Einundzwanzigstes Capitel.
Das Wettrennen. – Die beiden Feinde gerathen aneinander.

[87] Um vier Uhr klärte sich der Himmel, der bis dahin bedeckt gewesen war, auf, das Meer wurde ruhiger, und das Schiff stellte sein Rollen ein; man hätte sich auf's feste Land versetzt glauben können. Durch diese Unbeweglichkeit des Great-Eastern kamen die Passagiere auf die Idee, einen Wettlauf zu arrangiren. Der Turf1 von Epsom hätte keine bessere Rennlinie bieten können, und was die Pferde anlangte, so sollten sie in Ermanglung eines Gladiator oder la Touque durch Vollblutschotten ersetzt werden. Die Neuigkeit verbreitete sich bald, und sofort eilten die Sportsmen herbei, und die Passagiere verließen ihre Säle und Cajüten. Ein Engländer, der sehr ehren werthe Mac Karthy, wurde zum Commissar ernannt, und die Läufer stellten sich ohne Zögern vor. Es war ein halbes Dutzend Matrosen, eine Art Centauren, da sie zugleich Pferde und Jockeys sein sollten, und Alle vom besten Willen beseelt, dem Great-Eastern den ersten Preis abzugewinnen.[87]

Die beiden Strecken an den Boulevards bildeten die Rennbahn, und es wurde bestimmt, daß die Läufer drei Mal um das Schiff laufen, und somit eine Strecke von ungefähr 1300 Metern zurücklegen sollten.

Bald hatten sich die Tribünen oder vielmehr der Raum über den Deckzimmern mit Zuschauern gefüllt, die eifrig ihre Lorgnetten vor die Augen hielten und theilweise sogar – wahrscheinlich um sich vor dem Staube des Atlantischen Meeres zu schützen – grüne Schleier vorgezogen hatten. Die Equipagen fehlten leider, obgleich ein stattlicher Platz zu ihrer Aufstellung vorhanden gewesen wäre. Alle Damen hatten sich in pompöse Toiletten geworfen und drängten sich auf den Boulevards des Hinterdecks. Ihr Anblick war natürlich bezaubernd!

Fabian, Hauptmann Corsican, Doctor Dean Pitferge und ich hatten auf dem Boulevard des Vorderdecks Posto gefaßt. Hier waren die echten »Gentlemen-riders« zusammengekommen, da dieser Platz gewissermaßen die Einfriedigung des Wiegens bildete. Vor uns erhob sich der zum Zeichen für Ablauf und Ziel aufgestellte Pfahl. Bald wurden enthusiastisch Wetten abgeschlossen, deren größere oder geringere Wahrscheinlichkeit nach dem Aeußeren der Renner bemessen wurde, da frühere Erfolge von ihnen bis jetzt in keinem »Stud-Book« verzeichnet standen.

Nicht ohne eine geheime Unruhe bemerkte ich, wie auch Harry Drake sich mit seiner gewohnten Wichtigthuerei diesen Vorbereitungen hingab und seine Meinung in so unverschämt absprechender Weise kund that, daß eine Erwiderung kaum aufkommen konnte.


Corsican behandelte Drake mit größter Verachtung. (S. 92)
Corsican behandelte Drake mit größter Verachtung. (S. 92)

Fabian hatte zwar gleichfalls einige Pfund gewettet, verhielt sich aber bei all dem Lärm ziemlich indifferent und stand, wie immer mit schwermüthigem Ausdruck in dem bleichen Gesicht, bei Seite. Seine Gedanken waren augenscheinlich nicht mit der Angelegenheit des Tages beschäftigt.

Unter den Läufern hatten zwei in ganz besonderem Maße die öffentliche Aufmerksamkeit erregt, der Erste, ein Schotte aus Dundee, Namens Wilmore, war ein kleiner, magerer, milz- und knochenloser Mensch mit breiter Brust und feurig blickenden Augen, er hatte bereits ein sehr günstiges Vorurtheil für seine Leistungsfähigkeit erweckt. Der Andere, ein großer, schlank und kräftig ausschauender Irländer, hieß O'Kelly, war langbeinig, wie ein richtiges Rennpferd, und hatte, nach dem Urtheil der Kenner, mindestens ebenso viel Chancen für sich, wie Wilmore. Man proponirte ihn zu eins gegen drei, und[88] auch ich wollte mich eben verleiten lassen, im Vertrauen auf seine Kraft und Gewandtheit einige Dollars zu riskiren, als Pitferge mir zuraunte:

»Wetten Sie auf den Kleinen; Sie können mir glauben: der Große ist nicht qualificirt.

– Was wollen Sie damit sagen?

– Ich meine, O'Kelly ist kein Vollblut, antwortete ernsthaft der Doctor. Zuerst wird er aller Wahrscheinlichkeit nach sehr schnell laufen, aber er hat[89] keine Ausdauer. In dem kleinen Schotten jedoch ist Race; sehen Sie sich einmal seine gute Körperhaltung und den breiten Brustkasten an! Das ist ein Subject, dem solche Kraftanstrengung nichts Neues ist; er hat sich gewiß mehr als ein Mal mit Vorliebe im Lauf an Ort geübt, d.h. beim Springen von einem Fuß auf den andern mindestens zweihundert Bewegungen in der Minute gemacht. Wetten Sie auf ihn, Sie werden es nicht zu bereuen haben.«

Ich folgte wirklich seinem Rath und wettete auf Wilmore. Die vier Läufer außer den Genannten standen nicht in Frage.

Die Plätze wurden nun verloost, und der Irländer hatte das Glück' die Zielleine zu bekommen. Die sechs Renner stellten sich in eine Linie an der Grenze des Pfahls auf, und so war kein falscher Ablauf zu befürchten, was das Amt des Commissars sehr vereinfachte.

Das Signal wurde gegeben, und ein Hurrah begleitete den Ablauf. Die Kenner bemerkten augenblicklich, daß Wilmore und O'Kelly Schnellläufer von Profession waren, denn ohne sich auch nur im Mindesten um ihre Nebenbuhler zu kümmern, die ihnen mit aller Anstrengung vorauseilten, liefen sie mit vorgebeugtem Oberkörper, aber gerade aufgerichtetem Haupt, den Oberarm an's Brustbein gedrückt und die Handwurzeln leicht nach vorn gebogen, vorwärts, und begleiteten jede Bewegung des entgegengesetzten Fußes mit einer entsprechenden Bewegung der Hände. Sie waren barfuß, und ihre Ferse, die übrigens nie den Boden berührte, ließ ihnen die nothwendige Elasticität, um die angesammelte Kraft zu bewahren. Kurz, alle Bewegungen ihrer Gestalt entsprachen und vervollständigten einander.

Schon bei der zweiten Tour hatten O'Kelly und Wilmore, die immer auf derselben Linie blieben, ihren Gegnern, deren Athem bereits kurz geworden war, den Rang abgelaufen. Sie bewiesen mit Evidenz den Grundsatz des Doctors:

»Man läuft nicht mit den Beinen, sondern mit der Brust! Feste Kniekehlen, und gut auf den Beinen sein ist eine schöne Sache, aber eine gute Lunge gilt mehr!«

Bei der vorletzten Wendung begrüßten die Rufe der Zuschauer von Neuem ihre Lieblinge; von allen Seiten flogen ihnen Aufmunterungen, Hurrahs und Bravos zu.[90]

»Der Kleine wird gewinnen, er hat noch seinen vollen Athem, sagte Pitferge. Sehen Sie nur, wie der Große keucht!«

Wirklich sah Wilmore, wenn auch blaß, doch ganz ruhig aus, während O'Kelly schon dampfte wie ein feuchtes Strohfeuer. Er war, um einen Kunstausdruck der Sportsmen zu gebrauchen, »au fouet«, hielt sich jedoch noch immer mit Wilmore in derselben Linie.

Endlich waren sie an den großen Gesellschaftssaal gelangt, dann kamen sie an das Shine-Light der Maschine und nun zum dritten Mal an den Pfahl.

»Hurrah! Hurrah! Wilmore! riefen die Einen.

– Hurrah! O'Kelly! die Anderen.

– Wilmore hat gesiegt!

– Nein, sie kamen Beide zusammen an.

– Wilmore hat gewonnen, wenn auch höchstens um eine halbe Kopflänge«, entschied der sehr ehrenwerthe Mac Karthy. Viele jedoch wollten sich mit diesem Ausspruch nicht zufrieden geben und ergingen sich in Discussionen und derben Worten. Die Anhänger des Irländers, und unter ihnen ganz besonders Harry Drake, behaupteten, daß man es mit einem unentschiedenen Wettlauf, einem »Dead Head« zu thun habe, und verlangten, daß das Rennen noch einmal beginnen solle.

In diesem Augenblick bemerkte ich, wie Fabian sich, wahrscheinlich von einer unwillkürlichen Bewegung hingerissen, Harry Drake näherte und in kaltem Tone sagte:

»Sie sind im Unrecht, mein Herr, der schottische Matrose hat gesiegt.«

Drake trat heftig an Fabian heran:

»Was beliebt Ihnen? fragte er.

– Ich sage, daß Sie im Unrecht sind, antwortete Fabian ruhig.

– So? schrie Drake roh auflachend, wahrscheinlich weil Sie auf Wilmore gewettet haben!

– Ich habe, wie Sie, auf O'Kelly gewettet und werde natürlich bezahlen, was ich verloren habe, entgegnete Fabian.

– Herr, unterstehen Sie sich, mich hier zu belehren?« rief Drake wüthend, aber er vollendete seine Worte nicht; Hauptmann Corsican war bereits zwischen ihn und Fabian getreten, um den Streit auf eigene Rechnung weiter zu[91] führen, und behandelte Drake mit der größten Verachtung und dem unzweideutigsten Hohn.

Augenscheinlich jedoch wollte der Raufbold nichts mit Corsican zu thun haben, denn als dieser mit gekreuzten Armen vor ihm stand, wandte sich Drake an Fabian und sagte mit boshaftem Lächeln:

»Der Herr hat wohl seine Freunde nöthig, um sich zu vertheidigen?«

Fabian erbleichte und wollte auf Harry Drake zustürzen, aber ich hielt ihn mit aller Kraft zurück, während auf der anderen Seite Drake von seinen Spießgesellen fortgezogen wurde, nachdem er noch einen Blick des wüthendsten Hasses auf seinen Gegner geschleudert hatte.

Archibald Corsican, Fabian und ich gingen miteinander hinab, und als wir uns trennten, sagte Fabian Mac Elwin in ruhigem Ton:

»Bei der ersten Gelegenheit werde ich den Kerl ohrfeigen!«

Fußnoten

1 Turf, Bahn für Pferderennen.


Quelle:
Jules Verne: Eine schwimmende Stadt. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XIX, Wien, Pest, Leipzig 1877, S. 92.
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Eine schwimmende Stadt
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