Achtes Kapitel.
Port-Arthur.

[313] Einen Monat nach dem Tage, wo den zum Tode Verurteilten eine Strafverwandlung zugebilligt worden war, arbeiteten zwei Männer unter der Fuchtel der Profose der Strafanstalt von Port-Arthur.

Die beiden Gefangenen gehörten nicht derselben Rotte an. Einer von dem anderen getrennt und verhindert, auch nur zwei Worte oder einen Blick zu wechseln, gehörten sie nicht einmal derselben Tischgenossenschaft an und teilten auch nicht dieselbe Zelle. Sie gingen, jeder nach seiner Seite, bekleidet mit der schimpflichen Jacke des Galeerensträflings zu ihrer Arbeit hinaus, immer überhäuft von dem Schmähen und den Beleidigungen jenes Haufens von Banditen, die Großbritannien nach seinen kolonialen Strafanstalten verschickt. Jeden Morgen verließen sie das Bagno und kehrten, erschöpft von der Anstrengung und nur unzureichend mittels grober Nahrung erhalten, erst am Abend dahin zurück. Dann sachte jeder sein Feldbett zur Seite eines anderen, mit Ketten gefesselten Sträflings auf und bemühte sich – meist vergeblich – sein Elend in einigen Stunden unruhigen Schlafes zu vergessen. Brach der junge Tag an, so gingen sie, jetzt in der erstickenden Hitze des Sommers, später in der furchtbaren Kälte des Winters, aufs neue an die Arbeit, bis zu der ersehnten Stunde, wo der Tod sie einst aus diesem elenden Leben erlösen würde.

Die beiden Männer waren die Gebrüder Kip, die man vor drei Wochen nach der Strafanstalt von Port-Arthur übergeführt hatte.

Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts war Tasmanien bekanntlich von den niedrigst stehenden Völkerschaften der Erde bewohnt, von Leuten, die sozusagen auf der Grenzlinie zwischen Menschheit und Tierreich standen.

Die ersten Europäer aber, die nach dieser großen Insel kamen, waren kaum mehr wert, als jene wilden Urbewohner. Nach ihnen trafen aber Auswanderer ein. deren Fleiß mit der Zeit das traurige Land zu einer der blühendsten Kolonien umschuf.

Jener Zeit hatte Großbritannien schon eine gleichartige Anstalt in Botany-Bai an der Ostküste Australiens, des späteren Neusüdwales, gegründet. Da es[313] nun vermuten konnte, daß die Franzosen beabsichtigten, eine ähnliche Strafanstalt auf tasmanischem Boden zu errichten, beeilte es sich, ihnen ebenso zuvorzukommen, wie das später auf Neuseeland geschah.

Gegen Mitte des Jahres 1803 landete John Bowin, der Sydney mit einer Abteilung Kolonialtruppen verlassen hatte, am linken Ufer des Flusses Derwent, zwanzig Seemeilen oberhalb seiner Mündung an einer Stelle, die »Ridens« genannt wurde. Er brachte dahin eine Anzahl Verurteilter, deren Zahl im folgenden Jahre, unter Leutnant-Colonel Collins, auf vierhundert anstieg.

Dieser Offizier verließ aber Ridens wieder und legte den Grund zu Hobart-Town am anderen Ufer des Derwent, an einer Stelle, wo ein Flüßchen Süßwasser lieferte, und im Hintergrunde der Bai Sullivan Cove, worin selbst Schiffe von großem Tonnengehalt einen vortrefflichen Ankerplatz fanden. Die neue Stadt gewann schnell an Ausdehnung, und zwischen den Wohn- und Geschäftsgebäuden, die sehr bald entstanden, erhob sich gleich zu Anfang das Bagno, das von vier hohen Mauern aus granitharten Steinen umschlossen wird.

Dreierlei Elemente trifft man in der Bevölkerung Tasmaniens an: die Freien, das sind Einwanderer, Kolonisten, die das Vereinigte Königreich freiwillig verlassen haben; Freigelassene, das sind die Deportierten, denen man auf Grund besonders guten Verhaltens einen Teil der Strafe geschenkt hatte oder deren Strafzeit abgelaufen war, und endlich die Sträflinge, das sind die Deportierten, die von der Stunde ihrer Ausschiffung an unter der Bewachung des Oberaufsehers oder Kommissars der Anstalt stehen.

Die Sträflinge umfassen wiederum drei Kategorien: 1. die zu den schwersten Strafen verurteilten Verbrecher, die im Bagno selbst wohnen müssen und unter der Aufsicht von Konstablern zu Zwangsarbeiten, besonders zur Herstellung von Landstraßen, herangezogen werden; 2. die wegen leichterer Vergehen Verurteilten – die englischen Gerichte werfen oft unverhältnismäßig hohe Strafen aus – denen es gestattet wird, ohne jeden Lohn in den Dienst der Kolonisten zu treten, die ihnen dafür geeignete Unterkunft und nach der Anstaltsvorschrift bereitete Nahrung bieten und sie des Sonntags auch zur Erfüllung ihrer kirchlichen Pflichten anhalten müssen; 3. die Verurteilten, denen es als Anerkennung musterhaften Verhaltens erlaubt ist, für eigene Rechnung zu arbeiten, und von diesen haben es manche zu einer unabhängigen Stellung und zu Vermögen gebracht. Freilich kann, trotz dahin zielender Bemühungen der Gouverneure, keiner von[314] ihnen in der Gesellschaft der freien Bürger wieder zu seinem früheren Range aufsteigen.

Der Art waren also die ersten Maßnahmen bei der Gründung und Verwaltung der Strafkolonie, und das die verschiedenen Klassen der – männlichen und weiblichen – Gefangenen. Nach einer Mitteilung Dumont d'Urvilles, als dieser 1840 nach Tasmanien gekommen war, waren die Bestrafungen je nach der Schwere der Vergehen in folgender Weise bemessen: die einfache Rüge, die Verurteilung, das Rad einer Mühle eine gewisse Zeit lang zu drehen, ferner Zwangsarbeiten am Tage und Einzelhaft in der Nacht, schwerere Zwangsarbeit beim Wegebau, Zwangsarbeit unter der Rotte der Gefesselten und Verschickung nach der Strafanstalt von Port-Arthur.

Bezüglich der letzterwähnten Anstalt ist daran zu erinnern, daß schon 1768 eine Strafanstalt nach der Insel Norfolk verlegt worden war, nach derselben Insel, wo Karl und Pieter Kip, die Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina«, vom »James-Cook« aufgenommen worden waren. Seit 1805 hatte die Regierung diese aber wieder aufgelassen, weil es wegen Mangels jedes Hafens gar zu schwierig war, an der Insel zu landen. Später wurde diese aber doch noch einmal zum Sitze einer Strafkolonie, nach der die Verwaltungen von Tasmanien und Neusüdwales die gefährlichsten Verbrecher überführen ließen. Noch später, 1842, wurde sie gänzlich aufgegeben und durch Port-Arthur1 ersetzt.

Tasmanien besaß also einmal, neben dem Bagno von Hobart-Town, eine zweite Strafanstalt, auf deren Lage wir hier etwas näher eingehen müssen.

Die an ihrem südlichen Teile durch die Storm-Bai tief eingeschnittene große Insel wird nach Westen zu von einer sehr zerrissenen Küste begrenzt, durch die der Derwent abfließt, an dessen rechtem Ufer sich Hobart-Town erhebt. Im Osten hat sie als Grenze die Halbinsel Tasman, die an der anderen Seite von den Wogen des Großen Ozeans gepeitscht wird, und diese Halbinsel ist wieder durch eine sehr schmale Landzunge mit der Halbinsel Forrestier verbunden, welche mittels eines Landstreifens selbst mit dem Bezirke Panbroke zusammenhängt. Im Süden springen nach dem offenen Meere hinaus die spitzen Landvorsprünge des Südwestkaps und des Kaps Pillar weit hervor.

Von dem Isthmus, der die Halbinseln Forrestier und Tasman verbindet, rechnet man bis zum Kap Pillar ungefähr sechs Meilen (91/2 km), und in[315] einer kleinen Bai dieser südlichen Küstenstrecke wurde die Strafanstalt Port-Arthur angelegt.

Die Halbinsel Tasman ist mit dichten, düsteren Waldungen bedeckt, die sehr reich an Holzarten sind, welche sich zum Schiffbau eignen, und unter anderen eine harte Holzart aufweisen, die das Aussehen und die Eigenschaften des so geschätzten Teakholzes hat. Viele dieser, schon hundert Jahre alten Bäume erkennt man an ihrem riesigen Stamme, der keinerlei Seitenäste zeigt und dessen Belaubung nur den obersten Wipfel schmückt.

Die kleine Stadt Port-Arthur baut sich amphitheatralisch auf einem Hügel im Hintergrunde der Bai auf, und ihr mit einem Landungskai ausgestatteter und durch die Anhöhen der Umgebung geschützter Hafen bietet volle Sicherheit allen Schiffen, die durch furchtbare Windstöße aus Nordwesten am Einlaufen in die Storm-Bai nicht selten verhindert werden. Übrigens treffen andere als solche, die die Strafanstalt mit allem Notwendigen versorgen, nur selten hier ein. Das erklärt man mit dem noch unentwickelten Handelsverkehr in diesem Hafen, dem jedoch eine gedeihlichere Entwicklung gewiß bevorsteht, wenn er seine jetzige Bestimmung (als Sitz einer Verbrecherkolonie) einmal verliert.

Die Bevölkerung von Port-Arthur zeigt auch eine ganz eigene Zusammensetzung: aus Staatsbeamten, Polizisten und zwei Kompagnien Soldaten. Dieses unter dem Oberbefehl eines Kapitän-Kommandanten stehende Personal hat die Verwaltung und die Bewachung der Strafanstalt zu besorgen. Der oberste Beamte, der Kapitän Skirtle, der in Port-Arthur seinen Sitz hat, wohnte damals in einem hübschen Hause auf einer kleinen Anhöhe am Ufer, die einen weiten Ausblick auf das Meer gestattete.

In jener Zeit umfaßte die Anstalt zwei Abteilungen, die zwei Arten sehr verschiedener Sträflinge enthielten.

Die erste lag von der Einfahrt zum Hafen aus zur Linken. Ihr Name Point-Puer wies schon darauf hin, daß sie für jüngere Sträflinge bestimmt war; sie barg mehrere hundert Kinder und junge Leute zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Ost wegen eigentlich ziemlich geringfügiger Vergehen deportiert, bewohnen sie Holzbauten, die als Arbeits- und Schlafsäle errichtet sind. Hier bemüht man sich, sie wieder zu bessern, teils durch geregelte Tätigkeit und teils durch belehrenden und erziehenden Unterricht, dem, soweit es die religiöse Beeinflussung betrifft, ein besonderer Geistlicher vorsteht. Tatsächlich scheiden sie aus der Strafanstalt zuweilen auch als gute Handwerker, meist als Schuhmacher,[316] Tischler, Zimmerleute oder als Vertreter anderer Handwerke, die sich ihr Brot auf ehrlichem Wege zu erwerben imstande sind. Ein hartes Leben hatten sie vorher freilich zu führen, die jungen Verhafteten, denen immer die hier üblichen Strafen drohten, die Einsperrung in eine Zelle, die Verurteilung zu Wasser und Brot, und daneben die Peitsche, die die Hand der Polizisten unerbittlich gegen alle Widerspenstigen zu schwingen wußte.

Von denen, die nach Verbüßung ihrer Strafe die Anstalt verlassen, bleiben die einen dauernd als Handwerker oder Arbeiter in der Kolonie zurück, die anderen begeben sich wieder nach Europa. Im ersten Falle bewahren sie gewöhnlich die Spuren von der hier genossenen strengen Erziehung, im zweiten verfallen sie leider oft wieder in ihre früheren Fehler. Als rückfällige Verbrecher werden sie dann wieder zur Deportation verurteilt – wenn sie nicht gleich am Galgen endigten – und dann kommen sie in die Abteilung für Erwachsene, worin sie, oft für die ganze Lebenszeit, eingeschlossen bleiben und unter der Fuchtel einer eisernen Disziplin stehen.

Die zweite Abteilung von Port-Arthur enthielt gegen achthundert Verurteilte, den »Abschaum der Banditen Englands«, wie man mit Recht sagen kann, lauter Leute, die zur untersten Stufe menschlicher Entartung hinabgesunken waren. Hierzu gehörten auch die Deportierten auf der Insel Norfolk, die später nach Tasmanien übergeführt wurden. Da mochte kaum einer darunter sein, dessen Personalakten ihn nicht mit Raub oder Totschlag belastet hätten, ja die meisten, die schon mit den schwersten Strafen belegt waren, hatten nur noch eine einzige weitere, die Todesstrafe vor sich.

Selbstverständlich war in Port-Arthur nichts unterlassen, jede Entweichung zu verhindern. Nur auf dem Wege des Meeres war hier an eine erfolgreiche Flucht zu denken, wenn es den Flüchtlingen gelang, sich eines Bootes zu bemächtigen, das sie nach einer Uferstelle außerhalb der Halbinsel Tasman brachte. Solche Gelegenheiten bieten sich aber sehr selten, denn die Sträflinge haben keinen Zutritt zum Hafen, und wenn man sie hier ausnahmsweise zu gewissen Arbeiten verwendet, werden sie aufs strengste überwacht.

Doch wenn es so schwierig ist, über das Meer zu entfliehen, ist das nicht auch auf dem Landwege möglich, da sich die Verbrecher hier nicht auf einer so kleinen Insel wie auf Norfolk befinden? Ja, gewiß, und man berichtet auch von Flüchtlingen, denen es gelungen war, aus der Strafanstalt zu entweichen, sich in den Wäldern der Umgebung zu verbergen und jeder Verfolgung[317] zu entziehen, wobei sie freilich einem noch schrecklicheren Leben als dem im Bagno entgegengehen und meist aus Mangel an allem einen traurigen Tod finden. Übrigens blieben sie noch immer bedroht, auch in den Wäldern wieder eingefangen zu werden, die immer von Patrouillen durchstreift und seit jenen Vorfällen noch von mehr Posten als früher bewacht werden.

Mindestens müßten die Flüchtlinge die Halbinsel Tasman verlassen können, das ist aber sogut wie unmöglich.

Die Landenge, die sie mit der (anderen) Halbinsel Forrestier verbindet, die Eagle-Hawk-Neck – die Landenge des Adlersperbers – ist an ihrer schmalsten Stelle nur hundert Schritte breit. Auf dem sandigen Boden hat die Verwaltung eine Reihe nahe beieinander stehender Pfähle errichten lassen. An diesen Pfählen sind Hunde angelegt, deren Ketten sich kreuzen können... etwa fünfzig Doggen, die an Wildheit mit Raubtieren wetteifern. Wer diese Linie zu überschreiten versuchte, würde augenblicklich in Stücke gerissen werden. Käme ein Flüchtling hier doch hindurch, so würden andere Hunde, deren Lager auf höheren Grundpfählen ruhen, seine Gegenwart längs des Strandes hin verraten, wo wieder zahlreiche Wachtposten aufgestellt sind. Unter solchen Umständen müssen die Gefangenen doch wohl auf jeden Fluchtversuch von vornherein verzichten.

Derart ist also die Strafanstalt von Port-Arthur eingerichtet, die für die schlimmsten Verbrecher, für die verhärtetsten Sünder bestimmt ist, und hierher waren Karl und Pieter Kip nach der Umwandlung ihrer Strafe gebracht worden. In der Nacht hatte sie ein Boot am Außenende des Hafens aufgenommen und nach einem kleinen Aviso befördert, der für den Dienst der Strafanstalt hierher verlegt ist. Dieser Aviso durchschnitt die Storm-Bai, umschiffte das Kap des Südwestens, lief dann in den Fluthafen ein und legte an der Mole an. Die beiden Brüder wurden vorläufig eingesperrt, bis sie vor dem Kapitän-Kommandanten von Port-Arthur erscheinen sollten.

Der etwa fünfzigjährige Kapitän Skirtle verfügte über die Energie, die seine oft recht schwierigen Obliegenheiten erheischten: er konnte unerbittlich sein, wo das notwendig war, erwies sich aber gerecht und milde gegen die Armen, die sich seiner Güte verdient machten. Ahndete er auch schwere Vergehen gegen die Anstaltsordnung mit den härtesten Strafen, so duldete er doch keinen Mißbrauch ihrer Gewalt bei den ihm untergebenen Beamten. Das strenge Reglement, das er den Deportierten gegenüber beobachtete, hielt er gegenüber allen Angestellten, denen die Aufsicht über diese zufiel, unverändert aufrecht.[318]

Der Kapitän Skirtle wohnte in Port-Arthur schon seit zehn Jahren mit seiner Gattin, einer Vierzigerin, seinem Sohne William und seiner Tochter Belly, die im vierzehnten und im zwölften Jahre standen. In der schon erwähnten Villa weilend, kamen Frau Skirtle und ihre Kinder mit den Strafgefangenen niemals in Berührung. Nur der Kapitän selbst kam jeden Morgen nach der Anstalt, hielt sich hier meist den größten Teil des Tages auf und kehrte erst des Abends in seine Villa zurück.

Jeden Monat unternahm er kurze Inspektionsfahrten ins Innere der Halbinsel und bis zur Landenge des Adlersperbers, wobei er die verschiedenen Wachtposten besichtigte und die mit der Herstellung von Wegen beschäftigten Abteilungen an sich vorüberziehen ließ. Was seine Familie betraf, unternahm diese häufiger Spaziergänge um Port-Arthur, durch die herrlichen Waldungen der Nachbarschaft, oder der Aviso brachte sie, sobald sie es wünschten, nach Hobart-Town, so daß ihre Beziehungen zu der Hauptstadt Tasmaniens nie völlig abgebrochen wurden.

Bei seiner Ankunft in Point-Puer ließ sich der Kommandant die Kinder vorführen, die sich seit sei nem letzten Besuche irgendwie vergangen hatten. Er ermahnte sie dann oder belegte sie mit den vorschriftsmäßigen Strafen. Doch welchen Grad der Verworfenheit hatten diese kleinen Ungeheuer zuweilen schon erreicht!

Ein Knabe, der auf einen Aufseher erzürnt war, antwortete, als man ihm den Galgen in nahe Aussicht stellte, wenn er sich nicht bessere: »Meinetwegen! Dann geh' ich nur den Weg, den meine Eltern mir gezeigt haben, doch bevor ich baumle, bring' ich diesen Aufseher noch um die Ecke!«

Nach seinem Besuche in Point-Puer begab sich Skirtle nach der Strafanstalt für Erwachsene, und hier wurden ihm am 5. April Karl und Pieter Kip vorgeführt.

Der Kapitän war vollkommen unterrichtet von dem Prozesse, der in weiten Kreisen ungeheures Aufsehen gemacht hatte, dem Prozesse, der mit einer Verurteilung der Angeklagten zum Tode geendet hatte. Hatte ihnen die Gnade der Königin auch das Leben geschenkt, so ruhte doch noch immer das Verbrechen eines unter den obwaltenden Umständen noch häßlicheren Mordes nicht weniger auf den beiden Brüdern. Sie sollten also mit äußerster Strenge behandelt und auf keinen Fall sollte ihnen eine Erleichterung ihrer Lage gewährt werden.[319]

Immerhin bemerkte der Kapitän Skirtle mit einiger Verwunderung die Haltung, die die beiden Holländer in seiner Gegenwart bewahrten. Nach Beantwortung der gewöhnlichen, ebenso an sie gerichteten Fragen setzte Karl Kip dann noch mit klarer, sicherer Stimme hinzu:

»Die menschliche Rechtsprechung hat uns verurteilt, Herr Kommandant, wir sind aber unschuldig an der Mordtat, der der Kapitän Gibson zum Opfer gefallen ist!«

Noch einmal hatten sie, wie vor dem Kriminalgerichtshofe, die Hände ineinander gelegt, das war aber das letzte Mal, daß sie sich ihrer brüderlichen Liebe und Anhänglichkeit versichern konnten.

Die Aufseher führten sie getrennt hinweg, da der Befehl erteilt war, sie nicht mehr zusammenkommen zu lassen. Jeder einer anderen Abteilung zugewiesen, konnten sie sich – abgesehen von der Unmöglichkeit, miteinander zu sprechen – kaum jemals, wenn auch nur flüchtig wiedersehen.

Hiermit begann für sie dauernd das schreckliche Leben der Verbannten in der gelben Sträflingstracht, die für Port-Arthur vorgeschrieben war. Mit einem anderen Sträfling zusammengekettet, wie das in anderen Ländern Gebrauch ist, wurden sie jedoch hier nicht. Es gereicht Großbritannien zur Ehre, daß diese mehr seelische als körperliche Qual in seinen Kolonien nie zugelassen worden ist. Immerhin umschließt eine etwa drei Fuß lange Kette die Knöchel des Gefangenen, und dieser muß sie beim Gehen bis zum Gürtel emporgehoben tragen.

Kommt eine dauernde Aneinanderkettung in Port-Arthur auch nicht vor, so werden die Zugehörigen einer Rotte doch zuweilen alle aneinander gefesselt, wenn sie vereinigt schwere Lasten fortbewegen sollen.

Die Gebrüder Kip wurden der entsetzlichen Strafe dieses »chain-gang« nicht unterworfen. Lange Monate arbeiteten sie in besonderen Rotten an der Herstellung von Wegen, die die Regierung durch die Halbinsel Tasman anlegen ließ, doch niemals konnten sie dabei auch nur ein paar Worte austauschen. O, wie glücklich hätten sie sich noch bei allem Elend gefühlt, wenn es ihnen vergönnt gewesen wäre, zusammenzukommen, einer neben dem anderen auszuruhen, und wäre es auch an den Werften gewesen, wenn sie da die ganze Nacht unter freiem Himmel lagen. Anderenfalls wurden die Sträflinge nach Schluß ihrer Arbeit den Schlafsälen zugeführt, worin man sie, meist zu je vierzig Mann, einschloß.[320]

Nur einmal in der Woche, am Sonntage, hatten Karl und Pieter Kip die Freude, einander wiederzusehen, dann, wenn die Insassen der Anstalt in deren Kapelle zusammenkamen, wo von einem Methodistenprediger Gottesdienst abgehalten wurde. Was aber sollten sie, die Unschuldigen, von der Gerechtigkeit der Menschen denken, wenn sie sich mit deren Abschaum vereinigt sahen und die Ketten wie klagend zwischen den Gesängen und Gebeten klirrten?


Sie arbeiteten in besonderen Rotten an der Herstellung von Wegen. (S. 320.)
Sie arbeiteten in besonderen Rotten an der Herstellung von Wegen. (S. 320.)

Was Karl Kip fast das Herz brach und ihn immer zu einer Auflehnung reizte. die doch so schlimme Folgen haben mußte, war der Umstand, daß sein Bruder so unerträglich schweren Arbeiten unterworfen war. Er mit seiner eisernen Gesundheit, seiner außerordentlichen Körperkraft war ja imstande, solche auszuhalten, trotz der kaum zum Leben reichenden, dürftigen Nahrung, die der Bagno lieferte, denn diese bestand nur in dreiviertel (engl.) Pfand (340 g) frischem oder acht Unzen (etwa 226 g) gepökeltem Fleisch, einem halben Pfund Brot oder vier Unzen Mehl und aus einem halben Pfund Kartoffeln. Doch ob sein von Natur schwächerer Bruder dabei nicht zu Grunde ging?... Nach der letzten Hitzeperiode eines fast tropischen Klimas gingen sie jetzt, nur bekleidet mit der gelben Sträflingsjacke, einer stechenden Kälte, eisigen Stürmen und dichtem Schneegestöber entgegen. Die gewöhnliche Arbeit mußte dennoch unter den Drohungen der Beamten und der Knute der Aufseher geleistet werden. Von Ruhe keine Rede, höchstens in den kurzen Minuten gegen Mittag, wenn sie darauf warteten, nach der Anstalt zurückgeführt zu werden. Die geringste Andeutung von Widersetzlichkeit zog dem Schuldigen Disziplinarstrafen zu, wie die Einsperrung in finstere Zellen, die Strafe des chain-gang, endlich – nächst dem Tode, den sie auch zuweilen herbeiführt – die schrecklichste, die Auspeitschung mit der neunschwänzigen Katze, die den Körper des Schuldigen entsetzlich zerfleischt.

Ohne Zweifel mußte eine solche Existenz in den Sträflingen das heißeste, unwiderstehlichste Verlangen aufkommen lassen, dieser Hölle zu entfliehen. Einzelne versuchten das wohl auch trotz der Gefahr, der sie sich damit aussetzten, und trotz der äußerst geringen Aussichten auf ein Gelingen. Wurden die Flüchtlinge dann in den Wäldern der Halbinsel wieder eingefangen, so wurden sie vor allen Insassen der Anstalt mit der neunschwänzigen Katze schonungslos gezüchtigt. Von kräftiger Hand geschwungen, sauste sie auf die Lendengegend des entblößten Opfers nieder und verwandelte Haut und Fleisch darunter in eine blutige Masse.[323]

Wenn Karl Kip aber zuweilen nahe daran war, sich gegen die Härten der Disziplin zu empören, so unterwarf sich diesen sein Bruder ohne Murren, getragen von der Hoffnung, daß die Wahrheit doch einst an den Tag kommen, daß ein Zufall, eine unerwartete Entdeckung ihre Unschuld beweisen werde. Er fügte sich also, so peinlich, so entwürdigend sie auch sein mochte, dieser Lebensweise im Bagno, und wenn er auch nicht über die Kraftnatur seines Bruders verfügte, so gestattete ihm doch seine moralische Energie und ein unerschütterliches Gottvertrauen, alles zu ertragen. Am meisten beunruhigte ihn nur, daß Karl Kip sich einmal nicht mehr bemeistern und sich zu einer Gewalttätigkeit verleiten lassen könnte. Sicherlich würde sein Bruder keinen Fluchtversuch unternehmen, würde ihn nicht allein in der Strafanstalt zurücklassen wollen, die beide vereinigt zu verlassen hofften. Und doch, könnte sich Karl in einer Stunde der Verzweiflung nicht einmal zu einem falschen Schritte hinreißen lassen, wenn er, Pieter, nicht bei der Hand war, ihn zu beruhigen und zurückzuhalten?

In seiner Besorgnis glaubte Pieter auf ein Hilfsmittel sinnen zu sollen, und eines Tages, bei der Inspektion durch den Kommandanten, nahm er sich ein Herz, einige Worte an diesen zu richten. Warum er mit flehender Stimme bat, war nicht, mit seinem Bruder vereinigt zu werden, nicht mit ihm in derselben Rotte arbeiten zu dürfen, sondern nur die Begünstigung, einige Minuten mit ihm zusammenzutreffen.

Der Kapitän Skirtle ließ Pieter Kip ausreden und betrachtete ihn mit einer Aufmerksamkeit, der sich scheinbar ein gewisses Interesse für den jungen Mann beimischte. Ob das daher kam, daß Karl und Pieter Kip einer Gesellschaftsklasse angehörten, aus der doch nur selten Insassen des Bagnos hervorgingen, oder hatte vielleicht der Reeder Hawkins mit Zustimmung des Gouverneurs irgendwelche Schritte zu ihren Gunsten unternommen? War der vortreffliche Mann, nachdem er ihnen den Erlaß der Todesstrafe erwirkt hatte, etwa immer noch tätig, ihnen für den Aufenthalt im Bagno gewisse Erleichterungen zu verschaffen?

Skirtle ließ von dem, was er dachte, freilich nichts merken. Die Gebrüder Kip waren für ihn und konnten in seinen Augen nichts anderes sein, als zwei wegen einer Mordtat verurteilte Männer. Es war schon sehr viel, daß die Güte der Königin ihnen die Todesstrafe erlassen hatte. Später konnte er der Bitte Pieter Kips vielleicht stattgeben, jetzt konnte er sie noch auf keinen Fall bewilligen.[324]

Mit seiner Last auf dem Herzen und der von Schluchzen erstickten Stimme, fehlte es Pieter an Kraft, seine Bitte zu wiederholen. Er sah auch ein, daß das nutzlos wäre, und trat tief bekümmert zurück in seine Rotte.

Fast sechs Monate waren seit der Ankunft der beiden Brüder in der Strafanstalt verflossen. Der Winter näherte sich dem Ende. Hart genug war er für die Unglücklichen gewesen, die kaum noch an eine Möglichkeit glaubten, ihre Lage durch irgend ein Ereignis sich bessern zu sehen. Dennoch sollte das geschehen, und zwar unter folgenden Umständen:

Am 15. September hatten Skirtle, seine Gattin, sein Sohn und seine Tochter, von dem schönen Morgen verlockt, eine längere Ausfahrt durch die Wälder unternommen. An der Eagle-Hawk-Neckenge angelangt, waren alle aus dem Wagen gestiegen.

In der Nähe arbeiteten einige Sträflinge an der Aushebung eines Bewässerungskanales, und der Kapitän-Kommandant hatte die Anlage besichtigen wollen.

Die beiden Rotten, denen Karl und Pieter Kip angehörten, waren hier gleichzeitig, doch eine Strecke voneinander getrennt, beschäftigt. Die Brüder hatten nicht einmal den Trost, einander sehen zu können, da ihnen selbst hier dicht stehende Bäume jede Fernsicht raubten.

Nach seiner Besichtigung wollte Skirtle mit der ganzen Familie schon den Wagen wieder besteigen, als von der, die Landenge abschließenden Pfahlreihe her laute Rufe ertönten. Gleichzeitig wurde auch ein wütendes Bellen hörbar, das von den Hunden herrührte, die dort angebunden waren.

Einer davon hatte seine Kette gesprengt und war, von den Rufen der Wachtposten noch wütender gemacht, nach der Seite des Waldes gestürmt, während die übrige Meute ihm laut nachbellte.

Anfänglich hätte man vermuten können, daß die Dogge sich auf die Sträflinge stürzen würde, deren gelbe Tracht dem Tiere ja bekannt war. Durch die Rufe erschreckt, sprang es aber dem Walde zu, ehe die Wachtposten es hatten aufhalten können.

Dem Kapitän kam es nun darauf an, schnell den Wagen zu besteigen und davonzufahren, ehe die Pferde durch die wütende Dogge vielleicht scheu gemacht würden. Leider erschraken diese gar zu schnell, und ohne daß der Kutscher sie bändigen konnte, rasten sie mit dem leeren Wagen in der Richtung auf Port-Arthur davon.[325]

»Hierher!... Hierher!« rief Skirtle seiner Gattin und seinen Kindern zu, die er in ein nahes Dickicht bringen wollte wo er eine Zufluchtsstätte zu finden hoffte.

Plötzlich tauchte da der Hund mit schäumendem Maule und glühenden Augen vor diesen auf. Wie ein Raubtier brüllend, stürzte er sich auf den jungen Skirtle, den er an der Kehle packte und zu Boden warf.

Schon ließen sich wieder die Rufe der Aufseher vernehmen, die vom Strande her herbeieilten.

Als Skirtle die Gefahr erkannte, in der sein Sohn schwebte, wollte er sich auf das Tier stürzen, wurde aber von zwei kräftigen Armen zurückgedrängt.

Einen Augenblick später war der junge Skirtle gerettet und der Hund überfiel seinen Retter, in dessen linken Arm er sich festgebissen hatte und den er wütend zerfleischte.

Der Überfallene hatte aber den eisernen spitzen Teil einer Hacke in der Hand und schlug ihn tief in den Leib des Hundes ein, so daß dieser röchelnd zurücksank.

Frau Skirtle hatte ihr Söhnchen auf den Arm genommen, das sie mit Liebkosungen überschüttete, während der Kapitän sich dem mutigen Helfer – einem Galeerensträfling in gelber Jacke – zuwendete.

Das war Karl Kip. Er hatte zufällig in der Nähe gearbeitet, als er das Rufen der Aufseher vernahm und den losgekommenen Hund nach dem Walde springen sah. Ohne an eine Gefahr zu denken, hatte er die Fährte des Tieres verfolgt.

Der Kapitän Skirtle erkannte den Mann wieder, der aus einer schrecklichen Wunde blutete. Er ging schon auf ihn zu, seinen Dank abzustatten und ihm so viel wie möglich zu helfen, als er von Pieter Kip überholt wurde.

Auf den Lärm vom Strande und aus dem Walde her, waren die Sträflingsrotten gleichzeitig mit den Aufsehern herbeigelaufen.

An Ort und Stelle angelangt, sah Pieter Kip seinen verletzten Bruder neben der getöteten Dogge auf der Erde liegen. Da stürmte er auf ihn zu und rief schmerzerschüttert dessen Namen.

Die Aufseher hatten ihn zurückhalten wollen, doch auf ein Zeichen Skirites, dem seine Gattin die Hände bittend entgegenstreckte und dessen Mitleid für den unerschrockenen Retter in der Not sein kleiner Sohn erflehte, zogen sich die rauhen Männer scheu zurück.[326]

So kam es, daß die beiden Brüder nach sieben Monate langer Trennung, nach so vielen Qualen und stummer Verzweiflung einander zum ersten Male wieder weinend in den Armen lagen.

Fußnoten

1 Heute bestehet auch Port-Arthur als solche nicht länger und überhaupt gibt es in ganz Tasmanien keine solche Strafanstalt mehr.


Quelle:
Jules Verne: Die Gebrüder Kip. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXXI–LXXXII, Wien, Pest, Leipzig 1903, S. 327.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Gebrüder Kip
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