|
[134] Am Abend jener denkwürdigen Vorstellung beschloß man in einem Rate, dem die ganze Familie anwohnte, daß die Abreise am folgenden Tage stattfinden solle.
Herr Cascabel stellte die weise Betrachtung an, daß er, wenn er seiner Truppe neue Kräfte zuführen gewollt hätte, offenbar nur die Qual der Wahl unter den Eingeborenen von Alaska gehabt haben würde. Wenn seine Eigenliebe auch darunter litt, so mußte er doch gestehen, daß diese Indianer wunderbares Geschick zu akrobatischen Leistungen hätten. Als Gymnastiker, Athleten Clowns, Equilibristen und Gaukler würden sie in jedem beliebigen Lande große Erfolge erzielt haben. Freilich mochte der Fleiß bedeutenden Anteil an ihrer Befähigung haben; aber die Natur hatte doch noch mehr dazu beigetragen, indem sie sie kräftig, geschmeidig und geschickt schuf. Es wäre ungerecht gewesen, zu leugnen, daß sie sich den Cascabels ebenbürtig gezeigt. Zum Glück hatte die Familie, dank der Geistesgegenwart der »Königin unter den elektrischen Frauen«, das letzte Wort behalten!
Die Beamten des Forts – zumeist sehr unwissende arme Teufel – waren bei den bewußten Vorgängen nicht weniger erstaunt, als die Eingeborenen gewesen. Und so kam man überein, das man ihnen das Geheimnis dieser Naturerscheinung nicht enthüllen werde, um Cornelia ihren vollen Ruhmesglanz zu lassen. Als sie ihr daher am folgenden Morgen wie gewöhnlich ihre Aufwartung machen kamen, wagten sie sich nicht sehr nahe an die blitzbewehrte Dame heran, welche sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln empfing. Sie zögerten auch sichtlich, ihre Hand zu berühren. Ebenso der Tyhi und der Zauberer, welche aber gern ein Geheimnis gekannt hätten, aus dem sie Nutzen ziehen gekonnt – das ihr Ansehen bei den Indianerstämmen erhöht haben würde.[134]
Da die Reisevorbereitungen vollendet waren, nahmen Herr Cascabel und die Seinen am Morgen des sechsten August von ihren Wirten Abschied und das gehörig ausgeruhte Gespann schlug die westliche Richtung längs des rechten Flußufers ein.
Herr Sergius und Jean hatten sorgfältig die Karte studiert und sich dabei die speziellen Weisungen zu Nutze gemacht, welche die junge Indianerin ihnen gab. Kayette kannte die meisten Dörfer, die man passieren mußte, und versicherte, daß keinerlei Gewässer die Fahrt der Belle-Roulotte ernstlich behindern werde.
Übrigens war noch nicht die Rede davon, das Youkonthal zu verlassen. Man würde vorerst auf dem rechten Flußufer bis zu dem Posten Neku vordringen und das Dorf Nuclakayette passieren; von Nuclakayette bis ans Fort Noulato würde man dann noch achtzig Meilen zurückzulegen haben. Dort erst würde das Gefährt den Youkon verlassen, um sich direkt nach Westen zu wenden.
Die Jahreszeit war noch immer günstig; die Tage waren warm, wenngleich man nachts ein fühlbares Sinken der Temperatur konstatierte. Somit hatte Herr Cascabel, wenn nicht etwa unvorhergesehene Verzögerungen eintraten, die Gewißheit, Port-Clarence zu erreichen, bevor der Winter ihm unüberwindliche Hindernisse in den Weg legte.
Man wird sich vielleicht wundern, daß eine solche Reise verhältnismäßig so leicht von statten ging. Aber ist das nicht immer der Fall in ebenen Ländern, wenn die schöne Jahreszeit, die Länge des Tages, die Milde des Klimas die Reisenden begünstigt? Jenseits der Beringstraße würde das anders werden, wenn die sibirischen Steppen ringsum mit dem Horizont verschwammen, wenn der Winterschnee sie unabsehbar bedeckte und der Nordsturm darüber hinfegte. Als man eines Abends von den kommenden Gefahren sprach, rief der zuversichtliche Cascabel:
»Ei! wir werden schon damit fertig werden!«
»Ich hoffe es,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich rate Ihnen, sich, sowie Sie die sibirische Küste betreten, nach Südwesten zu wenden, um die südlicheren Gebiete zu gewinnen, wo die Belle-Roulotte weniger von der Kälte zu leiden haben wird.«
»Das ist unsere Absicht, Herr Sergius,« antwortete Jean.
»Und Sie werden um so vernünftiger daran thun, meine Freunde, als die Sibirier nicht zu fürchten sind, wenn man sich nicht etwa... wie Clou sagen würde... unter die Stämme der Nordküste wagt. In der That wird die Kälte Ihr größter Feind sein.«
»Wir sind darauf vorbereitet,« sagte Herr Cascabel, »und wir werden die Reise schon überstehen. Wir hegen nur ein Bedauern, Herr Sergius; nämlich, daß Sie nicht mit uns reisen werden!«[135]
»Ja,« fügte Jean hinzu, »ein tiefes Bedauern!«
Herr Sergius fühlte, wie lieb die Familie ihn gewonnen hatte und wieviel Freundschaft er selber für sie empfand. Je länger ihr vertrauter Umgang währte, desto inniger wurde ihre gegenseitige Zuneigung. Die Trennung würde eine schmerzliche sein; und würden die Zufälligkeiten ihrer so verschiedenen Existenzen sie je wieder zusammenführen? Dann würde Herr Sergius auch Kayette mit sich fort nehmen, und er hatte Jeans Freundschaft für die junge Indianerin schon lange wahrgenommen. Hatte Herr Cascabel dies in dem Herzen seines Sohnes bereits so rege Gefühl bemerkt? Herr Sergius wußte es nicht zu sagen. Was Cornelia betrifft, so glaubte er, da die vortreffliche Frau sich nie über dies Thema geäußert hatte, dieselbe Zurückhaltung beobachten zu sollen. Wozu hätte auch eine Auseinandersetzung gedient? Es war eine andere Zukunft, welche der Adoptivtochter des Herrn Sergius harrte, und der arme Jean gab sich unerfüllbaren Hoffnungen hin.
Schließlich ging die Reise ohne große Hindernisse oder Anstrengungen von statten. Port-Clarence würde erreicht sein, bevor der Winter die Beringstraße passierbar machte, und man würde dort eine gewisse Zeit zubringen müssen. Folglich war keine Notwendigkeit vorhanden, Menschen und Tiere übermäßig anzustrengen.
Indessen mußte man doch immer auf einen möglichen Zwischenfall gefaßt sein. Ein verletztes oder krankes Pferd, ein gebrochenes Rad konnte die Belle-Roulotte ernstlich in Verlegenheit bringen. Aus diesen Gründen mußte man die strengste Vorsicht beobachten.
Während der ersten drei Tage zog die Reiseroute sich an dem gen Westen fließenden Strome hin; als der Youkon aber nach Süden abzubiegen begann, schien es ratsam, die Richtung des fünfundsechzigsten Breitegrades1 einzuhalten
An dieser Stelle war der Fluß sehr geschlängelt und das Thal verengte sich merklich zwischen mittelhohen Hügelreihen, welchen die Karte auf Grund ihrer basteiähnlichen Formation den Namen »Wälle« beilegt.
Es war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, aus diesem Labyrinth hinauszugelangen, und man traf alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um dem Gefährte einen Unfall zu ersparen. In den steileren Pässen lud man es zum Teile ab; man schob an den Rädern, »und das mit um so mehr Grund,« bemerkte Herr Cascabel, »als die Wagner in dieser Gegend sehr selten zu sein scheinen!«
Man hatte auch einige Creeks zu passieren, unter anderen den Nocolocarguot, den Shetchaut, den Klakencot. Zum Glück waren dieselben in dieser Jahreszeit nicht sehr tief, und so fiel es nicht schwer, erträgliche Furten zu entdecken.[136]
Was die Indianer betrifft, so gab es deren wenige, oder keine in diesem Teile der Provinz, der ehemals von zahlreichen, zu den »Leuten der Mitte« gehörigen und jetzt beinahe gänzlich ausgestorbenen Stämmen durchstreift wurde. Von Zeit zu Zeit kam eine Familie vorüber, welche dem südwestlichen Küstengebiete zustrebte, um sich dort während des Herbstes mit Fischerei zu befassen.[137]
Manchmal begegnete man auch einigen Händlern, die von der Mündung des Youkon kamen und die verschiedenen Posten der russisch-amerikanischen Gesellschaft zum Reiseziel hatten. Sie betrachteten sehr erstaunt den bunt bemalten Wagen und dessen Insassen. Und nachdem man einander glückliche Reise gewünscht, setzten sie ihren Weg gen Osten fort.
Am dreizehnten August langte die Belle-Roulotte vor dem hundertzwanzig Meilen vom Fort Youkon entfernten Dorfe Nuclakayette an. Es ist dies eigentlich bloß eine Faktorei, in welcher der Pelzhandel betrieben wird und über welche die moskowitischen Beamten selten hinausgehen. Von den verschiedenen Punkten Russisch-Asiens und der alaskischen Küste kommend, treffen sie hier zusammen, um den Käufern der Hudsonbai-Gesellschaft Konkurrenz zu machen.
So ist Nuclakayette denn ein Sammelpunkt, wohin die Eingeborenen das Pelzwerk bringen, das sie während der Winterzeit eingeheimst haben.
Nachdem er sich von dem Flusse entfernt hatte, um den zahlreichen Windungen desselben zu entgehen, näherte Herr Cascabel sich ihm wiederum bei diesem Dorfe, welches sehr angenehm inmitten kleiner Hügel und freundlicher Bäume lag. Einige Holzhütten gruppierten sich um die Palissade, die das Fort schützte. Bäche rieselten durch die grasige Ebene. Zwei bis drei kleine Fahrzeuge schaukelten am Ufer des Youkon. Das Ganze bot einen gefälligen Anblick und lud zur Ruhe ein. Was die in der Umgegend lebenden Indianer betrifft, so waren dieselben Tananas, die, wie gesagt, dem schönsten Eingeborenen-Typus von Nord-Alaska angehören.
So anziehend der Ort auch war, so verweilte die Belle-Roulotte doch nur vierundzwanzig Stunden darin. Man fand das genug für die sowieso sehr geschonten Pferde. Herr Cascabel beabsichtigte, sich länger in Noulato aufzuhalten, einem ziemlich bedeutenden und besser mit Vorräten versehenen Fort, wo man einige Einkäufe im Hinblick auf die Reise durch Sibirien machen würde.
Überflüssig, zu erwähnen, daß Herr Sergius und Jean, manchmal in Begleitung des jungen Xander, unterwegs der Jagd oblagen. Das Wild bestand noch immer aus Elen- und Renntieren, welche sich in den Ebenen umhertrieben und ihre Lager in den Wäldern, oder vielmehr unter den hier ziemlich spärlichen Baumgruppen hatten. In den sumpfigen Gegenden boten auch Wildgänse, Enten und Wasserschnepfen Anlaß zu hübschen Schüssen, und die Jäger vermochten sogar einige jener Reiher zu erlegen, welche im allgemeinen keine sehr geschätzte Speise bilden.
Und doch versicherte Kayette, daß der Reiher von den Indianern sehr gern gegessen werde – besonders wenn sie nichts anderes zu beißen hätten. Am dreizehnten August machte man beim Frühstück einen Versuch damit.[138]
Aber trotz Cornelias ganzem Talente – und man weiß, wie wunderbar sie sich aufs Kochen verstand – fand man das Fleisch hart und zäh. Es mundete nur Wagram und Marengo, welche sich bis auf den letzten Knochen daran gütlich thaten.
Allerdings begnügen die Eingeborenen sich in Zeiten der Hungersnot auch mit Eulen, Falken und sogar mit Mardern; aber doch nur, weil sie dazu gezwungen sind.
Am vierzehnten August mußte die Belle-Roulotte sich durch die Krümmungen einer engeren Schlucht zwischen sehr abschüssigen Hügeln hindurchwinden. Dieser Paß war so steil, so holprig, dem Bette eines Sturzbaches so ähnlich, daß sich trotz aller angewandten Vorsicht ein Unfall ereignete. Zum Glücke brach nicht ein Rad, sondern nur eine der Deichselstangen. Die Reparatur nahm denn auch nicht viel Zeit in Anspruch; einige Stricke genügten, die Sache wieder in stand zu setzen.
Als man das Dorf Suquongilla auf der einen, und das am gleichnamigen Creek erbaute Dorf Newleargout auf der anderen Seite des Flusses hinter sich gelassen hatte, bot der Weg keine Schwierigkeiten mehr. Die Hügel waren zu Ende. Eine unabsehbare Ebene breitete sich vor den Reisenden aus. Die in dieser regenarmen Jahreszeit ausgetrockneten Bette von drei bis vier Rios durchfurchten sie. Zur Zeit der Winterstürme und Schneewehen wäre es nicht möglich gewesen, in dieser Richtung vorzudringen.
Indem sie einen der erwähnten Creeks, den Milocargout, überschritten, in welchem sich kaum fußhoches Wasser befand, bemerkte Herr Cascabel, daß derselbe von einem Dammwege durchschnitten sei.
»Ei!« meinte er, »wenn man einen Dammweg durch diesen Creek bauen konnte, so hätte man ebenso gut eine Brücke aufführen können. Das wäre bei Hochwasser nützlicher gewesen...«
»Ohne Zweifel, Vater,« antwortete Jean. »Aber die Ingenieure, welche diesen Weg bauten, wären nicht im stande gewesen, eine Brücke herzustellen...«
»Weshalb nicht?«
»Weil es vierfüßige Ingenieure, nämlich Biber waren.«
Jean täuschte sich nicht; man hatte allen Grund, die Arbeit dieser fleißigen Tiere zu bewundern, welche beim Bau ihrer Deiche sorgfältig der Strömung Rechnung tragen und auch deren Höhe dem gewöhnlichen Wasserstande der Creeks anzupassen wissen; ist doch sogar die Abdachung ihrer Deiche auf den wirksamsten Widerstand gegen den Anprall der Flut berechnet.
»Und doch,« rief Xander, »sind diese Biber nicht zur Schule gegangen, um zu lernen...«
»Sie bedurften keiner Schule,« antwortete Herr Sergius. »Wozu die Wissenschaft, die manchmal irre geht, wenn man einen untrüglichen Instinkt[139] besitzt? Diesen Deich, mein Junge, haben die Biber aufgeführt wie die Ameisen ihre Haufen bauen, wie die Spinnen ihre Netze weben, wie die Bienen ihre Zellen anlegen, endlich wie die Bäume und Sträucher Blüten und Früchte hervorbringen. Sie kennen kein unsicheres Herumtappen, aber auch keinen Fortschritt. Übrigens läßt diese Art Arbeit auch keinen solchen zu. Der Biber von heutzutage baut ebenso vollkommen wie der erste Biber, der je auf dem Erdboden erschienen ist. Die Vervollkommnungsfähigkeit ist nicht Sache der Tiere; sie ist dem Menschen eigen; er allein kann auf dem Gebiete der Künste, der Wissenschaften und der Industrie von Fortschritt zu Fortschritt steigen. So können wir denn den merkwürdigen Instinkt der Tiere, welcher denselben die Schaffung solcher Werke gestattet, rückhaltlos bewundern; aber wir dürfen dieselben nur als Werke der Natur betrachten.«
»So ist's, Herr Sergius,« sagte Jean; »ich verstehe Ihre Bemerkung wohl. Darin liegt der Unterschied zwischen Instinkt und Vernunft. Im ganzen genommen, ist die Vernunft über den Instinkt erhaben, wenngleich sie Täuschungen unterworfen ist...«
»Unstreitig, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »und diese Täuschungen, der Reihe nach erkannt und berichtigt, sind nur so viele Mittel zum Fortschritt.«
»Jedenfalls,« versetzte Xander, »bleibe ich bei dem, was ich gesagt habe! Die Tiere brauchen nicht zur Schule zu gehen...«
»Zugegeben; aber die Menschen sind auch nur Tiere, wenn sie nicht zur Schule gegangen sind,« antwortete Herr Sergius.
»Nun!... Nun!« sagte die stets praktische Cornelia. »Sind diese Biber eßbar?«
»Gewiß,« antwortete Kayette.
»Ich habe sogar gelesen,« fügte Jean hinzu, »daß der Schwanz jener Tiere vortrefflich ist.«
Man vermochte die Wahrheit dieser Behauptung nicht festzustellen; denn entweder gab es keine Biber in dem Creek, oder dieselben waren nicht zu fangen.
Nachdem sie das Bett des Milocargout verlassen hatte, passierte die Belle-Roulotte das mitten im Lande der Co-Youkon-Indianer gelegene Dorf Sacherteloutain. Kayette riet hier zu einiger Vorsicht im Verkehre mit den Eingeborenen, von wegen ihres starken Hanges zum Stehlen. Da sie etwas dicht an das Gefährt herankamen, wachte man darüber, daß sie nicht etwa ins Innere desselben drängen. Übrigens erzielten hübsche Glaswaren, mit welchen man die Hauptanführer des Stammes freigebig beschenkte, eine heilsame Wirkung, und so zog man sich ohne Unannehmlichkeit aus der Sache.[140]
Weiterhin wurde die Reise längs des schmalen Randes der neu auftauchenden Bergwälle durch mancherlei Schwierigkeiten kompliziert, denen man nicht entgehen konnte, ohne sich in eine noch gebirgigere Gegend zu wagen.
Die Schnelligkeit des Marsches litt darunter, und es war doch ratsam, sich nicht zu lange aufzuhalten. Die Temperatur begann, wenn nicht während[141] des Tages, so doch während der Nacht frischer zu werden – was derzeit normal war, da die Gegend nur wenige Grade vom Polarkreise entfernt lag.
Die Familie Cascabel war an einen Punkt gelangt, wo der Fluß sich jählings nach Norden wendet. Man mußte seinem Laufe bis an die Mündung des Co-Youkon folgen, der ihm seine Wasser in zwei geschlängelten Armen zuführt. Es bedurfte fast eines ganzen Tages, um eine passierbare Furt zu finden, die Kayette infolge des bereits höheren Wasserstandes nicht ohne Mühe erkannte.
Als dieser Nebenfluß überschritten war, schlug die Belle-Roulotte wieder eine südliche Richtung ein und zog durch eine ziemlich unebene Gegend nach dem Fort Noulato.
Dieser Posten, dessen kommerzielle Wichtigkeit eine große ist, gehört der russisch-amerikanischen Gesellschaft. Es ist die nördlichste Faktorei, die in Westamerika errichtet worden, da sie den Beobachtungen Frederic Whimpers gemäß unter 64°42' nördlicher Breite und 155° 36' westlicher Länge liegt.
In diesem Teile der alaskischen Provinz fiel es schwer, sich unter einem so hohen Breitegrade zu glauben. Der Boden ist dort unstreitig fruchtbarer als in der Umgebung des Fort Youkon. Überall schön gewachsene Bäume, überall Prairien mit üppigem Grase, gar nicht zu reden von den weiten Ebenen, welche die Kultivierung lohnen würden, da eine dicke Humusschicht den lehmigen Boden bedeckt. Überdies ist die Gegend, dank dem nach Südwesten fließenden Noulato und jenem Netze von Creeks oder Cargouts, das sich gegen Nordosten hinzieht, sehr wasserreich. Aber trotzdem ist die vegetabilische Produktion auf einige Sträucher mit wilden Beeren beschränkt, welche den Launen der Natur anheimgegeben sind.
Das Fort Noulato selber ist folgendermaßen angelegt: die Baulichkeiten umgiebt eine von zwei Türmen geschützte Palissade, welche die Indianer während der Nacht, und selbst am Tage, falls sie in größerer Anzahl erscheinen, nicht passieren dürfen; die Hütten, Schuppen und Warenlager im Innern des Forts sind aus Holz, statt Fensterscheiben dienen Seehundsblasen. Wie man sieht, giebt es kaum etwas Primitiveres, als diese Posten im äußersten Nordamerika.
Herr Cascabel und die Seinen wurden hier sehr herzlich aufgenommen. Ist doch die Ankunft von Gästen in diesen weltverlorenen Winkeln des neuen Festlandes, fern von jedem regelmäßigen Verkehr nicht nur eine Zerstreuung, sondern eine wahre Freude, und sind sie doch mit ihren von so weither gebrachten Neuigkeiten stets willkommen!
Das Fort Noulato war von cirka zwanzig Beamten russischen und amerikanischen Ursprungs bewohnt, welche sich der Familie zur Verfügung stellten, um sie mit allem Notwendigen zu versehen. Durch die Sorgfalt der[142] Gesellschaft regelmäßig verproviantiert, finden diese Beamten während der schönen Jahreszeit noch andere Hilfsquellen, teils in der Jagd auf Renn- und Elentiere, teils im Fischfang in den Wassern des Youkon. Letzterer ist reich an gewissen Fischen, dem »Nalima« insbesondere, der meist nur zur Ernährung der Hunde dient, dessen Leber aber auch von Leuten, die sie öfter essen, geschätzt wird.
Selbstverständlich erstaunten die Bewohner von Noulato ein wenig, als sie die Belle-Roulotte ankommen sahen, und noch mehr, als Herr Cascabel sie mit seinem Plane bekannt machte, über Sibirien nach Europa zurückzukehren. Wahrlich, man mußte Franzose sein, um soviel Zuversicht zu hegen! Was den ersten[143] Teil der Reise betraf, der mit Port-Clarence abschließen sollte, so versicherten sie, daß er ohne Hindernisse ausgeführt werden würde, und zwar bevor die ersten Fröste über die Ebenen von Alaska hereinbrechen würden.
Auf den Rat des Herrn Sergius hin beschloß man, einige der zur Reise durch die Steppen nötigen Gegenstände anzukaufen. Vor allem mußte man mehrere jener Brillen anschaffen, welche beim Passieren weiter Schneeflächen unerläßlich sind. Die Indianer verstanden sich dazu, ein Dutzend solcher Brillen gegen einige Glaswaren einzutauschen. Diese Brillen waren ganz aus Holz und bedeckten das Auge vollständig, während der Blick nur durch eine enge Ritze drang. Das genügte, um sich ohne allzu große Mühe zurechtzufinden, und man entging dadurch den Augenentzündungen, welche der grelle Widerschein des Schnees unfehlbar hervorrufen würde. Das ganze Personal probierte dies Schutzmittel und konstatierte, daß es sich leicht daran gewöhnen werde.
Nachdem so für die Augen gesorgt war, mußte man an die Fußbekleidung denken; denn man geht nicht in dünnen Stiefeletten oder Schuhen durch die den sibirischen Unwettern ausgesetzten Steppen spazieren.
Das Warenlager von Noulato lieferte mehrere Paare hohe Stiefeln von Seehundsfell, welche sich am besten zu langen Reisen auf gefrorener Erde eignen und mittelst Bestreichens mit Fett wasserdicht gemacht werden.
Herr Cascabel sah sich hierdurch bewogen, mit großem Nachdruck folgende sehr richtige Bemerkung zu machen:
»Es gereicht immer zum Vorteil, sich so zu kleiden, wie die Tiere des Landes, in dem man gerade weilt, gekleidet sind. Da nun Sibirien das Land der Seehunde ist... so kleiden wir uns als Seehunde...«
»Als bebrillte Seehunde!« antwortete Xander, dessen Einwurf die väterliche Billigung erlangte.
Die Familie blieb zwei Tage im Fort Noulato, zwei Tage der Ruhe, welche ihrem mutigen Gespann genügten. Sie hatten Eile, nach Port-Clarence zu kommen. Früh am einundzwanzigsten August setzte die Belle-Roulotte ihre Fahrt fort, indem sie hier das rechte Ufer des großen Stromes endgültig verließ.
Der Youkon macht nämlich an dieser Stelle eine bedeutende Schwenkung nach Südwesten, um sich schließlich in den Norton-Sund zu ergießen. Indem man seinem Laufe folgte, hätte man die Reise nutzlos verlängert, da seine[144] Mündung sich unterhalb der Beringstraße befindet. Von dort hätte man gegen Port-Clarence hinausfahren müssen, über ein von Fjorden, Buchten und Kanälen durchschnittenes Küstengebiet, wo Gladiator und Vermout sich unnütz übermüdet hätten.
Die Kälte machte sich bereits recht fühlbar. Wenn auch die sehr schrägen Strahlen der Sonne noch helles Licht verbreiteten, so gaben sie doch wenig Wärme mehr. Dichte, graue Wolkenmassen drohten, sich in Schnee aufzulösen. Das kleinere Wild wurde selten und die Zugvögel begannen vor dem Winter südwärts zu flüchten.
Bis zu diesem Tage hatten Herr Cascabel und die Seinigen nicht allzu sehr unter den Anstrengungen der Reise gelitten – ein Ergebnis, zu dem man sich aufrichtig gratulieren konnte! In der That mußten sie mit einer eisernen Gesundheit ausgestattet sein – was offenbar ihrem Wanderleben, ihrer Abhärtung gegen jedwedes Klima, ihrer durch körperliche Übung gestählten Konstitution zuzuschreiben war. Demzufolge war die Hoffnung gerechtfertigt, daß sie alle heil und gesund in Port-Clarence eintreffen würden.
Und so geschah es denn auch unterm Datum des fünften September, nachdem sie fünfhundert Meilen von Sitka und gegen elfhundert Meilen von Sakramento aus – also cirka sechzehnhundert Meilen durch Westamerika im Laufe von sieben Monaten zurückgelegt hatten.
1 Die Breite von Droutheim in Norwegen.
Buchempfehlung
Therese gibt sich nach dem frühen Verfall ihrer Familie beliebigen Liebschaften hin, bekommt ungewollt einen Sohn, den sie in Pflege gibt. Als der später als junger Mann Geld von ihr fordert, kommt es zur Trgödie in diesem Beziehungsroman aus der versunkenen Welt des Fin de siècle.
226 Seiten, 8.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro