Fünftes Capitel.
Der erste Marschtag.

[59] Ein wenig über acht Uhr war es, als John Cort, Max Huber, Khamis und der Knabe die Richtung nach Südwesten einschlugen.

In welcher Entfernung mochte wohl der Fluß liegen, dem sie bis zu seiner Vereinigung mit dem Ubanghi zu folgen gedachten?... Keiner wußte es zu sagen. Und wenn es der war, der sich, nachdem er den Tamarindenhügel umkreist hatte, nach dem Walde zu wendete, bog dieser nicht vielleicht nach Osten zu ab, ohne den Wald zu durchströmen?... Wenn nun auch noch Hindernisse, Felsen oder Stromschnellen, sein Bett so weit sperrten, daß es unbefahrbar war, was dann?... Und andererseits: wenn diese unermeßliche Anhäufung von Bäumen keinen Pfad unter sich, keinen offenen, von Thieren durch das Dickicht gebrochenen Durchgang aufwies, wie sollten die Wanderer sich ohne Mithilfe des Eisens und des Feuers einen Weg bahnen?... Wie unsicher war es also, ob Khamis und seine Begleiter, selbst in den von großen Vierfüßlern besuchten Theilen, einen freien Erdboden, niedergetretenes Strauchwerk und schon zerrissene Lianen finden würden, so daß sie ohne zu großen Aufenthalt weiter vordringen könnten.

Llanga lief häufig, gleich einem schnellfüßigen Wiesel, weit voraus, obwohl John Cort ihn immer ermahnte, sich nicht zu entfernen. Hatte man den Knaben aber einmal aus den Augen verloren, so erschallte sofort dessen durchdringende Stimme.[59]

»Hierher!... Hierher!« rief er dann laut.

Alle Drei gingen der dadurch angedeuteten Richtung nach und folgten den Stellen, die jener schon durchbrochen und leichter passierbar gemacht hatte.

Galt es, sich in dem Labyrinthe hier zurechtzufinden, so erwies sich der Instinct des Forelopers ausnehmend nützlich. Uebrigens war es durch die Spalten zwischen den Aesten noch immer möglich, dabei den Stand der Sonne zu beobachten. Jetzt im März und zur Zeit ihrer Culmination, erreichte sie fast den Zenith, der in dieser Breitenlage den Himmelsäquator schneidet.

Die Belaubung verdichtete sich jedoch weiterhin dermaßen, daß unter den Abertausenden von Bäumen nur noch ein Halbtag herrschte. Bei bedecktem Himmel mußte es fast völlig dunkel werden, und in der Nacht war an ein weiteres Vorwärtsdringen natürlich gar nicht zu denken. Khamis beabsichtigte jedoch auch von vornherein, vom Abend bis zum Morgen Halt zu machen, für den Fall eines drohenden Regens Obdach am Fuße eines Baumes zu suchen, und ein Feuer nur so lange zu unterhalten, wie es die Zubereitung des am Vor- oder Nachmittage erlegten Wildes verlangte. Wurde der Wald auch von Nomaden nicht besucht – selbst von der, am Tage vorher nahe dem Waldrande lagernden Rotte war keine Spur mehr zu entdecken – so schien es dennoch rathsam, sich nicht durch den Schein eines Feuerherdes zu verrathen. Uebrigens genügten auch einige unter die Asche geschobene, glühende Kohlen, das Fleisch zum Essen gar zu machen, und von der Kälte war ja zu dieser Jahreszeit in Afrika nichts zu fürchten.

Die Karawane hatte auf ihrem Wege über die Ebenen der intertropischen Gegend vielmehr schon arg von der Hitze zu leiden gehabt. Die Temperatur erreichte daselbst erstaunlich hohe Grade. Unter den Bäumen hier wurden Khamis, Max Huber und John Cort davon jedenfalls weniger belästigt, sie fanden also günstigere Verhältnisse für den langen und anstrengenden Marsch, den die Umstände ihnen aufzwangen. Selbstverständlich hatte es kein Bedenken, in den von den Sonnenstrahlen des Tages her noch warmen Nächten, wenigstens bei trockenem Wetter, unter freiem Himmel zu schlafen.

Nur die Niederschläge waren in dieser, in jeder Jahreszeit regenreichen Gegend zu fürchten. Ueber der Aequinoctialzone wehen die Passatwinde, die hier, auf einander treffend, sich aufheben. Als Folge davon herrscht ebenda meist eine sehr ruhige Luft und die Wolken ergießen die in ihnen verdichteten Dünste in den furchtbarsten Platzregen. Jetzt hatte sich der Himmel jedoch bei zunehmendem[60] Monde aufgeheitert, und da der Satellit der Erde einen Einfluß auf die Witterungsgestaltung zu haben scheint, konnte man vielleicht für vierzehn Tage auf gutes, durch keinen Kampf der Elemente gestörtes Wetter rechnen.

In diesem Theile des Waldes, der in unauffälliger Neigung nach dem Ufer des Ubanghi hin abfiel, war der Erdboden nicht sumpfig. Weiter im Süden mochte das jedoch der Fall sein. Die sehr feste Erde war mit hohem, dichtem Grase bedeckt, das das Vorwärtskommen verlangsamte und erschwerte, wo es nicht von den Füßen von Thieren niedergetreten war.

»Wahrlich, begann da Max Huber, es ist doch sehr zu bedauern, daß unsere Elefanten nicht haben bis hierher gelangen können! Sie hätten hübsch die Lianen zerrissen, das Gesträuch zerstört, den Weg eingeebnet, das Dorngestrüpp zertreten...

– Jawohl, und uns dazu! fiel John Cort ein.

– Ganz sicherlich, bestätigte der Foreloper. Begnügen wir uns damit, was Rhinocerosse und Büffel gethan haben. Wo diese hindurchgekommen sind, werden wir auch nicht stecken bleiben.«

Khamis kannte ja diese Wälder Centralafrikas, da er wenigstens die des Congobeckens und die in Kamerun wiederholt durchzogen hatte. Es kann also nicht wundernehmen, daß er imstande war, über die so verschiedenen Baumarten und Gewächse, die im Walde vorkamen, Auskunft zu geben. John Cort interessierte sich sehr für das Studium der prächtigen Vertreter des Pflanzenreiches, der zahlreichen Phanerogamen im Gebiete zwischen Congo und Nil, die bereits in das Pflanzensystem eingereiht sind.

»Darunter giebt es, sagte Khamis, auch mancherlei eßbare, die geeignet sind, die Eintönigkeit unseres Speisezettels zu beseitigen.«

Ohne von den in großer Menge vorhandenen riesigen Tamarinden zu reden, erhoben hier mächtig entwickelte Mimosen und Baobabs ihre Wipfel bis hundertfünfzig Fuß in die Luft. Zwanzig bis dreißig Meter Höhe erreichten gewisse Arten aus der Familie der Euphorbiaceen mit stachlichen Zweigen, sechs bis sieben Zoll langen Blättern, die mit einer Schicht eines milchähnlichen Stoffes überzogen sind, und deren Nüsse nach erlangter völliger Reise krachend zerspringen und aus ihren sechzehn Abtheilungen den Samen nach allen Seiten hinausschleudern. Hätte Khamis nicht den Instinkt der Orientierung besessen, so würde er sich bezüglich der Himmelsrichtungen haben nach dem merkwürdigen Sylphinum lacinatum belehren können, einer Pflanze, deren Blätter sich immer[61] in der Weise drehen, daß sie die eine Fläche nach Westen, die andere nach Osten wenden.

Ein in diesem tiefen Urwalde verirrter Brasilianer hätte sich für versetzt in die jungfräulichen Wälder des Amazonenstromgebietes halten müssen. Während Max Huber über das den Boden bedeckende Zwerggebüsch wetterte, bewunderte John Cort aufrichtig den grünenden Teppich, in dem es von Phrynien und Aniomen wimmelte und worunter wohl zwanzig Arten von Farnkraut vorkamen, denen man sorglich aus dem Wege gehen mußte. Und welche Mannigfaltigkeit von Bäumen mit hartem und weichem Holze! Die zweiten vertreten – wie Stanley in seiner »Reise durch den finstern Theil Afrikas« bemerkt – die Fichte und die Weide nördlicherer Zonen. Aus ihren großen Blättern allein errichten sich die Eingebornen Hütten für die Rastzeit von einigen Tagen. Daneben enthält der Wald aber in großer Zahl Tekeichen, Acaju- und Eisenbäume, die nie verfaulenden Campechebäume, Copale von prächtigem Wuchs, weit verzweigte Mangobäume, Sykomoren, die mit den schönsten des östlichen Afrikas hätten wetteifern können, wilde Orangenbäume, ferner Feigenbäume, deren Stamm so weiß erglänzte, als ob er mit Kalkmilch bestrichen wäre, wahrhaft kolossale »Mpasus« und andere Bäume der verschiedensten Art.

Diese vielfachen Kinder des Pflanzenreiches standen auch nicht so dicht, daß sie die Entwicklung ihrer Aeste gegenseitig hätten hindern können, die anderer seits das warme und feuchte Klima außerordentlich begünstigte. Sogar die Wagen einer Karawane hätten wohl zwischen den Stämmen hindurchfahren können, wenn nicht bis fußdicke Kabel von einem zum anderen ausgespannt gewesen wären, d. h. endlose Lianenstränge, die sich wie Schlangen um die Baumschäfte wanden. Nach allen Seiten verbreitete sich eine Art Guirlandenbehang der Aeste, von dem man sich kaum eine Vorstellung machen kann, hier launenhaft verlaufende Strähne, dort ununterbrochene Laubgewinde von den Baumkronen nach dem Gesträuch darunter. Auch nicht ein Zweig, der nicht mit einem anderen irgendwie verbunden gewesen wäre! Kein Stamm ohne lange Pflanzenketten, von denen manche wie blühende Stalaktiten zur Erde herabhingen! Keine runzlige Rinde, die nicht mit dichtem, sammetweichem Moose gepolstert gewesen wäre, in dem sich Tausende von Insekten mit goldgetüpfelten Flügeln tummelten!

Und aus den geringsten Anhäufungen dieses Laubgewirres ertönte ein Concert von Zwitschern und Zirpen, von Schreien und Singen unausgesetzt vom Morgen bis zum späten Abend.[62]

Der Gesang rührte von Myriaden von Schnäbeln her, die sich in Rollertönen und Nachtigallenflöten überboten oder die das verschiedenste Pfeifen hervorbrachten, das lauter und schriller ertönte, als die Pfeife des Hochbootsmannes auf einem Kriegsschiffe. Da neben wurde man noch völlig betäubt von der geflügelten Welt der Papageien, Wiedehopfe, Eulen, Amseln, der fliegenden Eichhörnchen, Zwergpapageien und Ziegenmelker, abgesehen von den Mückenvögeln, die einem Bienenschwarm ähnlich in den oberen Zweigen summten.

Für das Geschrei sorgte eine Affengesellschaft; das bestand aus einem lärmenden Accord von Pavianen mit grauer Behaarung, von beschopften Koloben, Schimpansen, Mandrillassen und Gorillas, letztere die stärksten und gefährlichsten Affen der afrikanischen Fauna. Die Vierhänder hatten, obwohl sie in großer Zahl vorhanden waren, bisher noch keine feindlichen Absichten gegen Khamis und dessen Begleiter verrathen; offenbar waren das die ersten Menschen, die sie im Innern dieses Waldes Centralafrikas erblickten. Man durfte nämlich gern glauben, daß sich noch keine menschlichen Wesen in dieses Baumdickicht gewagt hatten. Die Affen betrachteten jene deshalb mehr mit Neugierde, als daß sie über den Anblick in Wuth geriethen. In anderen Theilen des Congogebietes und Kameruns wäre das sicherlich anders gewesen. Dort ist der Mensch schon keine seltene Erscheinung mehr. Die Elfenbeinjäger, denen sich Hunderte von Banditen, von Eingebornen oder Fremden anschließen, setzen dort die Affen nicht mehr allein in Erstaunen, denn die Thiere sind seit langer Zeit Zeugen der greulichen Verwüstungen durch jene gewesen, Zeugen ihrer Raubzüge, die schon so viele Menschenleben gekostet haben.

Nach einem ersten Halt in der Mitte des Tages wurde gegen sechs Uhr abends eine zweite Rast gemacht. Das unentwirrbare Netz von Lianen hatte die Wanderung zuweilen recht schwierig gemacht. Sie zu zerschneiden oder zu zerbrechen, erfordert allemal eine mühsame Arbeit. Immerhin fanden sich, und auch auf größere Strecken hin, mehr offene Pfade, auf denen sich jedenfalls Büffel hinzutrollen pflegten, denn einzelne von diesen, unter anderen Onjas von besonderer Größe, konnte man noch hinter entferntem Gesträuch entdecken.

Diese Wiederkäuer sind, schon infolge ihrer außerordentlichen Kräfte, gar sehr zu fürchten, und die Jäger, die sie verfolgen, müssen sich sorgsam hüten, von ihnen nicht selbst angegriffen zu werden. Das sicherste Mittel, sie zu erlegen, besteht darin, daß man ihnen zwischen den Augen eine Kugel in den Kopf jagt.[63]

John Cort und Max Huber hatten noch nie Gelegenheit gehabt, ihre Geschicklichkeit gegenüber diesen Onjas, die sich hier übrigens in gemessener Entfernung hielten, zu erproben. Da es überdies an Antilopenfleisch nicht mangelte, erschien es rathsamer, den kleinen Munitionsvorrath zu schonen. Auf diesem Zuge sollte kein Schuß fallen, wenn nicht die persönliche Vertheidigung in Frage kam, oder die täglich nothwendige Nahrung beschafft werden mußte.

Am Rande einer kleinen Waldblöße und am Fuße eines Baumes, der seine Umgebung überragte, gab Khamis das Zeichen, Halt zu machen. Sechs Meter über dem Erdboden begann die in's Graue spielende grüne Belaubung des Baumes, den zahllose, mit weißem Flaume überzogene Blüthen schmückten, von denen viele, Schneeflocken ähnlich, rings um den Stamm mit seiner silberhellen Rinde herunterfielen. Es war ein afrikanischer Baumwollbaum, dessen Wurzeln die Gestalt von Stützpfeilern haben, unter denen man bequem Platz findet.

»Da ist ja das Bett schon gemacht! rief Max Huber heiter. Es hat zwar keine elastische Unterlage, doch eine Baumwollmatratze, die wir mit Vergnügen einweihen werden!«

Mittels Stein und Schwamm, wovon Khamis genügenden Vorrath bei sich führte, wurde nun ein Feuer entzündet. Die Mahlzeit nachher glich freilich ganz der ersten am frühen Morgen und der zweiten gegen Mittag. Leider – man mußte sich eben wohl oder übel damit abfinden – fehlte es gänzlich an Zwieback, der während des früheren Zuges das Brod ersetzt hatte. Man begnügte sich also mit dem gebratenen Fleisch, von dem genug vorhanden war, auch den schlimmsten Hunger zu stillen.

Nach beendeter Mahlzeit und bevor sich alle unter den Wurzeln des Baumwollbaumes ausstreckten, sagte John Cort zu dem Foreloper:

»Wenn ich nicht irre, sind wir immer in südwestlicher Richtung hingewandert...

– Ja, immer, antwortete Khamis; jedesmal, wenn ich die Sonne erblicken konnte, habe ich mich vergewissert, daß wir nicht davon abwichen.

– Wieviel Lieues haben wir Ihrer Ansicht nach heute wohl zurückgelegt?

– Vier bis fünf, Herr John, und wenn wir diese Tagesleistung einhalten, werden wir in einem Monate das Ufer des Ubanghi erreicht haben.

– Das klingt recht tröstlich, meinte John Cort, doch ist es nicht rathsam, dabei auch mit besonderen Schwierigkeiten zu rechnen?

– Doch auch mit dem Gegentheile, fiel Max Huber ein. Wer weiß denn, ob wir nicht auf einen Wasserlauf treffen, der uns mühelos fortträgt?[64]

– Bis jetzt scheint das nicht gerade so, lieber Max.

– Ja freilich, doch nur, weil wir noch nicht weit genug nach Westen vorgedrungen sind, äußerte sich Khamis, und es sollte mich sehr wundern, wenn morgen oder übermorgen...

– Verfahren wir lieber so, als ob wir an keinen Fluß kämen, erwiderte John Cort. Eine Reise von dreißig Tagen, vorzüglich wenn die damit verbundenen Schwierigkeiten nicht größer sind als die, die uns heute begegneten, eine solche Reise kann doch afrikanische Jäger wie uns nicht erschrecken.


Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. (S. 69.)
Da legte sich eine Hand auf seine Schulter. (S. 69.)

– Und obendrein, setzte Max Huber hinzu, fürchte ich, daß dieser geheimnißvolle Wald schließlich gar kein Geheimniß enthält.

– Desto besser, Max!

– Nein, desto schlimmer, John!... Komm aber nun, Llanga, Du mußt endlich schlafen.

– Ach ja, lieber Freund Max,« antwortete das Kind, dem schon die Augen zufielen, denn auf dem langen Wege war es niemals zurückgeblieben.

Llanga mußte sogar schon nach den Wurzeln des Baumes getragen werden, wo er im bequemsten Winkel niedergelegt wurde.

Der Foreloper hatte sich wieder erboten, die ganze Nacht zu wachen, die anderen wollten das aber nicht zulassen. Man einigte sich auch dahin, einander nach je drei Stunden abzulösen, obwohl sich in der Umgebung der Waldblöße nichts verdächtiges wahrnehmen ließ. Die einfache Klugheit verlangte aber doch, bis zum Tagesanbruch auf der Wacht zu bleiben.

Max Huber übernahm die erste Wache, während sich John Cort und Khamis auf dem weißen Flaum am Fuße des Baumes ausstreckten.

Das geladene Gewehr bequem zur Hand, lehnte sich der Franzose gegen eine der Wurzeln und überließ sich willig dem eigenen Reize der Nacht. Im Innern des großen Waldes herrschte jetzt völliges Schweigen. Durch die Zweige strich nur ein leiser Hauch, wie der Athem der eingeschlummerten Bäume. Die Strahlen des hoch am Himmel stehenden Mondes glitten durch die Lücken im Laubwerk und zauberten launenhafte, silberne Lichtbilder auf den Erdboden. Auch jenseits der Blöße schimmerte es da und dort heller unter den Baumkronen.

Sehr empfänglich für die Poesie der Natur, genoß Max Huber diese in vollen Zügen, er athmete sie sozusagen ein, glaubte zuweilen zu träumen und schlief doch nicht. Ihm erschien es, als sei er das einzige lebende Wesen im Schoße dieser Pflanzenwelt.[67]

Der ganzen Pflanzenwelt, denn als diese gaukelte ihm seine Phantasie den Wald von Ubanghi vor.

»Und wenn man die letzten Geheimnisse der Erdkugel entschleiern will – so dachte er – muß man denn dazu bis zu den Enden ihrer Achse hinausgehen, um deren Geheimnisse zu entdecken?... Warum bemühen sich die Menschen, um den Preis ungeheuerer und so gut wie unüberwindlicher Schwierigkeiten, nach den beiden Polen vorzudringen?... Was kann damit erreicht werden?... Die Lösung einiger Räthsel der Meteorologie, der Elektricität und des Erdmagnetismus!... Ist das werthvoll genug, die Nekrologe der hochnördlichen und tiefsüdlichen Gebiete mit so vielen neuen Namen zu vergrößern?... Wäre es nicht weit nützlicher und mehr versprechend, statt sich auf die arktischen und antarktischen Meere zu wagen, die unermeßlichen Gebiete dieser Wälder zu durchforschen und ihre wilde Undurchdringlichkeit zu besiegen? Es giebt ja deren mehrere in Amerika, Asien und Afrika, und kein Forscher hat noch den Gedanken gehabt, sie zum Felde seiner Entdeckungen zu wählen, keiner hat noch den Muth gezeigt, sich in das Unbekannte hinein zu wagen!... Noch hat kein Mensch den Bäumen ihr Räthselwort entrissen, wie früher die Alten den Eichen von Dodona. Hatten die Mythologen denn nicht recht, ihre Wälder mit Faunen, Satyren, Dryaden, Hamadryaden und phantastischen Nymphen zu bevölkern?... Und überdies, um uns auf die Erhebungen der modernen Wissenschaften zu beschränken, kann man nicht vermuthen, daß in den ungeheueren Waldmassen auch unbekannte, den hier herrschenden Lebensbedingungen angepaßte Wesen vorkommen?... Zur Zeit der Druiden beherbergte ja auch das transalpine Gallien noch halbwilde Völkerschaften, wie die Kelten, die Germanen, die Ligurier und in hunderten von Stämmen, hunderten von Städten und Dörfern, die ihre besonderen Gebräuche, ihre eigenen Sitten, ihre angeerbte Originalität bewahrt hatten, auch hier im Innern von Wäldern, deren Grenzen selbst die römische Allmacht nur mit größter Schwierigkeit überschreiten konnte.«

So träumte Max Huber.

Unverbürgten Mittheilungen nach bargen ja auch die Gebiete von Aequatorialafrika gewisse, unter der Stufe der übrigen Menschheit stehende, halb fabelhafte Wesen. Gerade der Wald von Ubanghi grenzte im Osten an die Gegenden, die Schweinfurth und Junker erforscht hatten, an die Länder der Niam-Niam, jener geschwänzten Menschen, die in Wirklichkeit freilich keinen äußerlichen Schwanzfortsatz haben. (Hierzu diene zur Erläuterung, daß die menschliche[68] Wirbelsäule unten mit mehreren freier beweglichen, anatomisch als »Schwanzfortsatz« bezeichneten, kleinen Knochen endigt.) Ferner hat Henry Stanley im Norden von Ituri kaum einen Meter hohe Pygmäen gefunden, die im übrigen vollkommen gut entwickelt waren, eine glänzende, seine Haut und große Augen wie Gazellen hatten, und deren Vorkommen zwischen Uganda und Cabinda auch der englische Missionär Albert Lhyd bestätigt hat mit der Angabe, daß dort im Astwerk der Bäume oder unter diesen über zehntausend Bambustis hausen, die einen Häuptling haben, dem sie unweigerlich folgen. In den Wäldern von Neduqurbocha war derselbe, von Ipoto aus, durch fünf Dörfer gekommen, die deren liliputanische Einwohner erst am Tage vorher verlassen hatten. Ebenso war er Uambuttis, Batinas, Akkas und Bazungus begegnet, die durchschnittlich nur hundertdreißig Centimeter, manche davon gar nur zweiundneunzig Centimeter groß waren und deren Körpergewicht noch nicht einmal vierzig Kilogramm erreichte. Dennoch erwiesen sich diese Zwergvölker nicht minder intelligent, in ihrem Sinne gewerbfleißig, doch auch kriegslustig und grausam, so daß sie von den Ackerbau treibenden Stämmen am obern Nil nicht wenig gefürchtet wurden.

Verführt durch seine lebhafte Einbildungskraft, seinem Hange nach allerlei Außerordentlichem, verharrte Max Huber bei der Vorstellung, daß auch der Wald von Ubanghi seltsame Menschenformen bergen müsse, die die Ethnographen bisher noch nicht kannten. Warum könnte es hier auch nicht wunderbare, menschliche Wesen geben, vielleicht nur mit einem Auge, wie die Cyklopen der Sage, oder mit einer rüsselförmig verlängerten Nase, die es erlaubt hätte, sie, wenn auch nicht zu der Ordnung der Pachydermen, doch zu der Familie der Proboscidier zu rechnen?

Unter dem Einflusse seiner wissenschaftlich-phantastischen Träumereien vergaß Max Huber freilich ziemlich ganz seine Pflichten als Wächter. Leicht hätte sich hier ein Feind heranschleichen können, ohne daß Khamis und John Cort zeitig genug davon erfahren hätten, sich zur Vertheidigung zu rüsten.

Da legte sich eine Hand auf seine Schulter.

»Ho! – Was ist das? rief er aufspringend.

– Ich bin es, ertönte die Stimme John Cort's. Sieh mich nur nicht für einen Wilden von Ubanghi an... Nun... nichts verdächtiges bemerkt?

– Gar nichts.

– Es ist Zeit, daß Du Dich nun niederlegst, lieber Max.[69]

– Ja, ja; es sollte mich aber sehr wundern, wenn die Träume, die mir vielleicht im Schlafe kommen, den Vergleich mit denen aushielten, die ich im Wachen gehabt habe!«

Der erste Theil dieser Nacht war ohne jede Störung verlaufen, und so verlief auch deren Rest, als John Cort an die Stelle Max Huber's getreten war und als Khamis nach drei Stunden wieder John Cort abgelöst hatte.

Quelle:
Jules Verne: Das Dorf in den Lüften. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXIX, Wien, Pest, Leipzig 1902, S. 59-65,67-70.
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