Drittes Capitel.
Ein Huronen-Notar.

[44] Es hatte sehr triftige Gründe gehabt, daß der General-Gouverneur, Sir John Gosford, der Polizeiminister und der Oberst Gore im Palaste zu Quebec verhandelten, um die Maßregeln zu berathen, welche am geeignetsten schienen,[44] die Schliche der Patrioten aufzudecken und unwirksam zu machen, denn es lag auf der Hand, daß in kurzer Zeit eine Empörung der Bevölkerung französisch-canadischen Blutes ausbrechen würde.

Wenn aber Lord Gosford und seine Umgebung sich mit vollem Recht beunruhigt fühlten, schien das nicht der Fall zu sein mit einem jüngeren Manne, der am Morgen des 3. September in der Expedition des Herrn Nick, am Markte Bon-Secours in Montreal, mit einer Schreiberei beschäftigt war.

»Schreiberei« ist vielleicht nicht das richtige Wort, welches die fesselnde Arbeit verdiente, der sich der zweite Schreiber Lionel Restigouche in diesem Augenblick – gegen 9 Uhr morgens – hingab. Eine Reihenfolge ungleich langer Linien mit seinen Schriftzügen entstand da auf einem schönen Bogen bläulichen Papiers, das mit dem meist groben Actenpapier gar keine Aehnlichkeit zeigte. Zuweilen, wenn Lionel die Hand still hielt, um einen unklaren Gedanken erst zu überdenken, blickten seine Augen fast ziellos durch das halboffene Fenster und irrten dann nach dem auf dem Jacques Cartier-Platze zu Ehren des Admiral Nelson errichteten Denkmal. Dann belebte sich sein Auge, die Stirn erheiterte sich und die Feder eilte wieder weiter, während er den Kopf leise hin- und herwiegte, als schlüge er damit den Tact unter dem Einflusse eines regelmäßigen Rhythmus.

Lionel zählte kaum siebzehn Jahre. Sein fast weibliches Gesicht von ganz französischem Typus erschien recht hübsch; die blonden Haare waren vielleicht etwas lang, die blauen Augen erinnerten aber lebhaft an die Farbe der canadischen Seen. Hatte er keinen Vater und keine Mutter mehr, so ersetzte ihm der Notar Nick sozusagen Beide, denn er liebte den jungen Mann, als wäre er sein leiblicher Sohn.

Lionel befand sich allein in der Expedition; zu dieser Stunde kam Niemand, weder einer der Schreiber, welche meist noch einige Geschäftswege zu besorgen hatten, noch auch ein Client, obwohl das Bureau des Herrn Nick eines der besuchtesten der Stadt war. Lionel glaubte sich völlig sicher, jetzt nicht gestört zu werden, und benutzte fleißig diese Muße, bis er endlich seinen Namen mit einem wundervollen Schnörkel unter die letzte Zeile der Seite gesetzt hatte, als er sich plötzlich rufen hörte:

»Ah, was machst Du denn da, mein Junge?«

Es war Herr Nick, dessen Eintritt der junge Schreiber ganz überhört hatte, da ihn seine Contrebande-Arbeit völlig in Anspruch nahm.[45]

Lionels erste Bewegungen gingen dahin, einen Schubkasten zu öffnen, um das fragliche Papier darin verschwinden zu lassen. Der Notar hatte aber mit raschem Griffe das Schriftstück gefaßt, trotz des jungen Mannes, der dasselbe vergeblich wieder zu erlangen suchte.

»Was ist denn das, Lionel? Ein Entwurf... Eine Abschrift... Die Copie einer Urkunde?...

– Herr Nick, Sie dürfen mir glauben...«

Der Notar hatte die Brille aufgesetzt und mit Stirnrunzeln las er höchst erstaunt die beschriebene Seite.

»Was sehe ich denn da? rief er. Verschieden lange Linien!... Weiße Stellen auf der einen, weiße Stellen auf der anderen Seite. Wie viel Tinte ist hier verloren gegangen, wie viel seines Papier durch unnütze Ränder verschwendet worden!

– Herr Nick, antwortete Lionel bis zu den Ohren erröthend, das ist... rein aus Zufall... so gekommen.

– Was ist Dir aus Zufall gekommen?

– Verse...

– Verse!... Du ergehst Dich in Versen?... Alle Wetter, genügt Dir denn die ehrliche Prosa nicht mehr, eine Urkunde aufzusetzen?

– Es handelt sich hier nicht um eine Urkunde, wenn Sie erlauben, Herr Nick.

– Um was handelt es sich denn?

– Um ein Gedicht, welches ich für einen Wettbewerb in der »Freundes-Lyra« gemacht habe.

– Die Freundes-Lyra! rief der Notar. Bildest Du Dir vielleicht ein, ich hätte Dich in meine Expedition aufgenommen, um Dich als Mitbewerber in der Freundes-Lyra oder irgend einer anderen parnassischen Gesellschaft auftreten zu lassen? Hab' ich Dich deshalb zu meinem zweiten Schreiber erhoben, damit Du Dich Deiner verseschmiedenden Hitze hingeben solltest? Da könntest Du ja Deine Zeit ebenso gut verbringen, auf dem St. Lorenzo herumzugondeln oder als Stutzer in den Alleen von Montreal oder im St. Helenen-Parke einherzustolzieren! Wahrhaftig ein Poet im Notariat!... Der Kopf eines Schreibers in einer Weihrauchwolke!... Damit könnte man seine Kundenschon in die Flucht jagen.

– Zürnen Sie nicht, Herr Notar, antwortete Lionel bittenden Tones. Wenn Sie nur wüßten, wie vortrefflich sich unsere melodiöse französische Sprache zur[46] Poesie eignet! Sie bietet sich fast von allein an für jeden Rhythmus, jede Cadenz und den schönsten Wohlklang!... Unsere Dichter Lemay, Elzéar Labelle, François Mons, Chapemann, Octave Crémazie...

– Herr Crémazie, Chapemann, Mons, Labelle, Lemay versehen auch, so viel ich weiß, nicht die wichtigen Functionen eines zweiten Schreibers. Sie werden nicht, von Tisch und Wohnung ganz zu schweigen, mit sechs Piastern monatlich bezahlt, setzte Herr Nick hinzu. Sie haben keine Kaufcontracte, keine Testamente aufzusetzen und können also leicht nach Belieben pindarisiren.

– Herr Nick... nur ein einziges Mal...

– Schon gut, es mag ja sein... Du hast ein einziges Mal Laureat in der Freundes-Lyra werden wollen?

– Ja, Herr Nick, ich hatte diese thörichte Anmaßung.

– Und könnte ich erfahren, was Dein Gedicht eigentlich behandelt?... Gewiß eine dithyrambische Anrufung der Tabellionoppe, der Muse des vollkommenen Notars?

– O! stieß Lionel mit einer abwehrenden Handbewegung hervor.

– Nun also, wie betitelt es sich denn, Dein Reimgeklingel?

– »Das Irrlicht!«

– Das Irrlicht, rief Herr Nick; was, Du singst Irrlichter an?«

Der Notar schwebte schon in Gefahr, sich mit Poltergeistern, Elfen, Dämonen, mit Kobolden, Wassernixen, Asen, Gnomen und allen poetischen Gestalten der skandinavischen Mythologie umherschlagen zu müssen, als der Briefträger an der Thür klopfte und auch schon auf der Schwelle erschien.

»Ah, Sie sind es, guter Freund, sagte Herr Nick, ich hätte Sie bald für ein Irrlicht gehalten.


Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit. (S. 48.)
Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit. (S. 48.)

– Für ein Irrlicht, Herr Notar? antwortete der Briefträger. Sehe ich denn etwa aus wie...

– Nein!... Nein!... Sie sehen ganz aus wie ein Postbote, der mir einen Brief bringt.

– Hier ist er, Herr Notar.

– Ich danke, guter Freund.«

Der Briefträger zog sich in demselben Augenblicke zurück, wo der Notar nach einem Blick auf die Adresse das Schreiben hastig erbrach.

Lionel konnte jetzt sein Papier zurücknehmen und steckte es in die Tasche.[47]

Herr Nick las den Brief mit größter Aufmerksamkeit und drehte dann das Couvert noch einmal um, um den Stempel und das Datum nachzusehen. Der Umschlag trug den Stempel des Postamtes von Saint Charles, einem kleinen Flecken in der Grafschaft Verchères, und das Datum des 2. September, also des Vortages. Nachdem er wenige Augenblicke überlegt, kam der Notar auf seine Brandrede gegen die Dichter wieder zurück.

»Ah, Du huldigst den Musen, Lionel... Nun, zur Strafe wirst Du mich nach Leval begleiten und wirst unterwegs genügende Zeit haben, weitere Verse zu drechseln.[48]

– Drechseln, Herr Notar...

– Wir müssen binnen einer Stunde aufgebrochen sein, und wenn wir draußen auf dem Lande etwa Irrlichtern begegnen, so wirst Du denselben Dein Compliment machen.«

Hiermit begab sich der Notar in sein Cabinet, während Lionel sich zu dem kleinen Ausfluge vorbereitete, der ihm übrigens gar nicht mißfiel.


Einer der unzähligen Vettern des Meister Nick war Chef der Rothhäute. (S. 50.)
Einer der unzähligen Vettern des Meister Nick war Chef der Rothhäute. (S. 50.)

Vielleicht gelang es ihm dabei, seinen Herrn Principal auf wohlwollende Gedanken gegen die Poesie im Allgemeinen und auf die Schooßkinder Apollo's zu bringen, selbst[49] wenn diese Schreiber bei einem Notar waren. Im Grunde war dieser Herr Nick ein vortrefflicher Mann und hochgeschätzt wegen der Sicherheit seines Urtheils und der Verläßlichkeit seiner Rathschläge. Er zählte jetzt fünfzig Jahre. Seine einnehmenden Züge, das breite, meist strahlende Gesicht zwischen dem Wellenrahmen lockigen, früher sehr schwarzen, jetzt etwas mit Grau durchsetzten Haares, seine lebhaften freundlichen Augen, der Mund mit ausgezeichneten Zähnen, die lächelnden Lippen, das liebenswürdige Benehmen, endlich seine gute und als solche ansteckende Laune – alles das zusammen machte ihn zu einer allgemein beliebten Persönlichkeit. Als besondere Kennzeichen erwähnen wir die etwas düstre, ins Röthliche spielende Hautfarbe des Herrn Nick, welche die Vermuthung nahe legte, daß ein Theil Indianerblut in seinen Adern rollen möchte.

Das war wirklich der Fall und der Notar machte auch gar kein Hehl daraus. Er entstammte den ältesten Völkerschaften des Landes – denen, die hier ansäßig waren, ehe noch Europäer den Ocean überschritten hatten, um das Land einzunehmen. Jener Zeit wurden zwischen Abkömmlingen der französischen und solchen der eingeborenen Race viele Ehen geschlossen. Die St. Eastin, die Enaud, die Népifigny, die Entremont und Andere wurden zu Stammvätern neuer Geschlechter und stiegen sogar zu Häuptlingen wilder Stämme empor.

Herr Nick war durch seine Vorfahren also Hurone, d.h. er stammte aus einer der vier großen Familien des indianischen Zweiges ab. Obwohl er den Namen Nicolas Sagamore zu führen berechtigt gewesen wäre, nannte man ihn doch nur einfach Herr oder auch Meister Nick – er gab sich damit zufrieden und machte keine höheren Ansprüche.

Es war übrigens bekannt, daß seine Race keineswegs erloschen war. In der That herrschte einer seiner unzähligen Vettern als Häuptling der Rothhäute über eine der Huronensippen, welche sich meist im Norden der Grafschaft Laprairie, westlich des Districts von Montreal, aufhielt.

Man braucht sich nicht im Geringsten zu verwundern, daß solche Eigenthümlichkeiten noch immer in Canada angetroffen werden. Quebec hatte erst unlängst einen ehrenwerthen Amtsschreiber, der seiner Herkunft nach berechtigt gewesen wäre, den Tomahawk zu schwingen und den Kriegsschrei an der Spitze einer Irokesentruppe auszustoßen. Zum Glück gehörte Meister Nick nicht zu jenem Stamme treuloser Indianer, welche sich meist mit den Unterdrückern verbanden. Er hätte das gewiß auch sorgsam verhehlt. Nein, er als Sprößling der Huronen, welche mit den französischen Canadiern fast stets Freundschaft hielten,[50] hatte keine Ursache zu erröthen. Auch Lionel war stolz auf seinen Brotherrn, als unzweifelhaften Sprossen der großen Häuptlinge Amerikas, und er sehnte nur die Gelegenheit herbei, deren hohe Thaten in seinen Versen zu preisen.

In Montreal hatte Herr Nick fortwährend eine kluge Neutralität zwischen den beiden politischen Parteien bewahrt, da er ja weder französischer Canadier, noch Anglo-Amerikaner war. So schätzten ihn Alle, Alle holten sich bei ihm Rath, mit dem er nicht knauserisch feilschte. Man hätte fast glauben können, daß die angeerbten Instincte in ihm einer Veränderung unterlegen waren, denn bisher hatte er niemals etwas von den kriegerischen Neigungen seiner Race in sich aufkeimen gespürt. Er war eben nur Notar – ein vollkommener, gefälliger und gerne Frieden stiftender Notar. Uebrigens schien er nie das Verlangen empfunden zu haben, den Namen der Sagamores fortzupflanzen, denn er hatte sich bisher kein Weib erwählt, noch dachte er je an einen solchen Schritt.

Wie erwähnt, machte Herr Nick sich fertig, die Expedition in Begleitung seines zweiten Schreibers zu verlassen. Es handelte sich nur um einen Ausflug von wenigen Stunden, und seine alte Haushälterin Dolly sollte ihn zum Mittagessen erwarten.

Die Stadt Montreal ist auf der Südküste einer der Inseln des St. Lorenzo erbaut. Diese zehn bis elf Lieues lange und fünf bis sechs Lieues breite Insel nimmt einen ziemlich großen Raum in einer Ausweitung des Stromes, ein wenig thalaufwärts von der Einmündung des Ottawaflusses ein. Hier war es, wo Jacques Cartier das Indianerdorf Hochelaga entdeckte, welches 1646 durch den König von Frankreich der Congregation des heiligen Sulpiz eingeräumt wurde. Die Stadt, die ihren Namen von dem Mont-Royal, der sie beherrscht, herleitet, zählte, dank ihrer der Entwicklung des Handels sehr günstigen Lage, bereits im Jahre 1760 sechstausend Einwohner. Sie dehnt sich am Fuße des malerischen Hügels aus, aus dem man einen prächtigen Park geschaffen hat, welcher mit einem anderen auf dem Eilande St. Helena gelegenen Parke den Vorzug theilt, die größte Menge von Spaziergängern aus Montreal anzulocken. Eine schöne, drei Kilometer lange – 1837 aber noch nicht vorhandene – Röhrenbrücke verbindet die Stadt mit dem rechten Stromufer.

Montreal ist eine große Stadt geworden und zeigt einen moderneren Anstrich als Quebec, wodurch es gleichzeitig an malerischem Reiz einbüßen mußte. Eines Besuches werth sind daselbst entschieden die beiden Hauptkirchen, die amerikanische wie die katholische, ferner die Bank, die Börse, das allgemeine[51] Krankenhaus, das Theater, das Kloster Notre-Dame, die protestantische Universität Mac Gill's und das Seminar des heiligen Sulpiz. Die Stadt ist nicht zu groß für die hundertvierzigtausend Einwohner, welche sie augenblicklich zählt und unter denen das amerikanische Element auch heute nur den dritten Theil bildet – immerhin ein Verhältniß, welches das in anderen canadischen Städten noch übertrifft.

Im Westen erhebt sich das englische oder vielmehr schottische Quartier, welches die alten Bewohner des Landes »Die kleinen Röckchen« zu nennen pflegten, im Osten das französische. Die beiden Racen vermischten sich um so weniger, weil Alles, was mit Handel, Gewerbe oder Bankwesen zusammenhing – mindestens gegen das Jahr 1837 – einzig in den Händen von Banquiers, Gewerbetreibenden und Kaufleuten englischen Ursprungs vereinigt war.

Die herrliche Wasserstraße des St. Lorenzo trägt wesentlich bei zur Blüthe dieser Stadt, da sie diese nicht nur mit den Grafschaften von Canada, sondern auch mit Europa in Verbindung setzt, ohne daß in New-York eine Umladung zu Gunsten der Frachtschiffe der Alten Welt nothwendig wäre.

Nach dem Beispiele der reichen Handelsherren Londons trennen auch die Montreals gerne die Familienwohnung von dem Geschäftshause. Nach dem Schlusse des letzteren begeben sie sich nach den nördlichen Stadttheilen, nach den Abhängen des Mont-Royal oder der kreisförmigen Allee, welche seinen Fuß umrahmt. Hier erheben sich Privatgebäude, die zuweilen das Aussehen von Palästen haben, neben in lauschigem Grün versteckten Villen. Außerhalb dieser wohlhabenden Quartiere sind die Irländer sozusagen in ihren Ghetto der St. Anna, an der Mündung des Canals von Lachine, am linken Ufer des St. Lorenzo eingezwängt.

Herr Nick besaß recht ansehnliches Vermögen. Wie es die Vornehmen der Handelswelt thun, hätte auch er sich leicht wohl jeden Abend in eine der aristokratischen Wohnungen der oberen Stadt unter dem dichten Schatten von St. Antoine zurückziehen können. Er gehörte aber zu den Notaren alten Schlages, deren Horizont mit den Mauern ihrer Schreibstube zusammenfällt, und welche ihren Namen ganz besonders rechtfertigen, da sie Tag und Nacht Contracte, Urkunden und ihnen anvertraute Familienpapiere überwachen. Der Nachkomme der Sagamores wohnte also in seinem alten Hause des Marktplatzes Bon-Secours. Aus diesem trat er auch am Morgen des 3. September in Begleitung seines zweiten Schreibers, um den Wagen zu benützen, der regelmäßig den Dienst zwischen[52] der Insel Montreal und der Insel Jesus versieht, welche beide durch einen Mittelarm des St. Lorenzo getrennt sind.

Vorher begab Herr Nick sich nach dem Bankgebäude, wobei er breite, mit reichen Magazinen ausgestattete und von der Stadtverwaltung Montreals sorgsam gepflegte Straßen durchschritt. Vor dem Hotel der Bank angelangt, beorderte er Lionel, im Vorraume desselben zu warten, begab sich nach der Hauptcasse, kam nach Verlauf einer Viertelstunde wieder heraus und wendete sich nun nach dem Bureau des öffentlichen Fuhrwesens.

Der betreffende Wagen war eines jener mit einem Zweigespann ausgerüsteten Gefährte, welche man in canadischer Sprache »Buggies« nannte. Diese Art Wurstwagen mit vielleicht weichen, jedenfalls haltbaren Federn, sind darauf eingerichtet, die sehr harten Landstraßen ohne Schaden auszuhalten. Sie können etwa ein halbes Dutzend Fahrgäste aufnehmen.

»Ah, da ist ja unser Herr Nick! rief der Kutscher, als er von ferne den Notar bemerkte, der immer und überall mit dieser halb vertraulichen Anrede begrüßt wurde.

– In eigener Person und in Begleitung meines Schreibers, antwortete Nick in dem ihm geläufigen gutmüthigen Tone.

– Sie befinden sich doch wohl, Herr Nick?

– Gewiß, Tom. Achtet nur darauf, Euch ebenso wohl zu befinden wie ich. Richtet Euch nicht durch Arzneimittelchen zu Grunde!...

– Und auch nicht durch Aerzte, setzte Tom hinzu.

– Wann fahren wir ab? fragte Herr Nick.

– Sogleich.

– Haben wir noch Gesellschaft im Wagen?

– Bis jetzt nicht, erwiderte Tom, vielleicht aber kommt noch Jemand im letzten Augenblick.

– Ich wünschte es... Ja, ich wünschte es, Tom! Ich plaudere gerne ein wenig unterwegs, und habe die Bemerkung gemacht, daß man, um plaudern zu können, nicht allein sein darf.«

Aller Wahrscheinlichkeit nach sollte dieser so naiv ausgedrückte Wunsch des Herrn Nick aber unerfüllt bleiben. Die Pferde waren schon angespannt. Tom klatschte laut mit seiner Peitsche, doch kein Fahrgast fand sich im Bureau ein.

Der Notar nahm also im Wagen auf der hinteren Bank Platz und Lionel setzte sich schnell neben ihn. Einen letzten Blick warf Tom nach beiden Richtungen[53] der Straße hin, dann bestieg er seinen Sitz, ergriff die Zügel, pfiff seinen Thieren, und die rasselnde Maschine kam in Bewegung gerade zur Zeit, als einige Vorübergehende, welche Nick kannten – und wer kannte den vortrefflichen Mann auch nicht! – ihm noch glückliche Reise wünschten, was er durch eine dankende Handbewegung erwiderte.

Der Wagen klomm nach den oberen Stadttheilen hinan in der Richtung nach dem Mont-Royal; der Notar schaute ebenso aufmerksam wie der Rosselenker nach rechts und nach links hinaus, wenn beide auch verschiedene Gründe dafür hatten. Es schien aber, als ob gerade an diesem Morgen kein Mensch das Bedürfniß habe, sich nach dem Norden der Insel befördern zu lassen, noch Herrn Nick gesprächsweise Antwort zu geben. Nein, nicht ein einziger Gesellschafter, und doch hatte der Wagen bereits die Ringpromenade erreicht, welche zu dieser Tageszeit noch menschenleer zu sein pflegte, und bewegte sich unter mäßigem Trabe seines Gespanns längs derselben weiter.

Da rannte ein Individuum auf den Wagen zu und machte dem Kutscher Zeichen, die Pferde anzuhalten.

»Habt Ihr noch einen Platz? fragte er.

– Einen und auch »dree«, antwortete Tom, der seiner Gewohnheit nach diese Silbe nach canadischer Mundart aussprach, wie der gewöhnliche Mann für zwei bei uns »zwee« sagt.

Der Reisende nahm auf der Bank vor Lionel Platz, nachdem er Herrn Nick und dessen Schreiber gegrüßt hatte. Der Wagen rollte in langsamem Trabe weiter, und wenige Minuten später bei der Straßenbiegung am Mont-Royal verschwanden die mit Weißblech bedeckten Dächer der Stadt, welche in der Sonne wie ebenso viele silberne Spiegel erglänzten.

Der Notar hatte den neuen Ankömmling nicht ohne innere Befriedigung einsteigen sehen; so konnte man während der vier Lieues, welche Montreal vom oberen Arme des St. Lorenzo trennen, doch ein wenig plaudern. Es schien aber nicht, daß der Fahrgast in der Stimmung sei, sich in ein solches Gelegenheitsgespräch verwickeln zu lassen. Nachdem er sich Herrn Nick und Lionel kurz betrachtet, machte er es sich in seiner Ecke bequem und schien mit halb geschlossenen Augen seinen eigenen Gedanken nachhängen zu wollen.

Es war ein junger Mann von kaum neunundzwanzig Jahren. Der hohe Wuchs, die energischen Züge, der kräftige Körperbau, der männliche Ausdruck des Gesichtes mit der hohen Stirne und schwarzen Haaren darüber, stempelten[54] ihn zum vollständigen Typus der franco-canadischen Race. Wer er war, woher er komme – das wußte Meister Nick, der doch fast alle Welt kannte, nicht; jedenfalls hatte er ihn noch niemals gesehen. Betrachtete er den jungen Mann jedoch mit mehr Aufmerksamkeit, so schien es, daß derselbe trotz seiner jungen Jahre wohl schon manche harte Prüfung bestanden und sich durch die Schule des Unglücks hindurchgerungen habe.

Daß der Unbekannte der Partei angehörte, welche für die nationale Unabhängigkeit kämpfte, zeigte sich schon an seiner Kleidung. Er trug sich beinahe wie jene unerschrockenen Abenteurer, welche man noch jetzt mit dem Namen »Waldläufer« bezeichnet; den Kopf bedeckte eine blaue »Tuque«, und seine Kleider – eine Art über der Brust sich kreuzender Mantel, Beinkleider von grobem grauen Gewebe und an der Taille durch einen rothen Gürtel gehalten – bestanden einzig aus »Stoffen des Landes«.

Man erinnere sich hierbei, daß diese einheimischen Stoffe einem politischen Proteste gleichkamen, welcher die aus England eingeführten Manufacturwaaren ausschloß. Es war das einer der tausend Kniffe, um der Autorität der Hauptstadt zu trotzen, und dieses Beispiel war schon vor längerer Zeit einmal gegeben gewesen.

Hundertfünfzig Jahre früher hatten die Bostoner ja aus Haß gegen Großbritannien den Genuß des Thees in die Acht erklärt. Und so wie damals sich nur die Loyalisten nicht daran kehrten, so versagten sich jetzt die Canadier die Benutzung der im Vereinigten Königreich hergestellten Stoffe. Herr Nick in seiner Eigenschaft als Neutraler trug freilich Beinkleider von canadischer und einen Ueberrock von englischer Herkunft. In das patriotische Costüm Lionels hatte sich indeß kein Fädchen verirrt, das jenseits des Atlantischen Oceans gesponnen gewesen wäre.

Das Gefährt rollte indessen ziemlich schnell über die holprigen Wege der Ebenen, welche die Insel Montreal bis zum Mittellaufe des St. Lorenzo einnehmen. Wie schlich die Zeit langsam hin für Herrn Nick mit seiner plauderseligen Natur! Da der junge Mann aber nicht geneigt schien, das Wort zu ergreifen, mußte er sich schon auf Lionel beschränken, und that das in der Hoffnung, daß ihr Reisegefährte sich schon zuletzt in das Gespräch mischen werde.

»Nun also, Lionel, Dein Irrlicht? fragte er.

– Mein Irrlicht?... antwortete der junge Schreiber betroffen.

– Ja, ich sehe mir die Augen müde, kann aber auf der ganzen Ebene keines entdecken.


Tom klaschte laut mit seiner Peitsche. (S. 53.)
Tom klaschte laut mit seiner Peitsche. (S. 53.)


[55] – Das liegt an der Helligkeit des Tages, Herr Nick, erklärte Lionel, entschlossen auf diesen scherzenden Ton einzugehen.

– Wenn wir vielleicht das alte Lied anstimmten:

Vorwärts, lustig, Bruder Kobold,

Vorwärts, lustig, Nachbar mein!...

Doch nein, der »Bruder« gibt keine Antwort. – Ei, Lionel, Du kennst doch wohl das Mittel, sich vor den Neckereien der Irrlichter zu schützen?[56]

– Gewiß, Herr Nick. Man braucht sie nur zu fragen, der wievielste Tag nach Weihnachten ist, und da sie das nicht gleich wissen, hat man Zeit, sich zu retten, während sie auf eine Antwort sinnen.

– Ich sehe, daß Du in den Ueberlieferungen bewandert bist. Nun vielleicht zeigt sich uns doch eines im Laufe der Fahrt, wenn wir ein wenig von dem plaudern, das Du in der Tasche eingesperrt hast«

Lionel erröthete leicht.

»Sie wollten... Herr Nick?... versetzte er.[57]

– Natürlich, mein Junge, das wird uns immerhin eine oder zwei Viertelstunden vertreiben.«

Dann wandte sich der Notar direct an den jungen Mann:

»Einige Verse werden Sie nicht belästigen, mein Herr? fragte er lächelnd.

– Nicht im mindesten! versetzte der Reisende.

– Es handelt sich um ein Gedicht, welches mein Schreiber angefertigt hat, um an einem Wettbewerbe in der Freundes-Lyra theilzunehmen. Diese jungen Bursche halten sich zu Allem fähig... Vorwärts denn, junger Poet; schieße los... wie die Artilleristen sagen!«


 »Habt Ihr noch einen Platz?« (S. 54.)
»Habt Ihr noch einen Platz?« (S. 54.)

Lionel, aufs höchste befriedigt einen Zuhörer zu haben, der vielleicht etwas nachsichtiger war, als Herr Nick, zog das bläuliche Papier hervor und las wie folgt:


Das Irrlicht.

Der unfaßbare Geisterlichschein,

Der Abends leuchtend sich erhebt,

Und der in tiefen nächt'gen Schatten,

Nicht auf dem Meer, nicht auf dem Land

Die schwächsten Spuren hinterläßt...


Dies Licht, bereit stets zu verlöschen,

Hier bläulichen, dort fahlen Scheins...

Um zu erloschen, was es wäre,

Müßt' Einer er erst fangen können,

Doch fangt mir nur ein Irrlicht ein!


– Ja, fiel Herr Nick ein, fange es nur und ziehe es auf Flaschen. Na, fahre nur fort, Lionel.


Man sagt – wer mag genau es wissen?

Der Wasserstoff des Bodens sei's;

Ich glaube eh'r, daß es im Fluge

Von himmelweiten Sternen herkommt

Von Vega, Lyra, von Algol.


– Das sieht Dir ähnlich, mein Junge, sagte Meister Nick kopfnickend. Ja, das ist so Deine Sache!

Lionel fuhr fort:


Doch ist's nicht einer Sylphe Athem,

Nicht eines Kobolds glüh'nder Hauch,

Der leuchtend aufzieht und verschwindet,

Wenn sich verhüllt die weite Eb'ne

Im Dämmerlicht des Morgenscheins?
[58]

Ist es etwa von Geisterfackeln

Ein feiner Strahl, der sich auf's Stroh

Des Kelterhauses niedersenkte,

Sobald der Mond mit fahlem Glanze

Am Abendhorizont sich hebt?


Vielleicht die leuchtend reine Seele

Von einer Fee, die Frieden sucht

Weit außerhalb der bösen Erde,

Und gleich der Sammlerin von Aehren,

Die furchtlos suchend weiter zieht?


– Vortrefflich, fiel Herr Nick ein. Bist Du zu Ende mit Deinen beschreibenden Vergleichen?

– O nein, Herr Nick«, antwortete der junge Schreiber.

Dann fuhr er mit folgenden Worten fort:


Wär's nur die Wirkung eines Spiegels,

Die Folge von bewegter Luft

Am minder hellen Horizonte,

Wär' es nach tobendem Gewitter

Der letzte Schein von einem Blitz?


Stammt es von einer Feuerkugel,

Von einem Himmelsmeteor,

Das bei dem Fluge durch die Lüfte

Ein glüh'nder Körper erst gewesen,

Von dem nun gar nichts übrig blieb?


Ach, oder ist es auf dem Felde,

Dess' Furchen es so schwach bescheint,

Aus fernen Nordlichts Farbenkranze

Verirrt nur eine Strahlenlanze,

Gleich einem nächt'gen Schmetterling?


»Was denken Sie wohl über diesen Troubadour-Wortschwall, mein Herr? fragte Meister Nick hier den Reisenden.

– Ich denke, mein Herr, erwiderte dieser, daß Ihr junger Schreiber mit nicht geringer Phantasie begabt ist, und bin wirklich neugierig, womit er sein Irrlicht noch weiter vergleichen könnte.

– Lies weiter, Lionel!«

Lionel hatte leise erröthend den Lobspruch des jungen Mannes angehört, und mit schwach zitternder Stimme fuhr er fort:
[59]

Wär' es in diesen Todesstunden,

Wo, was da lebt, ermattet schläft,

Ein Banner mit gebroch'nen Falten,

Das hier ein Engel zum Gedächtniß

Der Hingeschied'nen flattern läßt?


»Brr!...« machte Herr Nick.


Ach, oder ist's in dunklen Nächten,

Wenn die bestimmte Stunde kam,

Ein deutungsvolles Flammenzeichen,

Das uns're Erde aus dem Schatten

Zum unbekannten Himmel schickt?


Das wie ein Leuchtthurm am Gestande

Den Geistern, die die Weltenräume

Verirrt durchwandern, hilflos suchend,

Die fernen, weiten Himmelsthore,

Den Hafen alles Ird'schen zeigt?


»Sehr gut, junger Dichter! sagte der Fremde.

– Ja, ja, nicht gerade schlecht, fügte Herr Nick hinzu. Wo der Teufel, Lionel, wo nimmst Du denn das Alles her?... Es ist nun wohl zu Ende?

– Nein, Herr Nick, entgegnete Lionel, und mit mehr gehobener Stimme las er:


Doch wär's die Liebe, junge Dirne,

Die deine Augen blendensoll – –

Beeile dich, um zu entfliehen,

Behüt' das Herze dein – das Feuer

Des Irrlicht's glänzt, doch wärmt es nicht!


»Da hätten wir sie ja, die jungen Mädels! rief Herr Nick; es hätte mich auch schier verwundert, wenn in diesen anakreontischen Accorden ganz und gar nicht von Liebe die Rede gewesen wäre. Nun freilich, bei seinen Jahren!... Was denken Sie darüber, mein Herr?

– Nun, in der That, antwortete der Reisende, ich hege die Ueberzeugung...«

Der junge Mann unterbrach sich beim Anblick einer Gruppe an der Böschung der Straße stehender Männer, von denen einer dem Kutscher ein Zeichen gab, anzuhalten.

Dieser parirte die Pferde und die Männer näherten sich dem Wagen.

»Ah, da ist ja Herr Nick, wenn ich nicht irre, rief einer der Leute, höflich den Hut ziehend.[60]

– Und da der Herr Rip!« erwiderte der Notar, der heimlich hinzu setzte:

»Alle Teufel, jetzt heißt's sich in Acht nehmen!«

Zum Glück bemerkten weder Herr Nick noch sein Schreiber oder der Führer des Wagens die Veränderung, welche in der Physiognomie des Unbekannten vor sich ging, als der Name Rip ausgesprochen wurde. Sein Gesicht war blaß geworden, zeigte aber nicht die Blässe des Schreckens, sondern die, welche durch einen entsetzlichen Abscheu erzeugt wird. Augenscheinlich durchzuckte ihn der Gedanke, sich auf den Mann zu stürzen. – Er wandte aber den Kopf ab, und so gelang es ihm, sich zu beherrschen.

»Sie sind wohl auf dem Wege nach Laval, Herr Notar? nahm Rip wieder das Wort.

– Wie Sie sehen, Herr Rip; Geschäfte, die mich dort wenige Stunden aufhalten werden, doch hoff' ich, noch diesen Abend in Montreal zurück zu sein.

– Das liegt ja ganz bei Ihnen.

– Und was machen Sie da mit Ihren Leuten? fragte Meister Nick. Immer auf der Lauer zum Besten der Regierung! Hatten Sie etwa Missethäter verhaftet? Bah, da ist leicht verhaften, wenn diese sich wie das Unkraut vermehren! Wahrlich, diese Sorte thäte besser, sich einmal zu achtbaren Leuten zu verwandeln...

– Ganz recht, mein Herr Nick, doch dazu fehlt ihnen der Beruf.

– Der Beruf! Immer der alte Witzbold, der Herr Rip. Sind Sie vielleicht aber auf der Spur eines Staatsverbrechers?

– Verbrecher für die Einen und Held für die Anderen, erklärte Rip, das kommt auf den Gesichtspunkt an.

– Was haben Sie denn läuten hören?

– Man hat von der Insel aus die Anwesenheit des berüchtigten Johann ohne Namen gemeldet...

– Ah, der berühmte Johann ohne Namen! Ja, die Patrioten haben ihn zum Helden gestempelt, und das mit gutem Grunde. Es scheint jedoch, Ihre allergnädigste Majestät ist nicht derselben Ansicht, da der Minister Gilbert Argall Sie auf die Suche nach ihm geschickt hat.

– Ganz richtig, Herr Nick.

– Und Sie sagen, man habe ihn, den geheimnißvollen Agitator, auf der Insel Montreal gesehen?[61]

– Man behauptet das wenigstens, antwortete Herr Rip, obwohl ich anfange daran zu zweifeln.

– O, wenn er dahin gekommen ist, wird er auch schon wieder über alle Berge sein, versetzte Meister Nick; oder wenn er noch da wäre, wird er sich nicht mehr lange aufhalten. Johann ohne Namen ist nicht so leicht zu haschen!

– Ein wahres Irrlicht, fiel hier der Reisende ein, sich an den jungen Schreiber wendend.

– Ah, gut, sehr gut! rief Herr Nick; bedanke Dich, Lionel! – Doch was ich sagen wollte, Herr Rip, wenn Sie auf ein Irrlicht treffen sollten, so suchen Sie es am Kragen zu nehmen, um es meinem Schreiber zu überbringen. Es müßte einer solchen wandelnden Flamme einen Heidenspaß machen, zu hören, wie ein solcher Schüler Apoll's sie behandelt.

– Das würde mit Vergnügen geschehen, antwortete Rip, wenn wir nicht verpflichtet wären, ohne Verzug nach Montreal zurückzukehren, wo ich neue Instructionen erwarte.«

Dann wandte er sich an den jungen Mann.

»Und dieser Herr begleitet Sie?...

– Bis nach Laval, sagte der Unbekannte.

– Wohin zu kommen, ich große Eile habe, setzte der Notar hinzu. Auf Wiedersehen, Herr Rip; wenn es mir unmöglich ist, Ihnen guten Erfolg zu wünschen, denn die Gefangennahme Johanns ohne Namen würde den Patrioten zu viel Schmerz bereiten, so wünsch' ich Ihnen wenigstens guten Tag.

– Und ich Ihnen glückliche Reise, Herr Nick!«

Die Pferde setzten sich wieder in Trab; Rip und seine Leute verschwanden hinter der Biegung der Straße.

Einige Augenblicke später sagte der Notar zu seinem Gefährten, der sich wieder in die Ecke des Wagens geworfen hatte:

»Ja, ich hoffe wirklich, daß sich jener Johann ohne Namen nicht fangen läßt! Seit der langen Zeit, da man ihn sacht...

– Man soll ihn nur suchen! rief Lionel. Dieser vermaledeite Rip wird schon noch den Ruf seiner Gewandtheit zu Markte tragen!

– Mund halten, Lionel, so etwas geht Dich nichts an.

– Dieser Johann ohne Namen ist ohne Zweifel gewöhnt, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen? fragte der Reisende.[62]

– Wie Sie sagen, mein Herr. Wenn er sich fangen ließe, wäre es ein großer Verlust für die franco-canadische Partei...

– Thatkräftige Leute werden ihm nicht fehlen, Herr Nick.

– Mag sein, antwortete der Notar. Ich habe mir indeß sagen lassen, daß das sehr bedauerlich wäre. Uebrigens bekümmere ich mich nicht mehr um Politik als Lionel, und es ist am besten, von diesem Thema nicht zu reden.

– Doch, nahm der junge Mann das Wort, wir sind in dem Augenblick unterbrochen worden, wo Ihr junger Schreiber sich seiner poetischen Begeisterung ganz überließ...

– Er wird mit seiner Begeisterung hoffentlich zu Ende sein, denke ich?...

– Nein, Herr Nick, erwiderte Lionel, dem wohlwollenden Zuhörer durch ein Lächeln dankend.

– Was, Du hast Dich damit ganz außer Athem gelaufen?... rief der Notar. Da haben wir ein Irrlicht, das nach und nach Sylphide, Kobold, Fee, Gespenst, leuchtende Seele, Spiegel, Blitz, Feuerkugel, Strahl, Banner, Leuchtfeuer, Liebesfunken geworden ist; ist das noch nicht genug? Wahrlich, ich frage mich vergeblich, was es dann noch werden könnte.

– Ich wäre begierig, das zu hören, bemerkte der Reisende.

– Na, so fahre denn fort, Lionel, fahre fort und höre auf, wenn diese Nomenclatur überhaupt einmal ein Ende findet.«

An die Scherzreden seines Principals gewöhnt, fühlte sich Lionel hiervon nicht besonders getroffen und las weiter wie folgt:


Was du auch seist, Blitz, Windhauch, Seele,

Um dein Geheimniß aufzuhell'n,

Du Wunderfeuer, würd' ich gerne

Aufgehen ganz in deiner Flamme,

Um dir zu folgen allerwärts...


Ob du nun klimmst zur Bäumekrone,

Mit deiner Flügelstirn sie schmückst,

Ob du, geheimem Winke folgend,

Den kalten Marmor still umschmeichelst,

Der auf verlass'nem Friedhof steht,


»Traurig! Traurig!« murmelte der Notar.


Ob du nun längst der Raaen kletterst,

Auf Schiffen, die der Welle Sturm,

Der heulende, zum Wrack geschlagen,

Und ob du durch das Tauwerk huschest,

fast einer glüh'nden Möve gleich...
[63]

Doch ganz würd' ich mich erst vereinen

Mit dir, wär' mir das Schicksal hold,

Und könnte ich, so wie ich's wünschte

Mit dir entsteh'n, du Wandelflamme,

Mit dir vergeh'n, du irrend Licht!


»Was sagen Sie dazu, mein Herr?

– Mein Herr, erwiderte der Reisende, ich mache dem jungen Poeten mein Compliment und wünsche, daß ihm der Lorbeerkranz in der Freundes-Lyra zufalle. Doch, wie dem auch sei, seine Verse haben uns ein Stündchen angenehm hinweggetäuscht, und ich erinnere mich kaum der Fahrt, die mir, mein' ich, nie so kurz vorgekommen wäre.«

Höchst geschmeichelt, steckte Lionel die Lobsprüche, die der junge Fremde ihm ertheilte, mit großer Selbstzufriedenheit ein. Im Grunde war auch Herr Nick recht zufrieden mit den Erfolgen, die seinem jungen Schreiber zutheil wurden.

Während dessen war der Wagen ziemlich schnell vorwärts gekommen, und es schlug kaum elf Uhr, als er den nördlichen Arm des Stromes erreichte.

Zu jener Zeit waren schon die ersten Dampfschiffe auf dem St. Lorenzo erschienen.

Sie waren weder stark noch besonders schnell und erinnerten mit ihren beschränkten Größenverhältnissen mehr an die Dampfschaluppen, die man in Canada heutzutage mit dem Namen »Tug-boat« oder kurz mit dem Worte »Toc« bezeichnet.

Binnen wenigen Minuten hatte ein solcher Toc Herrn Nick nebst seinem Schreiber und den Fremdling über den Mittellauf des Stromes befördert, dessen grünliches Wasser sich noch mit den mehr schwärzlichen Fluthen des Ottawa vermengte. Hier trennte man sich nach Austausch einiger höflicher Redensarten und warmer Händedrücke. Während der Reisende sich geraden Wegs nach den Straßen von Laval wandte, umschritten Herr Nick und Lionel die Stadt und begaben sich nach dem Osten der Insel Jesus.


Clary de Vaudreuil.
Clary de Vaudreuil.

Quelle:
Jules Verne: Die Familie ohne Namen. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LVII–LVIII, Wien, Pest, Leipzig 1893, S. 44-65.
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