin. Nein, Albertine, ihre Freunde, ihr innigstes Bewußtseyn geben Ihnen das Zeugniß, daß Sie nicht zu wenig liebten. Auch wäre es schrecklich, wenn unserm Menschen-Elende noch die Verantwortlichkeit für alle zufälligen Folgen unsrer Worte und Handlungen aufgebürdet würde.«

Der Frühling kam in aller seiner Glorie herbei. Albertine saß in ihrer Laube am Rosengeländer und wagte zum Erstenmale wieder ihre Seele auf den Schwingen schwermüthiger Harmonie zu erheben. Sie hielt es beinahe für Versündigung an dem Verstorbenen, sich erheitern zu wollen; nur Klagetöne hauchten ihre Lippen in die Harfe oder das Klavier.

Albert war ihr Führer, ihr Begleiter. Die Liebe, die er gewaltsam in sich zurückgedrängt hatte, erhob sich jetzt, ungebunden von Pflicht, allgewaltig wieder in seiner Seele; die reinste, die geistigste. Doch hielt[309] er schonend der Traurenden auch die leiseste Äußerung zurück.

Einst kam er frühe zur ungewöhnlichen Stunde. »Albertine, meine Freundin!« rief er in den Vorsaal, worin sie eben war, hinein; »ich bin sehr glücklich gewesen. An dem Ufer des Baches, wo mein Glück mich zuerst zu Ihnen führte, warf ich mich ermüdet an eben der Stelle hin, eine kleine Blumenpflanzung, die ich dort anlegte, zu besehen. Mein alter Tiras, der mich an dem glücklichsten Tage meines Lebens auch begleitete, grub sich neben mir ein Lager in das Moos. Da sahe ich, da fand ich – rathen Sie einmal, was?« – »Trüffeln oder Pilze!« sagte Albertine heiter. – »Nein, meine Theure, den Ring, der dazumal der Gegenstand ihres Spatzierganges war. Albertine, er ist in jedem Bezuge ein theures, theures Andenken!« – Albertine streckte die Hand hastig darnach aus. »Ach, ich kann ihn nicht sehen!« sagte sie schmerzlich; »ich werde fühlen, ob er es ist?« – »Albertine, dieser Augenblick sei mir der[310] feierlichste und heiligste meines Lebens! Mir sind Sie noch ganz so schön, als Sie es mir in den ersten Blüthetagen meiner Bekanntschaft waren; aber noch unendlich liebenswürdiger erscheinen Sie mir durch die Schönheiten Ihres Gemüths, das ich in jener Zeit nur ahnete. Albertine, Sie bedürfen eines Führers, eines Beschützers in den mancherlei Verhältnissen Ihrer Lage. Und – darf ich mahnen an jene Zeit, als Sie Wittwe zu seyn wähnten, was Sie dem Überglücklichen zudachten? Albertine, ich liefere den Ring nicht aus, er werde denn ein Verlobungsring!«

Albertine schwieg betroffen; häufige Thränen drangen aus den geschlossenen Augen. Sie kannte Alberts feste, ruhige Besonnenheit; es war gewiß nicht der Enthusiasmus des Mitleidens, der ihn bestimmte; aber dem theuren Andenken des im Grabe Ruhenden thut es Abbruch, sagte ihr Zartgefühl. Albert fühlte sich in das Herz, dessen innerste Regungen er kannte, hinein, und begegnete fein und schonend den Einwürfen,[311] die sie nicht sagte. Henriettens Dazwischenkunft entschied für Alberten. Albertine war in Liebe und Dankbarkeit aufgelöst, als der schöne Bund der Vernunft und Liebe an dem Altare ihrer eigenen Kirche, umgeben von ihren Lieben, rührend und feierlich geschlossen wurde.

Quelle:
Friederike Helene Unger: Albert und Albertine, Berlin 1804, S. 307-312.
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