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[279] Der Ob, ein mächtiger Strom, der im Westen von den Gewässern des Ural und im Osten von reichlichen Nebenflüssen gespeist wird, durchmißt eine Strecke von viertausendfünfhundert Kilometern, während sein Gebiet nicht weniger als dreihundertdreißig Millionen Hektare umfaßt.
Geographisch gesprochen, hätte der Ob als natürliche Grenze zwischen Asien und Europa dienen können, wenn das Uralgebirge sich nicht etwas westlich von seinem Laufe erhoben hätte. Vom sechzigsten Breitegrad aus entwickeln der Fluß und das Gebirge sich beinahe parallel. Und während der Ob sich in den weiten Golf des gleichen Namens ergießt, senkt der Ural seine letzten Ausläufer ins Karameer hinab.
Auf dem rechten Ufer haltend, betrachteten Herr Sergius und seine Gefährten den Fluß und dessen zahlreiche, weidenbeschattete Inseln. Am Fuße der steilen Ufer wiegten die Wasserpflanzen ihre schmalen Blätter und frischen Blüten. Stromaufwärts und abwärts durcheilten zahlreiche Fahrzeuge das frische, durchsichtige Wasser, das auf seinem Laufe durch die Filter seiner heimatlichen Berge gereinigt worden.
Da die Überfuhr hier regelrecht organisiert worden, so vermochte die Belle-Roulotte ohne große Mühe den Marktflecken Muji auf dem linken Flußufer zu erreichen.[279]
Dieser Marktflecken ist eigentlich bloß ein Dorf und gefährdete die Sicherheit des Grafen Narkine in keiner Weise, da es nicht als Militärposten diente. Indessen war es doch ratsam, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, da man im Begriffe stand, den Fuß des Uralgebirges zu erreichen, und da die russische Verwaltung jeden vom Auslande Kommenden nötigt, seine Papiere vorzuzeigen. So beschloß Herr Cascabel denn, die seinigen durch den Bürgermeister von Muji visitieren zu lassen. War das geschehen, so konnte Herr Sergius, als zum Personal der Truppe gehörig, die Grenze des Moskowitenreiches überschreiten, ohne den Verdacht der Polizei zu erregen.
Weshalb mußte ein beklagenswerter Zufall diesen so leicht ausführbaren Plan gefährden? Weshalb waren Ortik und Kirschef zur Stelle, entschlossen, ihn zu vereiteln? Warum auch wollten sie die Belle-Roulotte durch die gefährlichsten Pässe des Ural führen, wo sie alsbald mit Banden von Übelthälern, ihren früheren Spießgesellen, zusammentreffen würden?
Aber Herr Cascabel, der diese Lösung nicht voraussehen und also auch nichts dagegen thun konnte, frohlockte unaufhörlich, sein tollkühnes Unternehmen gut zu Ende geführt zu haben. Nun sie ganz Westamerika, ganz Nordasien durchzogen hatten, würden kaum hundert Meilen Weges sie an die Grenze von Europa bringen! Seine Frau und Kinder waren vollkommen gesund und spürten nichts von den Anstrengungen jener langen Reise. Wenn Herrn Cascabels Thatkraft zur Zeit der Katastrophe in der Beringstraße und während des Treibens auf dem Eismeere nachgelassen, so hatte er doch wenigstens jenen Dummköpfen auf den Liakhoffinseln zu entgehen gewußt und die Belle-Roulotte in den Stand gesetzt, ihre Reise auf dem Festland fortzusetzen.
»Wahrlich, was Gott thut, ist gewöhnlich wohlgethan!« wiederholte er gern.
Herr Sergius und seine Gefährten hatten beschlossen, vierundzwanzig Stunden lang in Muji zu verweilen, wo die Einwohner ihnen einen vorzüglichen Empfang bereiteten.
Indessen erhielt Herr Cascabel den Besuch des Gorodintschy, – des Bürgermeisters von Muji. Diese, in Bezug auf Fremde etwas mißtrauische Persönlichkeit betrachtete es als ihre Pflicht, das Oberhaupt der Familie einem Verhör zu unterziehen. Herr Cascabel wies ohne Zögern seine Papiere vor, in welchen Herr Sergius als einer der Künstler der Jahrmarktstruppe aufgeführt war.
Den ehrsamen Beamten, welchem der moskowitische Ursprung des Herrn Sergius nicht entgehen konnte, nahm es Wunder, einen Landsmann von sich unter französischen Gauklern zu sehen, und er lieh diesem Erstaunen Worte.
Aber da gab Herr Cascabel ihm zu bedenken, daß sich neben dem Russen[280] auch ein Amerikaner in der Person Clou-de-Girofles und eine Indianerin in der Person Kayettens unter ihnen befinde. Er kümmere sich nur um die Begabung seiner Künstler, nicht um ihre Nationalität. Er fügte hinzu, daß diese Künstler sich glücklich schätzen würden, wenn »der Herr Maire« – nun und nimmer hätte Cäsar Cascabel das Wort Gorodintschy auszusprechen vermocht –, wenn der Herr Maire ihnen gestatten wolle, in seiner Gegenwart zu arbeiten!
Das machte dem besagten Maire großes Vergnügen; er nahm den Vorschlag des Herrn Cascabel an und versprach ihm, nach der Vorstellung seine Papiere zu visieren.
Was Ortik und Kirschef betrifft, so waren sie als zwei auf der Heimreise befindliche russische Schiffbrüchige bezeichnet worden und stießen auf keinerlei Schwierigkeiten.
Der Verabredung gemäß begab die ganze Truppe sich am selbigen Abend in die Wohnung des Gorodintschy.
Es war das ein ziemlich geräumiges Haus, in Erinnerung an Alexander I., der diese Farbe liebte, schön gelb angestrichen. An den Wänden des Salons hing ein Bild der heiligen Jungfrau, umgeben von mehreren russischen Heiligenbildern, die sich in ihren Rahmen aus Silberstoff recht gut ausnahmen. Bänke und Schemel dienten dem Bürgermeister, seiner Frau und seinen drei Töchtern zu Sitzen. Ein halbes Dutzend Honoratioren war geladen worden, um an den Vergnügungen dieses Abends teilzunehmen, während die einfachen Steuerzahler von Muji dicht gedrängt um das Haus standen und sich damit begnügten, bei den Fenstern hineinzugucken.
Die Familie Cascabel wurde sehr zuvorkommend empfangen. Sie begann ihre Kunstübungen, welchen man nicht allzu sehr anmerkte, daß sie seit Wochen vernachlässigt worden waren. Die Verrenkungen des jungen Xander fanden großen Beifall; desgleichen die Anmut Napoleonens, welche, da sie kein straffes Seil zur Verfügung hatte, sich mit einer Tanzleistung begnügte. Im Spiele mit Flaschen, Tellern, Ringen und Kugeln setzte Jean das ganze Publikum in Erstaunen. Dann zeigte Herr Cascabel sich mit seinen Kraftproben als der würdige Gatte Cornelias, welche einen großen Erfolg damit errang, daß sie zwei Honoratioren mit ausgestreckten Armen in die Höhe hob.
Was Herrn Sergius betrifft, so entledigte er sich seiner Aufgabe sehr geschickt mit einigen Karten- und Taschenspielerkunststücken, welche sein gewandter Lehrmeister ihm beigebracht hatte, – nicht ohne Grund, wie man sieht. Daraufhin konnte im Geiste des Bürgermeisters kein Zweifel darüber entstehen, daß dieser Russe wirklich bei der Jahrmarktstruppe angestellt sei.
Dann wurde Konfekt, Korinthenkuchen und vorzüglicher Thee herumgereicht. Und als der Abend zu Ende ging, visierte der Gorodintschy ohne[281] Zögern die Papiere, welche Herr Cascabel ihm unterbreitete. Damit war die Belle-Roulotte den moskowitischen Behörden gegenüber legitimiert.
Es ist auch zu erwähnen, daß der Bürgermeister, der sich einer gewissen Wohlhabenheit erfreute, Herrn Cascabel zwanzig Rubel als Honorar für seine Vorstellung anbieten zu sollen glaubte.
Herr Cascabel war anfangs geneigt, diese Belohnung zurückzuweisen; aber das würde seitens des Direktors einer Wandertruppe vielleicht Aufsehen gemacht haben.
»Zwanzig Rubel sind schließlich immerhin zwanzig Rubel!« sagte er sich.
Und so steckte er unter vielen Danksagungen seine Einnahme ein.
Der folgende Tag wurde der Ruhe gewidmet. Man hatte einige Einkäufe an Mehl, Reis, Butter und verschiedenen Getränken zu besorgen, welche Cornelia sich zu mäßigen Preisen verschaffen konnte. Was den Konservenvorrat betrifft, so durfte man nicht daran denken, ihn in diesem Dorfe zu erneuern; aber zwischen dem Ob und der europäischen Grenze würde kein Mangel an Wild sein.
Vor dem Mittag waren die Einkäufe beendet. Man speiste recht fröhlich, obgleich es Jean und Kayetten schwer ums Herz war. Sahen sie doch die Trennungsstunde herannahen!...
In der That, was würde Herr Sergius thun, wenn er seinen Vater, den Fürsten Narkine, wiedergesehen hatte? Würde er, da er ja nicht in Rußland bleiben konnte, nach Amerika zurückkehren oder sich irgendwo in Europa niederlassen? Begreiflicherweise beschäftigte Herr Cascabel sich viel mit dieser Frage. Er hätte gern gewußt, woran er in dieser Hinsicht sei. Daher fragte er Herrn Sergius an jenem Tage nach dem Essen, ob er keine Lust habe, einen Spaziergang um das Dorf zu machen. Da letzterer sah, daß Herr Cascabel im geheimen mit ihm zu reden wünschte, beeilte er sich, die Einladung anzunehmen.
Auch die beiden Matrosen verabschiedeten sich von der Familie, um, wie sie sagten, den Tag in irgend einer Schenke von Muji zu beschließen.
So verließen denn Herr Sergius und Herr Cascabel die Belle-Roulotte, gingen einige hundert Schritte weit und setzten sich dann außerhalb des Dorfes am Rande eines kleinen Waldes nieder.
»Herr Sergius,« sagte hierauf Herr Cascabel, »wenn ich Sie um Ihre Begleitung bat, so war es, weil ich mit Ihnen allein sein wollte... Ich möchte mit Ihnen über Ihre Lage sprechen...«
»Über meine Lage, mein Freund?«
»Ja, Herr Sergius, oder vielmehr über das, wozu diese Lage Sie nötigen wird, wenn Sie erst in Rußland sind!...«
»In Rußland?«[282]
»Ich täusche mich nicht, nicht wahr, wenn ich sage, daß wir den Ural binnen zehn Tagen überschritten haben und acht Tage später in Perm eintreffen werden?«
»Ich halte das für wahrscheinlich, falls uns kein Hindernis aufhält,« antwortete Herr Sergius.
»Hindernis!... Wir werden auf keine Hindernisse stoßen!...« entgegnete[283] Herr Cascabel. »Sie werden die Grenze ohne einen Schatten von Schwierigkeiten passieren. Unsere Papiere sind in Ordnung; Sie gehören zu meiner Truppe und kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, daß einer meiner Künstler Graf Narkine sei!...«
»Gewiß nicht, mein Freund, da niemand außer Ihnen und Frau Cascabel das Geheimnis kennt, und da es bewahrt worden ist...«
»So getreulich, als ob meine Frau und ich es mit uns ins Grab genommen hätten!« antwortete Herr Cascabel würdevoll. »Und würde es jetzt indiskret sein, Herr Sergius, zu fragen, was Sie nach der Ankunft der Belle-Roulotte in Perm zu thun gedenken?...«
»Ich werde mich schleunigst nach Schloß Walska begeben, um meinen Vater wiederzusehen!« antwortete Herr Sergius.»Das wird ihm eine große Freude sein, eine ganz unverhoffte Freude; es sind jetzt dreizehn Monate her, daß ich weder von ihm gehört, noch auch ihm zu schreiben vermocht habe; was muß er sich denken!...«
»Beabsichtigen Sie,« fragte Cascabel, »sich längere Zeit im Schlosse des Fürsten Narkine aufzuhalten?«
»Das wird von Umständen abhängen, die ich unmöglich voraussehen kann. Wenn meine Anwesenheit ruchbar wird, so werde ich vielleicht gezwungen sein, meinen Vater zu verlassen!... Und doch... in seinem Alter...«
»Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel, »ich habe Ihnen keinen Rat zu erteilen... Sie wissen besser als irgend jemand, was Sie thun müssen... Aber ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß Sie sich sehr ernsten Gefahren aussetzen, wenn sie in Rußland bleiben!... Werden Sie entdeckt, so steht Ihr Leben auf dem Spiele...«
»Ich weiß es, mein Freund; und ich weiß auch, daß Sie und die Ihrigen ebenfalls ernstlich bedroht sein würden, wenn die Polizei erführe, daß Sie meinen Übertritt auf moskowitisches Gebiet begünstigt haben!«
»O!... wir!... Das zählt nicht!...«
»Doch, mein lieber Cascabel; und ich werde auch niemals vergessen, was Ihre Familie für mich gethan hat...«
»Nun... nun... Herr Sergius!... Wir sind nicht hier her gekommen, um schöne Reden zu tauschen!... Sehen Sie, wir müssen uns über den Entschluß verständigen, welchen Sie in Perm zu fassen gedenken...«
»Nichts einfacher als das,« antwortete Herr Sergius. »Da ich zu Ihrer Truppe gehöre, so werde ich bei Ihnen bleiben, um keinen Verdacht zu erregen.«
»Aber Fürst Narkine?...«
»Schloß Walska liegt bloß sechs Werft von der Stadt entfernt und so[284] wird es mir ein leichtes sein, mich allabendlich nach der Vorstellung unbemerkt dahin zu begeben. Unsere Diener würden sich eher umbringen lassen, als daß sie ihren Herrn verrieten oder kompromittierten. So werde ich also einige Stunden bei meinem Vater verbringen und vor Tagesanbruch wieder nach Perm zurückkehren können.«
»Vortrefflich, Herr Sergius; und solange wir in Perm bleiben, wird die Sache hoffentlich ganz von selber gehen! Aber wenn nun der Jahrmarkt zu Ende ist, wenn die Belle-Roulotte nach Nischni und später nach Frankreich aufbricht...«
Das war offenbar der heikle Punkt. Wozu würde Graf Narkine sich entschließen, wenn die Familie Cascabel Perm verlassen hatte?... Würde er sich auf Schloß Walska verbergen?... Würde er, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, in Rußland bleiben?... Herrn Cascabels Frage traf den Nagel auf den Kopf.
»Mein Freund,« antwortete ihm Herr Sergius »ich habe mich öfter gefragt, was ich thun werde... Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als daß ich es selber nicht weiß! Mein Thun wird sich nach den Umständen richten...«
»Wohl,« erwiderte Herr Cascabel. »Wenn Sie sich aber gezwungen sehen sollten, Schloß Walska zu verlassen; wenn Sie nicht in Rußland bleiben könnten, wo Ihre Freiheit, ja sogar Ihr Leben bedroht wäre... gestatten Sie mir die Frage, Herr Sergius... würden Sie dann daran denken, nach Amerika zurückzukehren?...«
»Ich habe in dieser Hinsicht noch keinen Plan gefaßt,« antwortete Graf Narkine.
»Nun denn, Herr Sergius – verzeihen Sie meine Beharrlichkeit – warum sollten Sie dann nicht mit uns nach Frankreich ziehen?... Indem Sie auch weiterhin in meiner Truppe figurierten, könnten Sie die westliche Grenze Rußlands ohne Gefahr erreichen!... Wäre das nicht der sicherste Ausweg?... Und so würden wir Sie noch einige Zeit bei uns haben... und mit Ihnen unsere teure kleine Kayette... O! nicht um sie Ihnen zu rauben!... Sie ist... sie bleibt Ihre Adoptivtochter, und das ist etwas mehr wert, als wenn sie die Schwester Jeans, Xanders und Napoleonens, der Kinder eines Gauklers, wäre!«
»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »reden wir nicht von dem, was die Zukunft für uns birgt Wer weiß, ob sie uns nicht alle zufrieden stellen wird?... Befassen wir uns mit der Gegenwart; das ist die Hauptsache. Ich kann Ihnen nur so viel sagen – aber sprechen Sie noch mit niemand davon –, daß ich, wenn ich Rußland verlassen müßte, mich sehr gern nach Frankreich zurückziehen würde, bis irgend ein politisches Ereignis meine Lage günstiger gestaltete... Und da Sie in Ihre Heimat zurückkehren...«[285]
»Bravo!... so reisen wir zusammen!« erwiderte Herr Cascabel.
Er hatte die Hand des Herrn Sergius ergriffen; er drückte und preßte sie, als wolle er sie an die seinige festnieten.
Sie kehrten mit einander in das Lager zurück, wo die beiden Matrosen erst am folgenden Morgen wieder erschienen.
Das Gespann brach frühzeitig auf und schlug eine westliche Richtung ein.
Während der folgenden Tage war die Hitze außerordentlich groß. Die ersten Unebenheiten des Uralgebirges machten sich bereits fühlbar und das ansteigende Terrain ermüdete die Renntiere außerordentlich, da die Temperatur ihre Kräfte arg mitnahm. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie durch Pferde zu ersetzen; aber Herr Cascabel hatte sich's bekanntlich in den Kopf gesetzt, seinen triumphalen Einzug in Perm mit einem Gespann von zwanzig Renntieren zu halten.
Am achtundzwanzigsten Juni erreichte die Belle-Roulotte, siebzig Meilen diesseits des Ob, die kleine Ortschaft Verniky. Dort obligatorisches Vorzeigen der Papiere – eine Förmlichkeit, welche zu keiner Einwendung führte. Dann setzte der Wagen seinen Weg nach dem Uralgebirge fort, welches die eintausendzweihundert bis eintausendsechshundert Meter hohen Gipfel des Telyoes und des Nintschur am Horizont emporstreckte. Man kam nicht sehr schnell vorwärts; und doch hatte man keine Zeit mehr zu verlieren, wenn die kleine Truppe in dem Augenblick in Perm eintreffen wollte, wo der Jahrmarkt dort in vollem Gange war
Übrigens verlangte Herr Cascabel jetzt im Hinblick auf die Vorstellungen, die er dort zu geben gedachte, daß jedermann, »sich übe«. Es galt, den Ruf der französischen Akrobaten, Gymnastiker, Equilibristen und Clowns im allgemeinen und den der Familie Cascabel im besonderen aufrecht zu erhalten. Daher nötigte er seine Künstler, sobald man abends Halt machte, sich zu trainieren. Sogar Herr Sergius suchte sich in den Karten- und Taschenspielerkunststücken zu vervollkommnen, zu welchen er wirkliches Talent bekundete.
»Was für ein Jahrmarktskünstler Sie geworden wären!« sagte sein Lehrer immer wieder zu ihm.
Am dritten Juli machte die Belle-Roulotte mitten in einer Lichtung Halt, welche von Birken, Fichten und Lärchenbäumen umsäumt war und von den hohen Spitzen der Uralkette beherrscht wurde.
Am nächsten Tage sollten die Reisenden, von Ortik und Kirschef geführt, den Aufstieg durch einen der Gebirgspässe antreten; und sie sahen, wenn nicht ernstliche Anstrengungen, so doch wenigstens beschwerliche Tagemärsche voraus, bis der höchste Punkt der Kette erreicht sein würde.
Da dieser Teil der Grenze durch die dort häufig verkehrenden Schmuggler[286] und Deserteure ziemlich unsicher gemacht wurde, mußte man auf die eigene Verteidigung bedacht sein und einige Maßregeln in diesem Sinne treffen.
Im Laufe des Abends drehte sich das Gespräch um die Schwierigkeiten, welche der Übergang über den Ural bieten mochte. Ortik versicherte, daß der von ihm empfohlene Paß – der sogenannte Petschorapaß – einer der wegsamsten des ganzen Höhenzuges sei. Er kenne denselben, da er ihn bereits einmal passiert habe, als Kirschef und er sich von Archangel ans Eismeer begaben, um die Vremia flott zu machen.
Während Herr Sergius und Ortik sich von diesen Dingen unterhielten, beschäftigten Cornelia, Napoleone und Kayette sich mit der Zubereitung des Nachtmahls. Ein tüchtiger Damhirschschlegel briet vor einem Feuer unter den Bäumen am Rande der Lichtung, und eine Reistorte bräunte sich langsam auf einer Platte, die auf glühenden Kohlen ruhte.
»Hoffentlich wird man sich heute abend nicht über den Speisezettel beklagen!« sagte die treffliche Hausfrau.
»Wenn nicht etwa Braten und Kuchen anbrennen!« bemerkte Clou-de-Girofle weise.
»Warum sollten sie denn anbrennen, Herr Clou,« versetzte Cornelia, »wenn Sie Sorge tragen, den Spieß mit der einen Hand zu wenden und die Platte mit der anderen zu drehen?«
Auf diesen Wink hin trat Clou den ihm zugewiesenen Vertrauensposten an. Während Wagram und Marengo um das Feuer streiften, leckte John Bull sich in Erwartung seines Anteils an dem vorzüglichen Nachtmahl die Schnauze.
Im gegebenen Augenblick setzte man sich zu Tische und hatte nichts als Lobsprüche für das Mahl, welche Cornelia und ihre Gehilfen mit lebhafter Befriedigung entgegennahmen.
Da die Temperatur zur Zeit des Schlafengehens noch sehr hoch war, wollten Herr Sergius, Cäsar Cascabel, dessen Söhne, Clou und die beiden Matrosen sich mit dem Lager begnügen, welches die Lichtung ihnen im Schutze der Bäume bot. Zudem würde die Überwachung unter diesen Verhältnissen leichter fallen.
So suchten denn nur Cornelia, Napoleone und Kayette ihre Schlafstätten im Innern der Belle-Roulotte auf.
Mit der Julidämmerung, deren Dauer sich unter diesem sechsundsechzigsten Breitegrade ins Unbestimmte hinauszieht, war die elfte Stunde vorüber, bevor die Nacht völlig hereinbrach, – eine Nacht ohne Mondschein, deren Sterne im Dunste der hohen Zone verschwammen.
Auf das Gras hingestreckt und in wollene Decken gewickelt, fühlten Herr Sergius und seine Gefährten bereits, wie der erste Schlaf ihre Augenlider[287] schwer machte, als die beiden Hunde verschiedene Zeichen der Erregung von sich gaben. Sie schnupperten mit vorgestreckter Schnauze in der Luft und ließen ein dumpfes Knurren hören, welches auf außerordentliche Unruhe deutete.
Jean richtete sich zuerst auf und blickte in der Lichtung umher.
Das Feuer war am Erlöschen und tiefe Finsternis lagerte unter den dichten Bäumen. Jean blickte aufmerksamer hin und glaubte bewegliche Punkte zu sehen, die wie glühende Kohlen funkelten. Wagram und Marengo schlugen heftig an.
»Aufgepaßt!« rief Jean, emporspringend; »aufgepaßt!«
Im nächsten Augenblick waren sämtliche Schläfer auf den Füßen.
»Was giebts?« fragte Herr Cascabel.
»Sieh... dort... Vater!« antwortete Jean, indem er auf die leuchtenden Punkte deutete, die jetzt unbeweglich im Schatten des Gehölzes glühten.
»Was ist denn das?«
»Wolfsaugen!«
»Jawohl!... Wölfe!...« fiel Ortik ein.
»Sogar ein ganzes Rudel!« fügte Herr Sergius hinzu.
»Teufel!« sagte Herr Cascabel.
Das Wort Teufel war zweifellos lingenügend, um den Ernst der Situation zu kennzeichnen. Vermutlich hatten die Wölfe sich zu Hunderten um die Lichtung angesammelt und diese Raubtiere werden äußerst gefährlich, wenn sie in großer Anzahl beisammen sind.
Eben erschienen Cornelia, Kayette und Napoleone in der Wagenthür.
»Nun, Vater?...« fragte das kleine Mädchen.
»Es ist nichts,« antwortete Herr Cascabel. Nur Wölfe, die beim Sternenschein herumspazieren!... Bleibt in euren Kammern und reicht uns unsere Waffen, damit wir sie in Respekt halten können!«
Einen Augenblick später befanden sich Flinten und Revolver in den Händen des Herrn Sergius und seiner Gefährten.
»Ruft die Hunde zurück!« sagte er.
Wagram und Marengo, die am Waldrande umherstrichen, kamen auf Jeans Ruf zurück, in einer Wut, die nicht leicht zu bändigen war.
Nun wurde eine allgemeine Salve in der Richtung jener leuchtenden Punkte abgefeuert und ein entsetzliches Geheul bewies, daß die Schüsse getroffen hatten.
Aber die Zahl der Wölfe mußte beträchtlich sein, denn der Kreis schloß sich enger zusammen und einige fünfzig Wölfe drangen in die Lichtung vor.
»In die Roulotte!... In die Roulotte!...« schrie Herr Sergius. »Sie greifen uns an!... Wir werden uns nur von dort aus verteidigen können!«[288]
»Und die Renntiere?...« sagte Jean.
»Wir können nichts zu ihrer Rettung thun.«
Es war wirklich zu spät. Schon waren einige der Zugtiere hingewürgt worden, während die anderen ihre Spannstricke zerreißend, durch die Wälder davonflohen.
Auf den Befehl des Herrn Sergius zogen sich alle in die Belle-Roulotte zurück und man verschloß die äußere Thür.[289]
Es war die höchste Zeit! Im Scheine der Abenddämmerung sah man die Wölfe auf die Belle-Roulotte eindringen und bis zu den Fenstern emporspringen.
»Was werden wir ohne Gespann anfangen?«...« sagte Cornelia unwillkürlich.
»Entledigen wir uns vorerst dieser Bande!« antwortete Herr Sergius.
»Beim Teufel, wir werden schon mit ihnen fertig werden!« rief Herr Cascabel.
»Jawohl... wenn sie nicht allzu zahlreich sind!« meinte Ortik.
»Und wenn uns die Munition nicht ausgeht!« fügte Kirschef hinzu.
»Einstweilen Feuer!« rief Herr Sergius.
Und nun begannen Flinten und Revolver durch die halb geöffneten Fenster das Werk der Vernichtung. Beim Aufleuchten der zu beiden Seiten und im Fond des Wagens knallenden Schüsse sah man bereits an die zwanzig Wölfe tot oder schwer verwundet auf der Erde liegen.
Aber nichts hemmte die Wut dieser Raubtiere und ihre Zahl schien fortwährend zu wachsen. Mehrere Hundert füllten jetzt die Lichtung mit beweglichen Schatten.
Etwelche von ihnen krochen unter den Wagen und versuchten die Bretter des Fußbodens mit ihren Pfoten herauszureißen. Andere sprangen auf den Kutschersitz und drohten die vordere Thür einzustoßen, die man tüchtig verbarrikadieren mußte. Einige liefen sogar auf die obere Galerie, bogen sich bis an die Fenster herab, schlugen mit den Pfoten darauf und verschwanden erst, wenn ein Schuß sie zu Boden streckte.
Die sehr erschrockene Napoleone schrie vor Angst. Die Furcht vor Wölfen, die bei Kindern so intensiv zu sein pflegt, war hier nur allzu gerechtfertigt. Kayette, welche ihre Kaltblütigkeit bewahrt hatte, versuchte vergeblich das kleine Mädchen zu beruhigen. Man muß gestehen, daß auch Frau Cascabel dem Ausgang des Kampfes nicht sehr zuversichtlich entgegensah.
In der That, wenn das sich in die Länge zog, so wurde die Situation immer gefährlicher. Wie sollte die Belle-Roulotte dem Angriff dieser Unmasse von Wölfen standhalten?... Und wenn sie umgeworfen wurde, so war das Verderben aller jener unausbleiblich, welche darin Schutz gefunden hatten.
Die Sache dauerte schon ungefähr eine halbe Stunde, als Kirschef rief:
»Die Munition geht zu Ende!«
Einige zwanzig Patronen waren alles, was noch zum Laden der Flinten und Revolver übrig blieb.
»Schießen wir nur mehr, wo wir die Gewißheit haben zu treffen!« sagte Herr Cascabel.
Zu treffen?... Als ob inmitten dieser Masse von Angreifern nicht alle[290] Schüsse getroffen hätten! Aber die Wölfe waren zahlreicher als die Kugeln; sie erneuerten sich unaufhörlich, während die Feuerwaffen bald zum Schweigen verurteilt sein würden... Was thun?... Den Tag abwarten?... Und wenn nun der Tag die Bande nicht in die Flucht schlug?...
Da rief Herr Cascabel, indem er seinen nutzlos werdenden Revolver schwenkte:[291]
»Ich habe einen Einfall!«
»Einen Einfall?...« wiederholte Herr Sergius.
»Jawohl... und einen guten dazu!... Wir müssen nur einen oder zwei von jenen Lumpen einfangen!«
»Wie machen wir das?...« fragte Cornelia.
»Wir werden die Thür ein wenig öffnen und die zwei ersten, welche sich hereindrängen, ergreifen...«
»Das wollen Sie, Cascabel?«
»Was riskieren wir, Herr Sergius? Einige Bisse?... Pah! ich will lieber gebissen als zerrissen werden!«
»Gut!... Thun wir's, aber thun wir's schnell!« antwortete Herr Sergius, der nicht recht wußte, wo Herr Cascabel hinaus wollte.
Dieser ging, von Ortik, Clou und Kirschef gefolgt, in die erste Abteilung, während Jean und Xander die Hunde im Hintergrunde der letzten zurückhielten, wo sich auch die Frauen befanden.
Die Möbel, welche die Thür verbarrikadierten, wurden weggeräumt und Herr Cascabel öffnete dieselbe so, daß er sie schnell wieder schließen konnte.
In diesem Augenblick belagerte ein Dutzend Wölfe, auf dem Kutschersitz und den beiden Trittbrettern zusammengedrängt, die vordere Wagenwand.
Sowie die Thür nachgab, flog einer der Wölfe ins Innere und Kirschef warf dieselbe wieder ins Schloß. Herr Cascabel und Ortik stürzten sich auf das Tier und es gelang ihnen, ihm ein bereit gehaltenes Stück Leinwand über den Kopf zu werfen und fest um den Hals zu binden.
Wieder öffnete sich die Thür... Ein zweiter Wolf zwängte sich herein und erfuhr dieselbe Behandlung wie der erste. Es kostete Clou, Ortik und Kirschef keine geringe Mühe, die starken und wütenden Bestien zu halten.
»Vor allen Dingen, tötet sie nicht,« rief Herr Cascabel, »und haltet sie fest!«
Sie nicht töten?... Was wollte er denn damit machen?... Sie seiner Truppe für den Permer Jahrmarkt einverleiben?...
Was er damit wollte, was er damit that, das erfuhren seine Gefährten allsogleich.
Eine Flamme schlug in der Abteilung auf, welche von Geheul und Schmerzenslauten widerhallte. Dann wurde die Thür geöffnet und schloß sich von neuem hinter den beiden hinausgeschleuderten Wölfen.
Welch eine Wirkung ihr Erscheinen inmitten des Rudels hervorbrachte! Man konnte das um so besser wahrnehmen, als die Lichtung sich mit beweglichem Feuerschein füllte.
Die beiden Wölfe waren mit Petroleum übergossen worden, welches Herr Cascabel angezündet hatte, und in diesem Zustande rasten sie unter den Angreifern umher.[292]
Nun! er war vortrefflich, der Einfall des Herrn Cascabel, wie alles, was das Hirn dieses wunderbaren Mannes erzeugte. Die Wölfe flohen entsetzt vor den beiden flammenden Tieren. Und welch ein Geheul sie ausstießen, – viel gräßlicher als das, welches man seit dem Beginn des Angriffs vernommen hatte! Umsonst suchten die beiden Petrolierten, durch ihre Leinwandkapuze geblendet, ihren brennenden Pelz zu löschen! Umsonst wälzten sie sich[293] auf der Erde und schnellten zwischen den übrigen Raubtieren empor, sie brannten noch immer!
Endlich floh die ganze Bande, von Panik ergriffen, aus der Umgebung der Belle-Roulotte und verschwand in den Tiefen des Forstes.
Bald verhallte das Heulen und es wurde still im Lager.
Vorsichtshalber empfahl Herr Sergius, das erste Tagesdämmern abzuwarten, bevor man auf Kundschaft ausginge. Aber er und seine Gefährten hatten keinen neuen Angriff zu fürchten. Der Feind war zersprengt... Er floh unaufhaltsam.
»Ah!... Cäsar!...« rief Cornelia, in die Arme ihres Mannes eilend.
»Ah! mein Freund!...« sagte Herr Sergius.
»Ah! Vater!...« riefen die Kinder.
»Ah! Herr Direktor!...« seufzte Clou.
»Nun!... Was denn?... Was habt ihr?...« antwortete Herr Cascabel ruhig. »Wenn man nicht schlauer als solche Tiere wäre, so wäre es ja nicht der Mühe wert, ein Mensch zu sein!«
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