XI. Sitka.

[98] Sitka, Neu-Archangel, inmitten der Inselgruppen an der Westküste auf der Baranow-Insel gelegen, ist nicht nur die Hauptstadt dieses Eilands, sondern auch die Hauptstadt der ganzen, an die Bundesregierung abgetretenen Provinz. Es ist die einzige ansehnliche Stadt in jener Region, wo man höchst selten Marktflecken oder unbedeutende Dörfer in weiter Entfernung von einander trifft. Es wäre sogar richtiger, diese Dörfer einfach Wachtposten oder Faktoreien zu nennen. Sie gehören zumeist den amerikanischen Gesellschaften, hie und da auch der englischen Hudsonbaigesellschaft an. Man kann sich denken, daß der Verkehr zwischen diesen Posten sehr schwierig ist, besonders während der strengen Jahreszeit, wo der alaskische Winter seine Stürme entfesselt.

Noch vor einigen Jahren war Sitka bloß ein wenig besuchtes kommerzielles Centrum, wo die russisch-amerikanische Handelsgesellschaft ihre Pelzniederlagen hatte. Aber dank den Entdeckungen, welche in dieser in die Polarzone hineinreichenden Provinz gemacht worden sind, hat Sitka einen bedeutenden Aufschwung genommen und verspricht unter der neuen Verwaltung eine reiche, dieses neuen Staates der Union würdige Stadt zu werden.

Schon damals besaß Sitka alle jene Gebäude, welche zu einer sogenannten »Stadt« gehören: einen lutherischen Tempel, sehr einfach gebaut, dessen architektonische Anordnung aber etwas majestätisches an sich hat; eine griechische Kirche mit einer jener Kuppeln, welche nicht recht zu diesem nebligen, von dem Firmamente des Orients so grundverschiedenen Himmel passen; einen Klub, die »Club-Gardens«, eine Art Tivoli, wo Stammgäste wie Reisende Restaurants, Cafés, Bars und verschiedene Spiele finden, ein »Club-House«, dessen Pforten nur Junggesellen offen stehen; eine Schule, ein Spital und schließlich Häuser und pittoresk auf den umliegenden Hügeln gruppierte Villen und Cottages. Den Horizont des Ganzen bildet ein weiter, immergrüner Fichtenwald und jenseits desselben eine Linie hoher Berge, deren Gipfel sich im Nebel verlieren und von dem auf der Crouze-Insel befindlichen Mount Edgcumbe beherrscht werden, der in einer Höhe von achttausend Fuß über den Meeresspiegel emporragt.

Obgleich Sitka unter dem sechsundfünfzigsten Breitegrade liegt, ist sein Klima nicht sehr rauh und sinkt das Thermometer selten unter sieben bis acht Grad Celsius herab; hingegen verdient es, als eine Wasserstadt ersten Ranges bezeichnet zu werden. In der That regnet es auf der Baranowinsel sozusagen[98] immer, wenn es nicht gerade schneit. Man wird es demnach nicht erstaunlich finden, daß die Belle-Roulotte, nachdem sie mit ihrem sämtlichen Personal und Material auf einer Fähre über den Kanal geschafft worden war, ihren Einzug in Sitka in strömendem Regen hielt. Und dennoch dachte Herr Cascabel nicht daran, sich zu beklagen; war er doch gerade zu einer Zeit eingetroffen, wo er die Stadt ohne jedweden Paß betreten durfte.

»Ich habe während meines Daseins viel Glück gehabt, aber niemals ein so außerordentliches,« sagte er wiederholt. »Wir standen vor der Pforte, ohne hinein zu können, und da thut sich diese Pforte angelweit vor uns auf!...«

Soviel ist gewiß, daß der Abtretungsvertrag genau zur rechten Zeit unterfertigt worden war, um der Belle-Roulotte den Übertritt über die Grenze zu gestatten. Auf dem amerikanisch gewordenen Boden gab es keine störrigen Beamten, keine jener Formalitäten mehr, welche die moskowitische Regierung so gebieterisch fordert.

Und jetzt wäre es ganz einfach gewesen, den Russen entweder in ein Spital, wo es ihm nicht an Pflege fehlen würde, oder aber in einen Gasthof zu bringen, wo der Arzt ihn besuchen konnte. Aber als Herr Cascabel ihm davon sprach, antwortete er:

»Ich fühle mich wohler, mein Freund, und wenn ich Ihnen nicht zur Last falle...«

»Zur Last, mein Herr!« antwortete Cornelia. »Was fällt Ihnen ein!«

»Sie sind hier zu Hause,« fügte Herr Cascabel hinzu, »und wenn Sie glauben...«

»Nun, ich glaube, es wäre besser für mich, bei denen zu bleiben, die mich aufgenommen... mich hingebend gepflegt haben...«

»Nur so so, mein Herr!« antwortete Herr Cascabel. »Aber Sie müssen doch sofort einen Arzt konsultieren.«

»Kann er nicht hierher kommen?«

»Nichts leichter als das; ich gehe selber, um den besten in der Stadt zu suchen.«

Die Belle-Roulotte hatte am Eingange von Sitka, neben einem mit Bäumen bepflanzten, bis an den Hochwald führenden Spazierwege Halt gemacht. Dort besuchte Doktor Harry, an den man Herrn Cascabel gewiesen, den Russen.

Nachdem er die Wunde aufmerksam untersucht hatte, erklärte der Arzt, daß sie nicht mehr gefährlich sei, da der Dolchstoß durch eine Rippe abgelenkt worden. Kein edles Organ sei verletzt; und dank den kalten Umschlägen, dank dem Safte der von der jungen Indianerin gesammelten Kräuter, werde die bereits begonnene Vernarbung bald soweit vorgeschritten sein, daß der Verwundete aufstehen könne. Sein Zustand sei durchaus befriedigend und er dürfe von nun an Nahrung zu sich nehmen. Aber wenn Kayette ihn nicht[99] gefunden, wenn die Sorgfalt der Frau Cascabel nicht der Blutung Einhalt gethan hätte, so würde er ganz gewiß einige Stunden nach dem an ihm verübten Attentate gestorben sein.

Des weiteren sagte Doktor Harry, daß der Mord seiner Meinung nach das Werk gewisser Mitglieder der Karnossschen Bande, oder des Karnoff selber sei, dessen Anwesenheit im Osten der Provinz signalisiert worden. Dieser Karnoff sei ein Missethäter russischen oder eigentlich sibirischen Ursprungs, der an der Spitze eines Trupps von Deserteuren stehe, wie man deren öfter in den russischen Besitzungen Asiens und Amerikas antreffe. Umsonst seien Prämien auf die Gefangennahme der Bande ausgesetzt worden. Diese ebenso gefürchteten wie furchtbaren Schurken seien bisher der Gerechtigkeit entgangen. Und dennoch haben häufige Verbrechen, Diebstähle und Morde, besonders im südlichen Teile des Gebietes, Schrecken verbreitet. Die Sicherheit der Reisenden, der Handelsleute, der Beamten, der Pelzgeselsschaften sei nicht länger gewährleistet, und auch dies neue Verbrechen müsse den Spießgesellen Karnoffs zugeschrieben werden.

Als er sich empfahl, ließ Doktor Harry die Familie sehr beruhigt über den Zustand ihres Gastes zurück.

Herr Cascabel hatte von vornherein die Absicht gehegt, in Sitka einige Tage lang der Ruhe zu pflegen, – einer Ruhe, welche seinem Personal nach einer Reise von fast siebenhundert Meilen von der Sierra Nevada an gewiß gebührte. Überdies dachte er seine kleinen Ersparnisse durch zwei, drei gute Einnahmen in dieser Stadt zu vergrößern.

»Kinder, man ist nicht mehr in England,« sagte er; »man ist in Amerika, und vor Amerikanern darf man arbeiten!«

Dabei zweifelte Herr Cascabel keinen Augenblick, daß der Ruf seiner Familie bereits zu der alaskischen Bevölkerung gedrungen sei und daß man sich in Sitka sage:

»Die Cascabels sind in unseren Mauern!«

Die Pläne des Herrn Cascabel wurden auch durch ein Gespräch. welches zwei Tage später zwischen ihm und dem Russen stattfand, beeinflußt.

Der letztere – in Cornelias Augen war er zum mindesten ein Fürst – wußte jetzt, daß seine wackeren Retter arme Jahrmarktskünstler seien, welche in Amerika umherzogen. Sämtliche Cascabels waren ihm vorgestellt worden; desgleichen die junge Indianerin, der er sein Leben verdankte.

Und eines Abends, als das ganze Personal beisammen war, erzählte er seine Geschichte, oder doch wenigstens soviel davon, als für Fremde wissenswert war. Er sprach das Französische so fließend, als ob es seine Muttersprache wäre; nur rollte er das »r« ein wenig – was der moskowitischen Aussprache eine zugleich angenehme und energische Färbung verleiht und das Ohr mit eigentümlichem Zauber berührt.[100]

Übrigens war seine Erzählung äußerst einfach. Nichts sehr Abenteuerliches und auch nichts Romanhaftes.

Er hieß Sergius Wassiliowitsch – und von nun an nannte man ihn in der Familie Cascabel mit seiner Erlaubnis nur mehr »Herr Sergius.« Von seinen sämtlichen Verwandten war nur noch sein Vater am Leben, welcher im Gouvernement Perm, unweit der Stadt dieses Namens, auf einem Landgut wohnte. Von Reiselust und Geschmack für Entdeckungen und geographische Forschungen getrieben, hatte Herr Sergius Rußland vor drei Jahren verlassen. Nachdem er die Territorien der Hudsonbai studiert, hatte er sich eben zu einer Forschungsreise durch Alaska, vom Youkon bis ans Polarmeer, angeschickt, als er unter folgenden Umständen angegriffen worden war:

Am vierten Juni hatten sein Diener Ivan und er ihr Lager an der Grenze aufgeschlagen, als sie im ersten Schlafe überfallen wurden. Zwei Männer hatten sich auf sie gestürzt. Sie erwachten, fuhren empor, suchten sich zu verteidigen... Umsonst! schon im nächsten Augenblick streckte eine Kugel den unglücklichen Ivan zu Boden.

»Er war ein wackerer, ein ehrlicher Diener!« sagte Herr Sergius. »Er war bereits zehn Jahre bei mir gewesen! er war mir sehr ergeben und ich beklage ihn wie einen Freund!«

Herr Sergius versuchte nicht seine Bewegung bei diesen Worten zu verbergen; so oft er von Ivan sprach, verrieten seine feuchten Augen, wie sehr aufrichtig sein Schmerz war.

Er fügte hinzu, daß er selber, in die Brust getroffen und bewußtlos geworden, nichts mehr gehört noch gesehen habe, bis er, ins Leben zurückgekehrt, aber unfähig, seinen Rettern für ihre Sorgfalt zu danken, begriffen habe, daß er sich bei barmherzigen Menschen befinde.

Als Herr Cascabel ihm mitteilte, daß man das Attentat Karnoff oder einigen seiner Komplizen zuschreibe, schien Herr Sergius nicht überrascht, da er von der Anwesenheit dieser Bande an der Grenze reden gehört habe.

»Sie sehen,« schloß er, »daß meine Geschichte nichts merkwürdiges an sich hat; ohne Zweifel ist die Ihrige merkwürdiger. Mein Feldzug sollte mit der Erforschung Alaskas enden. Von dort gedachte ich nach Rußland zurückzukehren, um meinen Vater zu sehen und das väterliche Haus nicht mehr zu verlassen. Jetzt aber wollen wir von Ihnen reden, und da möchte ich vor allem wissen, auf welche Weise und weshalb Franzosen sich so weit von ihrer Heimat in diesem Teile Amerikas befinden.«

»Gaukler, Herr Sergius, streifen die nicht allenthalben umher?« entgegnete Cascabel.

»Freilich; aber darum staune ich doch, Sie in solcher Entfernung von Frankreich anzutreffen!«[101]

»Jean,« sagte Herr Cascabel zu seinem ältesten Sohne, »erzähle Herrn Sergius, warum wir hier sind und auf welche Weise wir nach Europa zurückkehren.«

Jean schilderte die von den Bewohnern der Belle-Roulotte seit der Abfahrt von Sakramento ausgestandenen Wechselfälle und bediente sich dabei, da er von Kayette verstanden zu werden wünschte, der englichen Sprache, welche Herr Sergius durch Erklärungen auf Chinouk ergänzte. So erfuhr Kayette denn, wer die Familie Cascabel war, an die sie sich so eng angeschlossen hatte. Sie hörte, wie die Gaukler auf dem Wege nach der Küste des Atlantischen Oceans in den Pässen der Sierra Nevada ihrer sämtlichen Ersparnisse beraubt worden waren und wie sie aus Geldmangel zur Änderung ihrer Pläne gezwungen, sich entschlossen hatten, gen Westen auszuführen, was ihnen gen Osten unmöglich geworden; wie sie daher die Front ihres rollenden Hauses nach Sonnenuntergang gekehrt hatten und durch Kalifornien, Oregon, Washington, Kolumbia gezogen waren, um an der Grenze von Alaska Halt zu machen; endlich, wie die formellen Verfügungen der russischen Regierung sie dort aufgehalten – übrigens ein glücklicher Zufall, da dieses Verbot ihnen gestattet hatte, Herrn Sergius zu Hilfe zu kommen. Und so befänden sich denn französische, von väterlicher Seite sogar normännische Jahrmarktsgaukler in Sitka – dank jener Annexion Alaskas durch die Vereinigten Staaten, welche ihnen die Pforten der neuen amerikanischen Besitzung geöffnet.

Herr Sergius hatte dem Berichte des jungen Mannes die größte Aufmerksamkeit geschenkt; als er hörte, daß Herr Cascabel ganz Sibirien zu durchreisen gedenke, um nach Europa zu gelangen, machte er eine leichte Bewegung des Staunens, deren Bedeutung aber niemand verstehen konnte.

»Also, meine Freunde,« sagte er, als Jean seine Erzählung beendet hatte, »ist es Ihre Absicht, sich von Sitka aus nach der Beringstraße zu begeben?«

»Ja, Herr Sergius,« antwortete Jean, »und dieselbe zu passieren, sobald sie zufriert.«

»Sie haben da eine lange und mühselige Reise unternommen, Herr Cascabel!«

»Lang, ja, Herr Sergius! Wahrscheinlich auch mühselig! Was wollen Sie? Wir hatten keine Wahl. Und dann scheuen Gaukler keine Mühe; wir sind daran gewöhnt, durch die Welt zu streifen!«

»Unter diesen Umständen rechnen Sie wohl nicht darauf, noch heuer nach Rußland zu kommen?...«

»Nein,« antwortete Jean, »denn die Meerenge wird nicht vor den ersten Tagen des Oktober passierbar sein.«

»Immerhin,« meinte Herr Sergius, »ist es doch ein kühner und abenteuerlicher Plan...«[102]

»Möglich,« antwortete Herr Cascabel; »aber wenn es keinen anderen Ausweg gab!... Herr Sergius, wir haben Heimweh!... Wir wollen nach Frankreich zurückkehren und wir werden es... Und da wir zur Zeit der Messen durch Perm, durch Nischni kommen werden... nun, so werden wir zusehen, daß die Familie Cascabel dort keinen allzu schlechten Eindruck macht.«

»Wohl; aber was für Hilfsquellen haben Sie?«

»Einige Einnahmen, die wir unterwegs gemacht und die ich durch zwei, drei Vorstellungen in Sitka zu vergrößern gedenke. Die Stadt feiert soeben die Annexion und ich bilde mir ein, daß das Publikum sich für die Leistungen der Familie Cascabel interessieren werde.«

»Meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »es würde mir großes Vergnügen bereitet haben, meine Börse mit Ihnen zu teilen, wenn ich nicht beraubt worden wäre...«

»Sie sind nicht beraubt worden, Herr Sergius!« antwortete Cornelia lebhaft.

»Nicht einmal eines halben Rubels,« fügte Cäsar hinzu.

Und er brachte den Gürtel herbei, in welchem die ganze Habe des Herrn Sergius verwahrt war.

»Dann werden Sie die Güte haben, meine Freunde...«

»Nicht doch, Herr Sergius!« antwortete Herr Cascabel. »Ich möchte Sie durchaus keiner Geldverlegenheit aussetzen, um uns aus einer solchen zu ziehen...«

»Sie wollen nicht mit mir teilen?«

»Gewiß nicht!«

»Ah! diese Franzosen!« sagte Herr Sergius, indem er ihm die Hand bot.

»Es lebe Rußland!« rief der junge Xander.

»Und es lebe Frankreich!« versetzte Herr Sergius.

Es war gewiß das erste Mal, daß dieser doppelte Ruf auf jenen fernen Territorien Amerikas ausgetauscht wurde.

»Und jetzt haben wir genug geplaudert, Herr Sergius,« sagte Cornelia. »Der Arzt hat Ihnen Stille und Ruhe empfohlen, und Kranke müssen ihrem Arzte stets gehorchen.«

»Und ich werde Ihnen gehorchen, Frau Cascabel,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich habe Ihnen noch eine Frage, oder vielmehr eine Bitte vorzulegen.«

»Ich stehe zu Diensten, Herr Sergius.«

»Es ist sogar ein Dienst, den ich von Ihnen erwarte...«

»Ein Dienst?«

»Da Sie sich nach der Beringstraße begeben, wollen Sie mir erlauben, Sie bis dahin zu begleiten?«[103]

»Uns zu begleiten?«

»Ja!... Diese Reise wird meine Durchforschung Alaskas nach Westen hin vervollkommnen.«

»Und wir antworten Ihnen: Mit größtem Vergnügen, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel.

»Unter einer Bedingung,« fügte Cornelia hinzu.

»Und welcher denn?«

»Daß Sie alles Nötige thun werden, um Ihre Gesundheit wieder zu erlangen... ohne Widerrede!«

»Da stelle ich auch eine Bedingung; nämlich, daß ich als Ihr Reisegefährte zu den Reisekosten beisteuern darf.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Sergius!« antwortete Herr Cascabel.

So war denn die Sache zu allseitiger Befriedigung geordnet. Aber das Familienoberhaupt glaubte seinem Plane nicht entsagen zu sollen, einige Vorstellungen auf dem großen Platze von Sitka zu geben, – was ihm Ruhm und Profit zugleich eintragen mußte. Die ganze Provinz feierte die Annexion und die Belle-Roulotte hätte zu keiner günstigeren Zeit eintreffen können.

Selbstverständlich hatte Herr Cascabel das an Herrn Sergius verübte Attentat zur Anzeige gebracht, woraufhin der Befehl erteilt worden war, der Karnossschen Bande eifriger nachzuspüren.

Am siebzehnten Juni konnte Herr Sergius zum erstenmal ausgehen. Er befand sich viel besser und seine Wunde war dank der Behandlung des Doktor Harry zugeheilt.

Nun lernte er die übrigen Künstler der Truppe kennen: die beiden Hunde, die sich leise an seinen Knieen rieben, Jako, der ihn mit den ihm von Xander einstudierten Worten. »Wie geht's, Herr Sergius?« begrüßte, und endlich John Bull, dessen schönste Grimassen er freundlich entgegennahm. Sogar die beiden alten Pferde, Vermout und Gladiator, wieherten freudig, als er sie mit Zuckerstückchen regalierte. Von nun an zählte Herr Sergius zur Familie, so gut wie die junge Kayette. Er hatte bereits den ernsten Charakter, den emsigen Geist, die über seinen Stand hinausstrebenden Neigungen bemerkt, welche den ältesten Sohn auszeichneten Xander und Napoleone bezauberten ihn durch ihre Anmut und Lebhaftigkeit. Clou amüsierte ihn mit seiner gutmütigen ehrlichen Dummheit. Was Herrn und Frau Cascabel betrifft, so hatte er deren häusliche Tugenden bereits schätzen gelernt. Es waren entschieden Leute von Herz, mit denen er da zu thun hatte.

Man beschäftigte sich eifrig mit Vorbereitungen zur nahen Abreise. Man durfte nichts unterlassen, um den Erfolg dieser Reise auf einer Strecke von fünfhundert Meilen von Sitka bis zur Beringstraße zu sichern.


Herr Sergius konnte sich zum erstenmale im Freien bewegen. (Seite 104.)
Herr Sergius konnte sich zum erstenmale im Freien bewegen. (Seite 104.)

Das ziemlich unbekannte Land bot allerdings keine großen Gefahren, weder von wilden Tieren, noch von wandernden oder ansässigen Indianern; und man würde bei den verschiedenen, von den Beamten der Pelzgesellschaften bewohnten Faktoreien Halt machen können. Die Hauptsache war, sich mit dem täglichen Lebensbedarfe zu versehen, da die Hilfsquellen des Landes mit Ausnahme der Jagd gleich Null sein mußten.

Selbstverständlich besprach die Familie diese Fragen mit Herrn Sergius.

»Vor allem,« sagte Herr Cascabel, »müssen wir den Umstand im Auge behalten, daß wir nicht während der strengen Jahreszeit zu reisen brauchen.«

»Das ist ein Glück,« antwortete Herr Sergius, »denn der alaskische Winter ist grausam unterm Polarkreise.«

»Dann reisen wir auch nicht blindlings ins Land hinein,« fügte Jean hinzu. »Herr Sergius muß ein tüchtiger Geograph sein...«

»O,« erwiderte Herr Sergius, »in einem unbekannten Lande findet auch ein Geograph sich schwer zurecht. Aber mein Freund Jean hat sich mit seinen Landkarten bis hierher recht gut aus der Sache gezogen und so hoffe ich, daß wir auch zu zweien Erfolg haben werden. Überdies habe ich eine Idee, die ich Ihnen später mitteilen will...«

Sobald Herr Sergius eine Idee hatte, konnte es nur eine vortreffliche sein, und man ließ ihr volle Zeit, zu reisen, um sie dann in Ausführung zu bringen.

Da es ihm nicht an Geld gebrach, erneuerte Herr Cascabel seine Vorräte an Mehl, Schmalz, Reis, Tabak und insbesondere an Thee, welcher in Alaska in großen Mengen konsumiert wird. Dann kaufte er auch in der Niederlage der russisch-amerikanischen Gesellschaft Schinken, Rauchfleisch, Zwieback und Konserven ein. Angesichts der Zuflüsse des Youkon würde es unterwegs nicht an Wasser fehlen; aber dasselbe konnte durch einen kleinen Zusatz von Zucker und Cognac, oder eigentlich, »Wódka«, einer Art Branntwein, welche bei den Russen sehr beliebt ist, nur an Güte gewinnen. Daher versah man sich reichlich mit Zucker und Wódka. Was den Brennstoff betrifft, so nahm die Belle-Roulotte, trotzdem die Wälder denselben zu liefern hatten, eine Tonne vortrefflicher Vancouverkohle mit; nur eine Tonne, denn man durfte sie nicht zu schwer belasten.

Unterdessen hatte man in der zweiten Wagenabteilung einen Aushilfsverschlag angebracht, mit dem Herr Sergius sich begnügen wollte und der mit gutem Bettzeug versehen ward. Man kaufte auch Decken ein, sowie jene Hasenpelze, deren die Indianer sich im Winter soviel zu bedienen pflegen. Und für den Fall, daß man unterwegs genötigt wäre, das eine oder andere anzuschaffen, versah Herr Sergius sich mit jenen billigen Glasperlen, Kattunstoffen, Messern und Scheren, welche die gangbare Münze zwischen Händlern und Eingeborenen bilden.[106]

Da man bei dem in jenem Landstriche herrschenden Überflusse an Damwild, Renntieren, Hasen, Auerhähnen, Gänsen und Rebhühnern auf die Jagd rechnen durfte, wurden Pulver und Blei in genügender Quantität angekauft. Herr Sergius konnte sich sogar zwei Flinten und einen Karabiner verschaffen, welche das Arsenal der Belle-Roulotte vervollständigten. Er war ein guter Schütze und würde sich ein Vergnügen daraus machen, in Gesellschaft seines Freundes Jean zu jagen.

Zudem durfte man nicht vergessen, daß die Karnoffsche Bande vielleicht in der Umgebung von Sitka ihr Unwesen trieb, daß man vor einem Angriffe dieser Übelthäter auf der Hut sein und sie gegebenen Falles nach Verdienst empfangen mußte.

»Denn,« bemerkte Herr Cascabel, »auf die Anforderungen, welche diese indiskreten Leute an uns stellen könnten, wüßte ich mir keine bessere Antwort, als eine Kugel vor die Brust...«

»Wenn nicht etwa vor den Kopf!« bemerkte Clou-de-Girofle scharfsinnig.

Mit einem Worte, dank dem Handel, welchen die Hauptstadt von Alaska mit den verschiedenen Städten Kolumbias und den Häfen des Stillen Oceans betrieb, vermochten Herr Sergius und seine Gefährten die zu einer langen Reise durch die Wildnis notwendigen Gegenstände zu nicht allzu übertriebenen Preisen zu erwerben.

Diese Vorkehrungen waren erst in der vorletzten Woche des Juni beendet und die Abfahrt wurde definitiv auf den sechsundzwanzigsten festgesetzt. Da man die Beringstraße nicht eher passieren konnte, als bis sie vollständig zugefroren war, hatte man reichlich Zeit, dahin zu gelangen. Nichtsdestoweniger war es angezeigt, mit möglichen Verzögerungen und unvorhergesehenen Hindernissen zu rechnen; und jedenfalls kam man besser zu früh als zu spät an. In Port-Clarence, welches auf dem Küstengebiete der Meerenge gelegen ist, würde man Rast halten und den günstigen Augenblick abwarten, um auf die asiatische Küste hinüber zu gelangen.

Und was machte während dieser Zeit die junge Indianerin? Nichts absonderliches. Sie ging Frau Cascabel sehr intelligent bei den verschiedenen Reisevorbereitungen zur Hand. Diese ausgezeichnete Frau hatte eine mütterliche Zuneigung zu ihr gefaßt; sie liebte sie ebenso sehr wie Napoleone und schloß sich täglich fester an ihr neues Kind an. Jedermann hatte Kayette auf seine Weise lieb gewonnen, und ohne Zweifel genoß das arme Mädchen jetzt eines Glückes, welches sie unter den wandernden Stämmen in den Zelten der Indianer nie gekannt. So würde man denn mit großer Trauer den Augenblick nahen sehen, wo Kayette sich von der Familie trennen sollte. Aber mußte sie, die jetzt allein in der Welt stand, nicht in Sitka bleiben, da sie doch[107] dahin gekommen war, um ihren Lebensunterhalt als Dienerin, wahrscheinlich unter elenden Verhältnissen, zu erwerben?

»Und dennoch,« sagte Herr Cascabel manchmal, »wenn diese niedliche Kayette – mein Vöglein möcht ich sie heißen – wenn mein Vöglein Lust zum Tanzen hätte, so sollte man ihr vielleicht vorschlagen... Ah! welch eine reizende Tänzerin sie wäre! Und auch welch eine anmutige Kunstreiterin, wenn sie in einem Cirkus auftreten wollte! Ich bin überzeugt, daß sie wie eine echte Centaurin reiten würde!«

Herr Cascabel glaubte nämlich in vollem Ernste, daß die Centauren vortreffliche Reiter seien, und dieser Ansicht würde man nicht ungestraft widersprochen haben.

Als er Jean bei den Worten seines Vaters den Kopf schütteln sah, begriff Herr Sergius sehr wohl, daß dieser ernste und zurückhaltende Junge die väterlichen Ansichten über Akrobatie und ähnliche Künste durchaus nicht teilte.

Man beunruhigte sich sehr über Kayette, was aus ihr werden würde, welche Existenz ihrer in Sitka harre; und man war ganz betrübt, als Herr Sergius sie am Vorabend der Abreise an seiner Hand vor den versammelten Familienkreis führte.

»Meine Freunde,« sagte er »ich hatte keine Tochter; nun, und jetzt habe ich eine, eine Adoptivtochter. Kayette wird die Güte haben, mich als ihren Vater zu betrachten und ich bitte um Unterkunft in der Belle-Roulotte für sie!«

Welche Freudenrufe Herrn Sergius antworteten und mit welchen Liebkosungen das »Vöglein« überhäuft wurde! Herr Cascabel aber konnte sich nicht enthalten, seinem Gaste gerührt zu sagen:

»Was für ein wackerer Mann Sie sind!«

»Weshalb denn, mein Freund?« antwortete Herr Sergius. »Haben Sie etwa vergessen, was Kayette für mich gethan hat? Ist es nicht natürlich, daß sie mein Kind werde, da ich ihr mein Leben verdanke?«

»Nun, so teilen wir!« rief Herr Cascabel. »Wenn Sie ihr Vater sind, Herr Sergius, so will ich ihr Onkel sein!«

Quelle:
Jules Verne: Cäsar Cascabel. Berlin [o. J.], S. 98-108.
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