Neuntes Kapitel

[137] Wenn der Schmerz beginnt, sich häufiger mit seinem Gegenstande zu beschäftigen, wenn er wagt, ihn in's Auge zu fassen und ihn so zu sagen von allen Seiten berührt und sich von ihm berühren läßt, so vertheilt er sich bald in kleinere Ableitungen, und die Masse wird vermindert. Albertine beschäftigte sich, seit sie bestimmter von ihrem Verluste wußte, ganz mit demselben.[137] Sie stellte sich jede mögliche Art der Todesquaal, die Greuel jener Nacht, alles, was sie über diese grausenhafte Scene gehört hatte, vor, bis sie mit der Vorstellung vertraut wurde, daß der Schmerz seinen bittersten Stachel abstumpfte. Bald kam sie nicht mehr ungerufen vor ihre Seele, und es wurde schon Vorsatz, sich in jenen Seelenzustand von Zeit zu Zeit zu versetzen. Ihn einigermaßen fest zu halten und bleibend zu machen, entwarf sie eine Zeichnung zu einem Gemälde, wobei sie freilich immer noch herzlich weinte; aber doch idealisirte die Phantasie schon mehr, als tiefer, schneidender Schmerz es zu gestatten pflegt. Und warum sollte es auch nicht so seyn? Warum sollte die kaum neunzehnjährige Albertine an dieser wohlthätigen Einrichtung der Natur nicht auch Theil nehmen? – Wehe dem armen Menschengeschlechte, müßte es ein Leben hindurch Leid um die Gestorbenen tragen! –

Albertine vergaß nicht, aber sie verschmerzte endlich, was zu ändern nicht in[138] menschlicher Macht stand. Onkel Dämmrig, der seiner eignen Behaglichkeit wegen keinen Traurigen um sich leiden mochte, bestand darauf, sie müsse sich zerstreuen. Sie erschien also wieder in dem Kreis der Hausfreunde, und besuchte auch zuweilen wieder öffentliche Orter. So wenig die sittsame Schönheit der höchst reizenden Albertine sonst war bemerkt worden, weil sie es nicht seyn wollte, so viel Aufsehen machte jetzt die interessante junge Wittwe, weil sie mit einem Hause in Verbindung stand, das viel Tischfreuden und Genuß mancher Art spendete. Wer auf Ton Anspruch machte, stand Albertinen im Schauspiele lorgnirend gegenüber, stieß mit dem Ellenbogen um sich und rannte im Gedränge alles übern Haufen, beim Ausgange auf sie zu warten, um dann an der table d'hôte von ihr, wie von einer Bekanntschaft, zu sprechen. –

Anfänglich bemerkte Albertine von dem Allen nichts, aber die wohlerfahrne Madame Rosamund faßte desto sicherer alle die Vortheile auf, die in solchen Fällen dem[139] abnehmenden Lichte einer Frau, die schon zu lange schön gewesen ist, durch die Allianz mit dem zunehmenden Lichte einer aufblühenden Schönheit, zu Theil werden. Unter dem Vorwand, Albertinen zu zerstreuen, führte sie die gute, unbefangene Seele überall ein; und so gelang es ihr, sich nach und nach ein Gefolge von jungen Herren zu bilden, wobei sie ihren Zweck, sich zu amüsiren und noch eine Art von Aufsehen zu machen, vollkommen erreichte.

Wir müßten der Wahrheit zu nahe treten, wenn wir behaupteten, Albertine habe sich sogleich in dieser ungewohnten Art zu seyn, gefallen. An stille, ernste Unterhaltung gewöhnt, fand sie dies Umherwandern unsäglich fade, und froh eilte sie zu dem gehaltreichen Umgang ihrer Euler und Alberts, der sich ihr auf's Bescheidenste näherte, zurück.

»Gefällt Ihnen denn Keiner von allen den jungen Männern, die sich, wie Sie es doch wohl bemerken müssen, an Sie drängen?« fragte einst Rosamunde. – »Nein,[140] kein Einziger! – Die Ernsthaften haben einen unleidlichen Anstrich von Pedanterie, und treiben das literarische Wesen ordentlich fabrikenmäßig; und die andern, deren Munterkeit mich allenfalls noch unterhält, sind so flach, laufen so ohne Unterschied jedem Weibe nach, daß es mich vielmehr beleidigt, von ihnen bemerkt zu werden, weil ich ihre Aufmerksamkeit mit dem elendesten Weiber-Pöbel theile!« – »Mit dieser Delicatesse wird Albertine ziemlich allein bleiben. Im geselligen Leben muß man tolerant seyn oder sich in eine Karthause verschließen.« – »Keines von beiden, Madame! Ich denke, ich hoffe, es giebt einen Mittelweg.« – »Albertine, ich kenne die Welt; ich habe in ihr und mit ihr gelebt, ich habe immer gefunden, daß, um froh zu leben, man es nicht zu genau nehmen müsse. Jedes Blümchen, das an unserm Wege aufsprießt, muß man pflücken.« – »Jedes? theure Madame! Auch die giftigen?« – »Aus diesen bereitet man Arzeneien. Aber ich sehe, daß Sie meine gute Absicht,[141] Sie in ein froheres, genußreicheres Leben einzuführen, wenig erkennen werden. Ich werde Sie wieder Ihrer Euler und dem steifen Landjunker Ulmenhorst lassen müssen!« – Albertinen that dieser Stich auf ihre Freunde unsäglich wehe; doch wollte ihre Gutmüthigkeit auch Rosamunden beweisen, sie sei nicht unerkenntlich. Sie ging aber hierin viel zu weit, indem sie sagte: »Ich bin Ihre, Madame! machen Sie mit mir, was Sie wollen! Sie sollen mich nicht undankbar finden!« – Indem gedachte sie ihres Bruders. Der Muth sank ihr und die Unterredung endete damit, daß Rosamunde ihre Zusage für diesen Abend zu einer Gesellschaft erhielt, die über alle Beschreibung glänzend seyn sollte. –[142]

Quelle:
Friederike Helene Unger: Albert und Albertine, Berlin 1804, S. 137-143.
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