Neuntes Kapitel.
Vereinigt.

[327] Karl Kip, der im Wagen des Kapitän-Kommandanten nach der Anstalt zurückbefördert worden war, wurde hier in einem der Krankensäle untergebracht, wo sein Bruder, den man bei dem Verletzten zu bleiben gestattet hatte, sich sehr bald zu ihm gesellte.

Wie dankbar mußten auch Skirtle und seine Gattin dem opferfreudigen Manne sein! Dank seinem Mute, war ihrem kleinen Sohne ein gräßlicher Tod erspart geblieben. In der ersten Aufwallung des jungen Herzens hatte sich William Skirtle seinem Vater zu Füßen geworfen und von Schluchzen unterbrochen gebeten:

»Gnade für ihn... Vater... Gnade für ihn!«

Frau Skirtle schloß sich ihrem Sohne hierin an, und beide flehten den Kapitän an, als ob dieser berechtigt wäre, ihrer Bitte zu willfahren, als ob er es allein in der Hand hätte, Karl Kip der Freiheit wiederzugeben.

Konnte er aber vergessen, wegen welches Verbrechens die zuerst gar zum Tode verurteilten Brüder in die Strafanstalt eingeliefert worden waren? Wie hätte Skirtle, bei seiner Unkenntnis des heimlichen, gemeinen Streiches Flig Balts und Vin Mods an der Schuld der Verurteilten zweifeln können? Hatte auch der eine von ihnen sein Leben eingesetzt, das des kleinen Knaben zu retten, so blieben sie doch noch immer die Mörder des Kapitäns Gibson, die als solche ihre Strafe erlitten.

Die mutige, selbstlose Tat Karl Kips, so rühmenswert sie auch war, konnte das schreckliche Verbrechen doch nicht ungeschehen machen.[327]

»Mein Lieber, begann Frau Skirtle, als ihr Mann, der noch den Arzt zu dem Verwundeten gerufen hatte, in die Villa zurückgekehrt war, was wirst du für den Unglücklichen tun können?

– Nichts, antwortete der Kapitän, nichts anderes, als daß ich ihn dem Wohlwollen der Verwaltung empfehle, den Gefangenen in Zukunft weniger streng zu behandeln und ihn mit gar so schweren Arbeiten zu verschonen.

– Nun, wenigstens muß der Gouverneur von dem heutigen Vorfalle unterrichtet werden.

– Er wird noch vor heut Abend alles erfahren, antwortete Skirtle. Höchstens ist danach aber eine Milderung, doch keine Abkürzung der Strafe zu erwarten. Karl Kip und sein Bruder haben ihm schon viel zu verdanken, sehr viel, da er sie vom Galgen gerettet hat.

– Und ich danke dafür dem Himmel ebenso, wie dem wackeren Manne, der nun wieder zum Retter meines armen Kindes wurde.

– Höre, liebe Frau, fuhr der Kapitän fort, ich werde für Karl Kip schon aus Dankbarkeit gewiß alles tun, was in meiner Macht steht. Übrigens haben sich die beiden Brüder seit ihrem Eintreffen in Port-Arthur musterhaft geführt und die ganze Strenge des Reglements eigentlich nie zu kosten bekommen. Vielleicht erreiche ich es bei der vorgesetzten Behörde, daß sie von den Arbeiten im Freien entbunden werden, da diese für Leute dieser Art desto peinlicher sein müssen, und dann könnten sie wohl in den Bureaux der Strafanstalt beschäftigt werden. Das wäre für sie als Sträflinge schon eine große Erleichterung ihres Loses. Du weißt aber, wegen welcher Freveltat sie vor dem Kriminalgerichte gestanden haben und auf Grund welcher unanfechtbaren Beweise sie verurteilt worden sind...

– Liebster Mann, unterbrach ihn Frau Skirtle, sollte ein Mann, der eine so menschenfreundliche Tat ausführte, ein Mörder sein können?

– Und doch, erwiderte der Kapitän, besteht darüber gar kein Zweifel. Den Gebrüdern Kip ist es nicht im geringsten gelungen, ihre Unschuld nachzuweisen.

– Du kennst aber doch, lieber Mann, die Ansicht des Herrn Hawkins.

– Gewiß. Der vortreffliche Mann hält sie für nichtschuldig, er wird dabei aber von gewissen Erinnerungen an andere Dinge beeinflußt, und hat nichts für sie erreichen können, außer durch Vermittlung des Gouverneurs die Umwandlung ihrer Strafe.


Der Überfallene schlug den spitzen Teil einer Hacke tief in den Leib des Hundes ein. (S. 326.)
Der Überfallene schlug den spitzen Teil einer Hacke tief in den Leib des Hundes ein. (S. 326.)

– Bedenke nur, fuhr Frau Skirtle fort, um wie viel ungerechter ihm diese Verurteilung erscheinen muß, wenn er hört, was Karl Kip heute getan hat.«

Der Kapitän gab darauf keine Antwort, denn schon,[328] was Hawkins über die beiden Brüder berichtet hatte, hatte auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht. Dachte er aber an die greifbaren Beweise, an die Papiere Harry Gibsons, die sich im Besitz Karl und Pieter Kips gefunden hatten, und gar noch an den Kriß, die unzweifelhaft benutzte Mordwaffe, die die Polizei ebenfalls in deren[329] Reisesacke entdeckt hatte, dann konnte er an der Rechtmäßigkeit des Urteilsspruches doch nicht mehr zweifeln.

»In jedem Falle, lieber Mann, nahm Frau Skirtle nochmals das Wort, bitte ich dich um eines, das zu gewähren nur von dir abhängt und das du nicht abschlagen wirst...

– Darum, daß die Brüder nicht mehr getrennt gehalten werden möchten? fragte der Kapitän.

– Ja... du hast mich verstanden! Schon von heute an wirst du Pieter Kip erlauben, bei seinem Bruder zu bleiben, ihn zu pflegen...

– Ja ja, das soll geschehen, erklärte Skirtle.

– Und ich... ich werde den Mann besuchen, sagte Frau Skirtle, werde dafür sorgen, daß es dem Armen an nichts gebricht. Und... wer weiß... später vielleicht...«

Das heiße Verlangen der beiden Brüder sollte also gestillt, ihr Herzenswunsch, wenigstens beisammen zu sein, endlich erfüllt werden.

Von diesem Tage an sahen sich Karl und Pieter nun jede Stunde. Drei Wochen später, als die Wunde Karl Kips vernarbt war und dieser den Krankensaal verlassen konnte, ergingen sich die Brüder zum ersten Male im großen Hofe der Strafanstalt. Sie wohnten jetzt in demselben Raume und verbrachten die Nacht in demselben Schlafsaale. Ebenso waren beide derselben Arbeiterrotte zugeteilt worden. Bald darauf wurden sie nur noch zu Arbeiten im Innern der Anstalt herangezogen, mit der Aussicht, schließlich in deren Bureaux beschäftigt zu werden.

Was die Brüder sich nun zu sagen hatten, um was sich ihr Gespräch unverändert drehte und wie sie der Zukunft entgegensahen, läßt sich wohl leicht vermuten.

Bemerkte der jüngere, daß der ältere befürchtete, die Wahrheit werde niemals an den Tag kommen, so sagte er:

»Nicht verzweifeln, Bruder, das hieße Gott verkennen! Wenn uns das Leben erhalten blieb, so will es auch die Vorsehung, daß die Mörder eines Tages noch entdeckt werden, und daß man uns öffentlich unsere Ehre wiedergibt.

– Möge der Himmel dich hören, Pieter, antwortete dann Karl Kip; ich beneide dich um diese Vertrauensseligkeit!... Doch wer könnten die Mörder des Kapitäns Gibson gewesen sein? Offenbar Eingeborne von Kerawara oder von der Insel York, vielleicht auch von einer anderen Insel des Bismarck-Archipels.[330]

Wie soll man sie aber unter dieser, überall in jenem Gebiete verstreuten, melanesischen Bevölkerung herausfinden?«

Gleichviel! Daß das schwierig wäre, gestand Pieter Kip ja zu, dennoch blieb er bei seinem Glauben... Konnte sich denn nicht etwas Unerwartetes ereignen, konnten die Herren Zieger und Hamburg nicht weitere Anhaltspunkte entdecken?

»Ist es übrigens, sagte er eines Tages, als er seinen Bruder sich wieder der Verzweiflung hingeben sah, ist es denn ausgemacht, daß Eingeborne die Mörder sein müssen?«

Karl Kip ergriff seine Hände und rief, ihm scharf in die Augen sehend:

»Was willst du damit sagen?... Sprich dich weiter aus!... Meinst du, daß ein Kolonist oder ein Angestellter aus den Faktoreien habe das Verbrechen begehen können?

– Nein, Bruder... nein, das nicht.

– Und wer denn sonst?... Etwa irgendwelche Matrosen?... Im Hafen von Kerawara lagen ja verschiedene Schiffe...

– Und unsere Brigg, der ›James-Cook‹, doch auch, antwortete Pieter.

– Der ›James-Cook‹!«

Karl Kip wiederholte den Namen noch mehrmals und sah dabei seinen Bruder fragend an.

Pieter Kip verkündete ihm daraufhin den Verdacht, dessen er sich nie hatte entschlagen können. Unter der Mannschaft der Brigg waren damals doch reckt verdächtige Gesellen, darunter die in Dunedin angeworbenen Matrosen, die sich ja auch an der von Flig Balt angezettelten Meuterei beteiligt hatten. Einer dieser Leute – Len Cannon zum Beispiel, um nur einen Namen zu nennen – hätte ja wohl wissen können, daß der Kapitän Gibson bei seinem letzten Gange nach der Wohnstätte Hamburgs nicht nur die Schiffspapiere, sondern auch eine Summe von mehreren tausend Piastern bei sich trug. Eben an jenem Nachmittage wären Len Cannon und seine Kameraden ans Land gegangen. Konnten sie da nicht Harry Gibson aufpassen und in den Wald von Kerawara folgen, um ihn hier zu überfallen, zu ermorden und zu berauben?

Karl hörte seinem Bruder mit ängstlicher und verzehrender Spannung zu. Ihm schien es, als sei eine wirkliche Offenbarung über ihn gekommen. Noch nie war es ihm auch nur eingefallen, den Mord mit anderen als mit Eingebornen in Beziehung zu bringen. Jetzt deutete Pieter auf eine andere Fährte[331] hin, wo die Schuldigen zu suchen sein könnten, auf Len Cannon und die übrigen neueren Mannschaften des Schiffes.

Nach kurzer Überlegung äußerte er dann:

»Selbst zugegeben, daß die Mörder unter diesen Leuten zu suchen wären, so ist es doch nicht minder gewiß, daß der Kapitän mit einem malaiischen Dolche erstochen worden ist.

– Jawohl, Karl, und dazu mit dem unsrigen...

– Dem unsrigen?...

– Das ist gar nicht zu bestreiten, versicherte Pieter Kip, und die im Walde von Kerawara gefundene Zwinge gehört eben an unseren Kriß.

– Wie hätte dieser aber in Besitz der Mörder kommen können?

– O, der ist einfach gestohlen worden, Karl.

– Gestohlen?

– Ja, vom Wrack der ›Wilhelmina‹, als wir es durchsuchten.

– Gestohlen?... Von wem aber?

– Von einem der Matrosen, die damals mit im Boote waren, und die mit uns das Wrack betreten haben.

– Welche Matrosen waren das?... Erinnerst du dich ihrer, Pieter... ihrer Namen?

– Nicht mehr zuverlässig, Karl. Da war zunächst Nat Gibson, der uns begleiten wollte. Der Mannschaften, die vom Kapitän dazu befohlen wurden, entsinne ich mich nicht mehr.

– War der Bootsmann nicht mit darunter? fragte Karl Kip.

– Nein, Bruder, ich glaube versichern zu können, daß Flig Balt damals an Bord zurückblieb.

– Aber Len Cannon?

– Ja, das glaub' ich. Mir ist's, als ob ich ihn auf dem Wrack noch sähe. Vielleicht also dieser, doch gewiß bin ich meiner Sache nicht. Jedenfalls hat aber einer oder der andere in unsere Kabine gelangen und dort, selbst erst nach uns, den Kriß finden können, den wir nicht gleich gesehen hatten. Später, als die Elenden das Verbrechen vereinbart hatten, haben sie sich zur Ausführung dieser Waffe bedient und sie dann wieder in unseren Reisesack gesteckt...

– Dann hätten wir sie aber darin gefunden, Pieter!

– Nein... wenn sie nur im letzten Augenblick darin versteckt worden ist!«[332]

Dieses Zwiegespräch zeigte, wie nahe Pieter Kip an die Wahrheit streifte. Er irrte sich nur bezüglich der Persönlichkeiten der Mörder. Wenn sein Verdacht auf Len Cannon oder einen anderen der Neuangeworbenen fiel, die einen solchen ja gewiß rechtfertigten, so dachte er doch weder an Flig Balt noch an Vin Mod.

Sicher war übrigens, daß der Bootsmann sich nicht mit in der Schaluppe eingeschifft hatte, die nach dem Wracke fuhr, ebenso sicher freilich, daß sich Vin Mod unter den Mitfahrenden befunden hatte, nur erinnerten sich Karl und Pieter Kip dessen nicht mehr. Der Leser weiß, wie der Schurke zu Werke gegangen war und welche Gewandtheit und Schlauheit er an den Tag gelegt hatte, auf sich keinen Verdacht fallen zu lassen.

So verlief also das Gespräch, das die beiden Brüder jedenfalls in gleicher Weise schon weit früher geführt hätten, wenn sie nicht, anfänglich im Gefängnis von Hobart-Town und dann in der Strafanstalt von Port-Arthur, immer von einander getrennt gewesen wären. Was für sie freilich außer Zweifel stand, da sie ja die Urheber des Verbrechens nicht waren, das konnte für jeden anderen nur den Wert einer Vermutung haben. Wie hätten sie denn unwiderlegbare Beweise dafür beibringen können, daß der Kriß von einem der Matrosen des »James-Cook« weggenommen und dann von diesem zur Ermordung des Kapitäns Gibson benutzt worden wäre?... Sie sahen recht wohl ein, daß der Schein gar zu sehr gegen sie sprach. Zugegeben auch, daß die Annahmen Pieter Kips ganz logisch waren, konnten sie doch entscheidend nur für die sein, die sich unschuldig fühlten. Gerade das aber trieb sie – und vor allem Karl Kip – zur Verzweiflung... zu einer Verzweiflung, wogegen Pieter mit seinem unerschütterten Glauben an die göttliche Gerechtigkeit doch nur mit Mühe ankämpfte.

Auf die vom Kapitän Skirtle unternommenen Schritte hin hatten der Gouverneur und die Strafanstaltsverwaltung des Vereinigten Königreiches inzwischen die Genehmigung erteilt, die Gebrüder Kip. in den Bureaux von Port-Arthur zu beschäftigen. Das war gegenüber der Lage, in der sie sich bisher befanden, eine große Erleichterung, sie gehörten damit ja nicht mehr zu einer der Rotten, die Wege bauen oder Kanäle ausheben mußten, sondern wurden jetzt mit einem Teile der Buchführung der Anstalt oder auch, unter der Aufsicht anderer Beamter, mit der Entwerfung von Arbeiten an verschiedenen Punkten der Halbinsel beschäftigt.[333]

Dabei blieb für sie aber noch immer der schlimme Übelstand bestehen, daß sie mit einbrechender Nacht in einen gemeinschaftlichen Schlafsaal zurückkehren mußten, und sich also von den Sträflingen des Bagnos kaum absondern konnten.

Die ihnen gewährte Vergünstigung erregte bei vielen von diesen auch die tollste Eifersucht. Zwei erst zum Tode verurteilte Mörder, deren Strafe nur umgewandelt worden war, erfreuten sich einer solchen Bevorzugung! War denn der Dienst, den Karl Kip der Familie des Kapitän-Kommandanten geleistet hatte, wirklich so viel wert?... Sich auf die Gefahr hin, ein wenig gebissen zu werden, auf einen Hund zu stürzen, das hätte wohl auch jeder andere fertig gebracht. Die beiden Brüder hatten sich also oft genug gegen rohe Gesellen zu verteidigen, und es bedurfte nicht selten der überlegenen Körperkraft Karl Kips, diese einiger maßen im Zaume zu halten.

Mitten unter der wilden Rotte von Galeerensträflingen, mit denen sie in den gemeinsamen Sälen zusammentrafen, gab es jedoch zwei Verurteilte, die ihre Partei nahmen und sie gegen die Roheiten der anderen verteidigen halfen.

Das waren zwei Männer von fünfunddreißig und von vierzig Jahren, zwei Irländer, namens O'Brien und Macarthy. Wegen welchen Verbrechens sie verurteilt waren, darüber hatten sie nie etwas verlauten lassen. Auch sie hielten sich so viel wie möglich beiseite und hatten sich infolge ihrer außergewöhnlichen Körperkraft einen gewissen Respekt zu schaffen gewußt. Offenbar waren es keine gewöhnlichen Verurteilten, und sie hatten gewiß eine bessere Ausbildung genossen als die gewöhnlichen Insassen des Bagnos. Ohne Zweifel empört, manchmal etwa zwanzig Taugenichtse gegen die Gebrüder Kip vorgehen zu sehen, waren sie den beiden Holländern beigesprungen, die rohen Gesellen abzuwehren.

Es lag hiermit ziemlich nahe, daß sich zwischen ihnen und den Gebrüdern Kip eine gewisse Vertraulichkeit entwickelte, obgleich die Irländer sehr düster und heftiger, wenig mitteilsamer Natur waren. Da raubte den Holländern aber eine weitere Verfügung der Verwaltung die Gelegenheit, mit jenen wie bisher öfters zusammenzutreffen.

Dem Kapitän Skirtle, der sich auch weiter für die Gebrüder Kip interessierte, war das Verhalten einiger, und gerade der unlenksamsten Sträflinge nicht verborgen geblieben. Er wußte, daß Karl und Pieter rohen, persönlichen[334] Angriffen ausgesetzt waren. sobald sie in der Nacht die Gesellschaft anderer Sträflinge teilen mußten.

Andererseits hatte Frau Skirtle alles ihr mögliche getan, ihr Los zu mildern. Nachdem sie Herrn und Frau Hawkins wiederholt in Hobart-Town besucht und mit ihnen über die beiden Brüder gesprochen hatte, stiegen ihr bezüglich dieser doch gewisse Zweifel auf, und wenn sie auch noch nicht zugeben wollte, daß sie an dem Verbrechen von Kerawara ganz unbeteiligt wären, so erschienen ihr die Beweise für ihre Schuld doch nicht mehr so durchschlagend wie früher. Daneben konnte sie ja auch nicht vergessen, was sie dem mutigen Eingreifen Karl Kips schuldete. So gelang es der dankbaren Dame infolge ihrer wiederholten Vorsprache bei dem Gouverneur von Tasmanien, dessen Zustimmung zu erwirken, daß die beiden Brüder eine besondere Schlafzelle erhielten.

Ehe sie dahin übersiedelten, wollten Karl und Pieter Kip O'Brien und Macarthy noch einmal für die ihnen erwiesenen guten Dienste danken.

Die Irländer verhielten sich dem gegenüber auffallend kühl. Sie hatten ja wohl nur ihre Pflicht getan, als sie die beiden Brüder gegen die wilden Sträflinge verteidigten, und als die Holländer ihnen die Hände entgegenstreckten, als sie sich verabschieden wollten, da schlugen die Irländer nicht in diese ein.

Bald darauf befanden sich die Brüder allein.

»Ich weiß zwar nicht, rief Karl Kip schmerzlichen Tones, weswegen diese Leute verurteilt sind, einer Mordtat wegen aber gewiß nicht, denn sie weigerten sich, die Hände zweier Mörder – wie wir – zu berühren!«

Da übermannte ihn wieder ein heiliger Zorn.

»Wir... wir... Mörder!... Und nichts... nichts, um zu beweisen, daß wir es nicht sind!

– Gib die Hoffnung nicht auf, mein armer Karl, antwortete Pieter, eines Tages wird auch uns noch Gerechtigkeit werden!«

Im März 1887 vollendete sich das erste Jahr, seit die beiden Brüder nach Port-Arthur eingeliefert worden waren. Was hätten sie in dieser Zeit mehr erlangen können, als die Milderung der sonst so harten Vorschriften der Strafanstalt, die ihnen zuteil geworden war? So viel Vertrauen Pieter Kip aber auch auf die Zukunft hatte, voraussichtlich blieben sie doch ihr Leben lang die unglücklichen Opfer eines Justizirrtums.

Und doch waren sie keineswegs so verlassen, wie sie wohl glaubten. Draußen hatten sie, wenn nicht Freunde, wenigstens aber Gönner, die an ihrer traurigen[335] Lage ein lebhaftes Interesse nahmen. Nat Gibson weigerte sich, durch seinen Kummer verblendet, zuzugeben, daß irgendwelche Mutmaßungen zu ihren Gunsten sprächen, Hawkins aber ließ in seinen Bemühungen, in die traurige Sache Licht zu bringen, niemals nach. Er unterhielt einen lebhaften Briefwechsel mit Herrn Zieger in Port-Praslin und mit Herrn Hamburg in Kerawara. Er beschwor sie, ihre Nachforschungen fortzusetzen und sie ebenso über Neuirland wie über Neubritannien auszudehnen. Gelang ihnen dabei nicht der Nachweis, daß das Verbrechen von Eingebornen begangen war, gab es da nicht andere, die das getan haben konnten: Arbeiter von den Faktoreien oder Matrosen von einem oder dem anderen der Schiffe, die damals in den Häfen des Archipels lagen?

Auf diesen Weg verweisend, kam Hawkins dann der Gedanke, ob man die Mörder nicht unter der Mannschaft des »James-Cook« selbst zu suchen habe, wie das Karl und Pieter Kip ebenfalls vermuteten. Dem Len Cannon und seinen Kameraden – vielleicht auch anderen – war eine solche Untat gar wohl zuzutrauen. Manchmal fiel ihm da auch der Name Flig Balt ein... immerhin waren das nur ganz unsichere Mutmaßungen, die sich weder durch die Aussagen der Zeugen stützten, noch durch die bei den Verhandlungen zutage getretenen greifbaren Beweise begründet wurden.

Hawkins beabsichtigte dann noch selbst, nach Port-Arthur zu fahren. Er empfand etwas wie einen unwiderstehlichen Drang, seine Schützlinge wiederzusehen, eine Art instinktives Vorgefühl, das ihn nach der Strafanstalt trieb.

Man wird sich leicht das ungeheuere Erstaunen und die unbeschreibliche Erregung vorstellen können, die sich der Gebrüder Kip bemächtigten, als sie am Morgen des 19. März nach dem Bureau des Kapitän-Kommandanten gerufen wurden und hier den Reeder erblickten.

Diesem ging es nicht weniger nahe, die Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina« jetzt in der Sträflingstracht wiederzusehen. In der Erregung des ersten Augenblicks wollte Karl Kip seinem Wohltäter entgegenstürmen, sein Bruder aber hielt ihn davon zurück. Und da Hawkins, der sich eine begreifliche Reserve auferlegte, nicht näher an sie herantrat, blieben sie still und stumm stehen in der Erwartung, daß man schon ein Wort an sie richten werde.

Skirtle hielt sich scheinbar gleichgültig beiseite. Er wollte es Hawkins überlassen, der Zusammenkunft den Stempel zu verleihen, den er für den richtigen hielt, und auch die Tonart des Gespräches nach Belieben anzuschlagen.

»Meine Herren«... begann der Reeder.


Als die Holländer ihnen die Hände entgegenstreckten, schlugen die Irländer nicht ein. (S. 335.)
Als die Holländer ihnen die Hände entgegenstreckten, schlugen die Irländer nicht ein. (S. 335.)

Dieses Wort wirkte schon wie eine moralische Aufrichtung auf die beiden Unglücklichen, die im Bagno ja nur noch »Nummer soundsoviel« waren.

»Meine Herren Kip, ich bin nach Port-Arthur ge[336] kommen, um Sie über Dinge zu unterrichten, die Sie interessieren müssen, und ein wenig auch über das, was ich bisher getan habe.«

Die beiden Holländer glaubten, diese Erklärung sollte sich auf die Vorgänge in Kerawara beziehen. Sie täuschten sich. Es war nicht der Beweis ihrer Unschuld, den Hawkins hierherbrachte, denn er fuhr sogleich fort:[337]

»Es betrifft Ihr Handelshaus in Groningen. Ich bemühte mich, mit mehreren Kaufleuten Ihrer Vaterstadt in Schriftwechsel zu treten, und ich muß Ihnen sagen, daß dort die öffentliche Meinung sehr zu Ihren Gunsten zu sprechen scheint.

– Wir sind auch unschuldig! rief Karl Kip, der dem Drange seines Herzens nicht zu widerstehen vermochte.

– Ja, nahm Hawkins, der Mühe hatte, seine Zurückhaltung zu bewahren, wieder das Wort, Sie waren aber leider nicht in der Lage, Ihre Geschäftsangelegenheiten zu ordnen, die schon durch Ihre Abwesenheit Schaden erlitten. Die unumgängliche Liquidation mußte schnell durchgeführt werden, und da habe ich mir erlaubt, für Ihre Interessen einzutreten.

– Herr Hawkins, antwortete Pieter Kip, o, wir danken Ihnen von ganzem Herzen! Das ist eine weitere Wohltat, die Sie so vielen anderen hinzufügen.

– Ich wünschte nun, Ihnen mitzuteilen, fuhr der Reeder fort, daß diese Liquidation unter weit günstigeren Bedingungen verlaufen ist, als man vorher wohl erwarten konnte. Die Kurse standen im allgemeinen ziemlich hoch, und die Waren haben zu recht anständigen Preisen Abnehmer gefunden, so daß sich eine Bilanz ergeben hat, die noch mit Überschuß für Sie ausgefallen ist«.

Auf dem bleichen Gesichte Pieter Kips malte sich eine lebhafte Befriedigung. Wie oft hatte er, inmitten der Leiden und Qualen des schrecklichen Lebens im Bagno, an seine zerrütteten Geschäftsverhältnisse, an das vom Konkurs bedrohte Handelshaus und an die Schande gedacht, die damit dem Namen seines Vaters angetan würde. Und jetzt erfuhr er von Herrn Hawkins, daß die Liquidation für sie so überaus glücklich ausgefallen sei.

Da nahm Karl Kip das Wort.

»Herr Hawkins, sagte er, wir wissen gar nicht, wie wir Ihnen unsere Dankbarkeit bezeugen sollen. Nach allem, was Sie schon für uns getan haben, nach der Achtung, die Sie uns erwiesen haben, und der wir nicht nur würdig waren, sondern es – ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist – auch noch sind, ist, dank Ihnen, auch die Ehre unseres Hauses gerettet worden!... Wir sind es jedenfalls nicht, die die alte Firma geschändet hätten, denn auf unserem Gewissen lastet die Freveltat nicht, wegen der wir verurteilt wurden. Wir sind die Mörder des Kapitäns Gibson nicht!«

Und wie vor dem Gerichtshofe, riefen die beiden Brüder, Hand in Hand dastehend, den Himmel zum Zeugen ihrer Versicherung an.[338]

Skirtle beobachtete sie mit Aufmerksamkeit und innerer Erregung, denn er fühlte sich unwillkürlich ergriffen von der Würde ihres Auftretens und dem Ausdrucke ehrlicher Aufrichtigkeit im Tone ihrer Stimme.

Da barst auch bei Hawkins die Hülle der Zurückhaltung, die er sich zuerst auferlegt hatte und er gab ungescheut dem Flüstern einer Stimme seines Inneren nach. Nein, er glaubte nun einmal nicht an die Schuld der Gebrüder Kip... er hatte auch vorher nie daran glauben können. Leider waren alle bisherigen Nachforschungen in Port-Praslin, in Kerawara und auf den übrigen Inseln des Bismarck-Archipels ergebnislos verlaufen... vergeblich war jede Spur nach den Mördern unter den eingebornen Stämmen verfolgt worden. Dennoch verzweifelte er nicht an einem schließlichen Erfolge, der dann eine Wiederaufnahme des Gerichtsverfahrens herbeiführen mußte.

Eine Wiederaufnahme des Verfahrens! Zum ersten Male war dieses Wort gefallen vor den beiden Verurteilten, die es nie mehr zu hören gehofft hatten... eine Wiederaufnahme, bei der sie vor andere Richter gestellt würden, denen sie dann vielleicht weitere Beweise ihrer Unschuld vorlegen könnten!

Neuen Richtern gegenüber bedurfte es freilich neuer, nicht zu bemängelnder Belege dafür, daß hier ein Justizirrtum vorliege, wenn diese einen anderen Angeklagten vor Gericht ziehen sollten, statt dessen sie, die Unschuldigen, verurteilt worden waren. Doch würde es gelingen, den wirklichen Urheber des Verbrechens zu entdecken und ihn vor den Geschworenen in Hobart-Town den beiden Brüdern Auge in Auge gegenüberzustellen?... Hawkins und die beiden Holländer vergegenwärtigten sich noch einmal die Hauptpunkte der Anklage. Gewiß, der Kapitän Gibson war mit dem Dolche ermordet worden, den man im Zimmer der beiden Brüder gefunden hatte und den diese als ihr Eigentum anerkannten. Sie aber hatten ihn nicht auf dem Wrack der »Wilhelmina« gefunden, ihn nicht an Bord der Brigg mitgenommen. Hatte ihn Jim in ihrer Kabine gesehen, so mußte er von anderer Hand dort hingelegt worden sein, und wenn sich ebenda die Papiere des Kapitäns gefunden hatten, so mußte sie ein anderer dorthin gebracht haben. Dieser »andere« konnte aber nur der sein, der nach der Ermordung Harry Gibsons im Walde von Kerawara auch das Gold gestohlen hatte, das dieser bei sich trug. Ja, das war der tatsächliche Vorgang wenn auch die Beweise dafür fehlten.

Unter diesen Umständen konnte der Verdacht nur auf irgendwelche Matrosen vom »James-Cook« fallen. Einer von ihnen hatte ja recht wohl in der[339] Kabine auf der »Wilhelmina« den Kriß an sich nehmen können, einer von denen, die nach dem Wracke mitgefahren waren.

Da entfuhr Karl Kip die Frage:

»War denn Flig Balt nicht darunter?

– Nein, entgegnete Pieter, der nicht. Ich entsinne mich dessen ganz genau. Flig Balt hat das verunglückte Schiff nicht betreten.

– Ja, ja, ich entsinne mich, bestätigte auch der Reeder, er ist damals nicht von der Brigg weggekommen.

– Wer waren denn die Leute, die im Boote mitfuhren? fragte Karl Kip.

– Das waren Hobbes und Wickley, antwortete der Reeder. Ich habe sie selbst darum befragt, und sie erklären, damals mit Ihnen beiden und mit Nat Gibson im Boote gewesen zu sein.

– Len Cannon war nicht dabei? fragte Pieter Kip.

– Das haben sie mir bestimmt verneint.

– Ich hatte gerade gedacht...

– Hobbes und Wickley können aber nicht in Verdacht kommen, fiel Karl Kip ein.

– Nein, gewiß nicht, antwortete Hawkins, das sind durchweg ehrbare Seeleute. Doch war nicht noch ein Dritter mit ihnen?

– Wer denn, Herr Hawkins?

– Vin Mod.

– Vin Mod! rief Karl Kip. Vin Mod, der heuchlerische Schurke.

– Vin Mod, setzte Pieter Kip noch hinzu, er, den ich von jeher für den bösen Geist Flig Balts angesehen habe.«

Als dieses Gespräch stattfand, war weder der Bootsmann noch Vin Mod mehr in Hobart-Town, und in welchem Lande hätte man jetzt ihrer Fährte nachspüren sollen?[340]

Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 327-341.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
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