Vierzehntes Capitel.
Zermah beim Werke.

[387] So sehr die beiden Texars sich sonst zu beherrschen verstanden, verloren sie, Zermah gegenüber jetzt doch fast alle Fassung. Seit ihrer Kindheit, konnte man wohl sagen, war es jetzt zum erstenmale, daß eine dritte Person sie bei einander sah und diese dritte Person war ihre unversöhnliche Feindin. In der ersten Erregung hierüber wollten sie sich schon auf sie stürzen und das Weib ermorden, um das Geheimniß ihrer Doppelexistenz zu bewahren...

Das Kind hatte sich in den Armen Zermah's aufgerichtet, und seine kleinen Hände ausstreckend, schluchzte es:[387]

»Ich fürchte mich!... Ich fürchte mich!«

Auf ein Zeichen der beiden Brüder trat Squambo rasch auf die Mestizin zu, packte sie an der Schulter und drängte sie in ihren Wohnraum zurück, dessen Thüre er hinter ihr verriegelte.

Dann begab sich Squambo wieder zu den beiden Texars. Seine ganze Haltung verrieth, daß sie nur zu befehlen brauchten – er würde gehorchen. Immerhin hatte jene unvorhergesehene Scene sie weit mehr, als ihr tollkühner, gewaltthätiger Charakter erwarten ließ, beunruhigt.

Ihre Blicke kreuzten sich wie fragend.

Zermah hatte sich inzwischen in einer Ecke ihrer Kammer niedergeworfen, nachdem sie das kleine Mädchen auf die Streu aus dürren Blättern niedergelegt. Ihre fieberhaft erregten Pulse beruhigten sich wieder, und sie schlich nach der Thüre hin, um zu belauschen, was jetzt draußen gesprochen werden würde, wo jedenfalls in der nächsten Minute das ihrer harrende Loos entschieden werden sollte. Die beiden Texars und Squambo hatten jedoch den Wigwam verlassen und ihre Worte drangen nicht mehr bis zu Zermah's Ohr.

Das kurze Gespräch der drei Männer lautete übrigens wie folgt:

»Zermah muß sterben!

– Unbedingt! Wenn es ihr gelingen sollte, zu entwischen, ebenso wie wenn es den Föderirten glückte, sie uns hier abzunehmen, wären wir auf jeden Fall verloren. Drei Zoll Eisen ihr in's Herz!

– Sofort!« erklärte Squambo.

Er begab sich schon, mit dem Jagdmesser in der Hand, nach dem Wigwam, als einer der beiden Texars ihn zurückhielt.

»Halt an! sagte dieser. Zermah verschwinden zu lassen, wird immer noch Zeit sein, wenn wir eine andere Pflegerin des Kindes an ihre Stelle gesetzt haben, jetzt brauchen wir sie noch als solche. Zunächst laßt uns versuchen, über die augenblickliche Sachlage Klarheit zu erhalten. Auf Befehl Dupont's durchsucht jetzt eine feindliche Abtheilung den Cypressenwald – wohlan, so streifen wir durch die Umgebungen der Insel und über den See. Nichts deutet vorläufig darauf hin, daß diese nach dem Süden hin ziehende Abtheilung sich der Küste nähere; geschieht es doch, so bleibt uns noch Zeit genug zur Flucht; geschieht es nicht, so bleiben wir eben hier und lassen sie ruhig tiefer nach Florida hinein marschiren. Dort ist die kleine Truppe in unserer Gewalt, denn wir gewinnen damit Zeit genug, den größten Theil der im Lande umherirrenden Milizen zu[388] sammeln. Statt jene zu fliehen, werden wir sie vielmehr mit hinreichenden Kräften verfolgen. Es muß uns ein Leichtes sein, ihnen den Rückweg abzuschneiden, und wenn dem Gemetzel vom Kissimmee noch einzelne Seeleute zu entgehen vermochten, so wird diesmal kein einziger der Feinde zurückkehren.«

Unter den gegebenen Verhältnissen war das offenbar das klügste Verfahren. Eine große Anzahl Südstaatler befand sich zur Zeit in dem umgebenden Lande und wartete nur auf die Gelegenheit zu einem erfolgversprechenden Handstreiche gegen die Föderirten. Wenn einer der beiden Texars mit seinen Leuten Kundschaft eingezogen hatte, wollten sie sich entscheiden, ob sie noch auf der Insel blieben oder mehr in der Richtung nach dem Cap Sable zurückwichen. Zur Ausführung wurde der folgende Tag bestimmt. Was Zermah anging, behielt Squambo den Auftrag, deren Stillschweigen – wie auch der morgende Auszug ausfiele – durch einen Dolchstoß zu sichern.

»Das Kind jedoch betreffend, setzte einer von dem würdigen Brüderpaare hinzu, liegt es in unserem eigenen Interesse, es am Leben zu erhalten. Das hat nicht verstehen können, was Zermah verstanden hat, und es kann als Preis für unsere Auslösung dienen, im Falle wir in Howick's Hände geriethen. Um seine Tochter zurückzukaufen, wird James Burbank auf alle Bedingungen eingehen, die zu stellen uns beliebt, nicht allein auf die Zusicherung unserer Straflosigkeit, sondern er wird obendrein noch jeden Preis zahlen, den wir für die Freigebung seines Kindes fordern.

– Doch wird die Kleine, warf der Indianer ein, nicht selbst untergehen, wenn Zermah todt ist?

– Nein, denn an Pflege soll es ihr nicht mangeln, antwortete der eine Texar, und ich werde ja leicht eine Indianerin finden, um die Mestizin zu ersetzen.

– Mag sein! Vor Allem aber handelt es sich darum, daß wir von Zermah nichts mehr zu fürchten haben.

– Sie wird bald, es komme, was da will, nicht mehr unter den Lebenden sein!«

Hiermit endete das Gespräch der beiden Brüder, und Zermah hörte sie wieder in den Wigwam eintreten.

Welch' entsetzliche Nacht verbrachte das unglückliche Weib! Sie wußte, daß ihr ein gewaltsamer Tod bevor stand und dachte an sich selbst doch gar nicht.

Um ihr Schicksal bekümmerte sie sich schon deshalb nicht, weil sie von jeher bereit gewesen war, auch das Leben für ihre geliebte Herrschaft hinzugeben. Aber[389] Dy, die arme Dy ließ sie dann in der Gewalt dieser gefühllosen Schurken zurück. Selbst zugestanden, daß diese ein Interesse an dem Leben des Kindes hatten, würde dasselbe nicht dem Untergange verfallen sein, wenn ihm die sorgsame Pflege Zermah's abging?

Da drängte sich ihr ein Gedanke mit solcher Hartnäckigkeit – man könnte sagen, fast in Gestalt einer fixen Idee – auf, der Gedanke zu fliehen, ehe Texar sie von dem Kinde getrennt hatte.

Während dieser scheinbar endlosen Nacht grübelte die Mestizin nur über die Möglichkeit, ihren Plan auszuführen, nach. Jedenfalls hatte sie aus jenem Gespräche unter Anderm die Gewißheit erlangt, daß einer von den Texars nebst deren Leuten am folgenden Tage die Umgebungen des Sees durchsuchen wollte. Offenbar konnte dieser Zug nicht unternommen werden, ohne die Möglichkeit, der föderirten Abtheilung, wenn man derselben begegnete, wenigstens einigen Widerstand zu leisten. Texar ließ sich also sicherlich von allen seinen Leuten und von den durch seinen Bruder zugeführten Parteigängern begleiten. Letzterer selbst würde ohne Zweifel auf der Insel zurückbleiben, sowohl um hier nicht erkannt zu werden, wie um den Wigwam zu bewachen. Dann aber wollte Zermah um jeden Preis entfliehen. Vielleicht fand sie zufällig auch irgendwelche Waffe, von der sie im Falle einer Ueberraschung Gebrauch zu machen gewiß nicht zögern wollte.

Die Nacht verrann. Vergebens hatte Zermah sich bemüht, aus allen Geräuschen, die auf der Insel hörbar wurden, einen verläßlicheren Schluß zu ziehen, und zwar immer mit der ersehnten Hoffnung, daß die Mannschaft des Capitäns Howick doch noch hierher vordringen könnte, um sich Texar's zu bemächtigen.

Wenige Minuten vor dem eigentlichen Tagesanbruch erwachte, nachdem sie sich ein wenig erholt, das kleine Mädchen wieder. Zermah reichte ihm ein paar Tropfen Wasser, die es erfrischten. Dann drückte sie dasselbe, mit einem Blicke, als wenn ihre Augen es niemals mehr wiedersehen sollten, zärtlich in die Arme. Wäre Jemand in diesem Augenblicke eingetreten, um ihr das Kind zu entreißen, so würde sie dasselbe mit der Wuth der Löwin, der man ihr Junges rauben will, vertheidigt haben.

»Was fehlt Dir, gute Zermah? fragte das Kind.

– Ach, nichts... nichts! murmelte die Mestizin.

– Und Mama... wann sehen wir die Mama wieder?

– Bald... versicherte Zermah. Vielleicht noch heute!... Ja, mein Herzenslieb!... Heute, hoff' ich, werden wird noch weit weg kommen...[390]

– Und die garstigen Männer, die ich diese Nacht gesehen habe?...

– Diese Männer, antwortete Zermah lebhafter, hast Du sie richtig gesehen?

– Ja, ich fürchtete mich sogar vor ihnen!

– Aber Du hast sie ordentlich angesehen, nicht wahr?... Du hast auch bemerkt, wie ähnlich sie einander waren?...

– Ja wohl, Zermah.

– Nun gut; so merke Dir einmal, daß Du Deinem Vater oder Deinem Bruder sagen mußt, es seien das zwei Brüder... hörst Du wohl, zwei Brüder Texar, die einander so ähnlich aussehen, daß man sie, selbst wenn sie zusammen sind, kaum unterscheiden kann.

– Aber Du... wirst Du das auch sagen?... erwiderte das kleine Mädchen verwundert.

– Ich?... Natürlich!... Doch wenn ich nicht da wäre, darfst Du es nicht vergessen...

– Und warum solltest Du nicht da sein? fragte das Kind, während es die Aermchen um den Hals der Mestizin schlang, als wollte es sich fester an diese anklammern.

– O, ich werde ja da sein, mein Lieb; ja wohl, ich bin dann da! – Jetzt, wenn wir von hier fortgehen – und wir haben einen weiten Weg vor uns – müssen wir dafür sorgen, Kräfte zu haben... Ich werde Dein Frühstück zurecht machen.

– Und Du?

– Ich habe gegessen, während Du schliesst, und spüre keinen Hunger mehr.«

In Wahrheit hätte bei dem Zustande der Ueberreizung, unter dem Zermah eben litt, diese auch nicht das Geringste zu essen vermocht. Nachdem es sein dürftiges Mahl verzehrt, legte sich das Kind wieder auf seine Lagerstatt nieder.

Zermah nahm darauf Stellung neben einer breiteren Ritze, welche die Stöcke der Wand an der Ecke des kleinen Raumes zwischen sich ließen. Hier beobachtete sie eine Stunde lang unausgesetzt, was draußen vorging, da das für sie von größter Bedeutung war.

Sie sah da, wie man sich zum Aufbruche rüstete. Einer der beiden Brüder – nur einer – leitete die Zusammenstellung der Truppe, welche er nach dem Cypressenwalde führen wollte. Der andere, den Niemand erblickt hatte, mußte sich offenbar, entweder im Innern des Wigwam oder in irgend einem Winkel der Insel, verborgen halten.[391]

Das glaubte wenigstens Zermah, da sie wußte, mit welch' ängstlicher Sorgfalt die beiden Brüder ihr Geheimniß zu behüten trachteten. Sie sagte sich, daß wahrscheinlich dem Zurückbleibenden die Aufgabe zugefallen wäre, sie selbst und das Kind zu überwachen.

Wie wir bald sehen werden, täuschte Zermah sich nicht.

Inzwischen hatten sich, in Erwartung der Befehle ihres Anführers, die Parteigänger und die Sclaven in einer Anzahl von etwa fünfzig Köpfen vor dem Wigwam versammelt.

Es mochte gegen neun Uhr Morgens sein, als die Truppe sich anschickte, nach dem Saume der Waldung überzutreten, was immerhin einige Zeit in Anspruch nahm, da die vorhandene einzige Pirogue nur fünf bis sechs Mann faßte. Zermah bemerkte, wie die Männer in kleineren Gruppen hinab- und am jenseitigen Ufer wieder hinaufstiegen. Durch die Wandspalte konnte sie übrigens die Oberfläche des Wassers selbst nicht sehen, da diese ein gutes Stück tiefer als das Niveau der Insel lag.

Texar, der bis zuletzt zurückgeblieben war, verschwand dann ebenfalls und nahm einen der Hunde mit, dessen Spürsinn bei dem Zuge benützt werden sollte. Auf ein Zeichen seines Herrn trabte der andere Leithund nach dem Wigwam zurück, als hätte es ihm allein obgelegen, die Thür desselben zu bewachen.

Ganz kurze Zeit darauf bemerkte Zermah auch Texar, der am entgegengesetzten Uferrand empor klomm und nur ein Weilchen stehen blieb, um seine Truppe zu ordnen. Dann verschwanden Alle, Squambo an der Spitze, hinter dem hohen Röhricht unter den ersten Bäumen des Waldes. Höchst wahrscheinlich hatte einer der Schwarzen die Pirogue zurückzuführen gehabt, damit Niemand nach der Insel hinüber gelangen könne. Die Mestizin konnte ihn jedoch nicht sehen und glaubte deshalb, er werde längs des Canalrandes hingegangen sein.

Jetzt galt es, nicht länger zu zögern.

Dy war eben wieder erwacht und es war schmerzlich, ihren abgemagerten Körper unter der durch so viele Strapazen abgenützten Kleidung zu sehen.

»Komm nun, mein Lieb, rief sie Zermah.

– Wohin denn? fragte das Kind.

– Dorthin... in den Wald!... Vielleicht finden wir dort Deinen Vater, Deinen Bruder!... Du wirst Dich doch nicht fürchten?

– Mit Dir niemals!« versicherte das kleine Mädchen.[392]

Dann öffnete die Mestizin vorsichtig die Thür des Raumes. Da sie in dem nebenliegenden Gelaß keinen Laut vernommen, setzte sie voraus, daß Texar sich nicht im Wigwam befinden könne.

Wirklich war hier Niemand.

Zunächst suchte Zermah nun nach einer Waffe, von der Gebrauch zu machen sie fest entschlossen war, wenn irgend Jemand sie zurückzuhalten versuchen sollte. Auf dem Tische lag eines jener langen, breitklingigen Messer, deren sich die Indianer bei ihren Jagdzügen zu bedienen pflegen.


Zermah sah die Männer hinabsteigen. (S. 392.)
Zermah sah die Männer hinabsteigen. (S. 392.)

Die Mestizin ergriff dasselbe[393] und verbarg es unter ihrer Kleidung; sie nahm auch noch etwas getrocknetes Fleisch, um nöthigenfalls für einige Tage mit Nahrung versehen zu sein.

Jetzt handelte es sich ihr darum, aus dem Wigwam hinauszukommen. Zermah blickte durch den Spalt in der Wand nach dem Canale hin. Auf diesem Theile der Insel zeigte sich kein lebendes Wesen, nicht einmal der eine Hund, der zur Bewachung der Wohnung zurückgelassen worden war.

In dieser Hinsicht beruhigt, versuchte die Mestizin, die äußere Thür zu öffnen.

Diese aber – von außen verschlossen – widerstand ihren Bemühungen.

Sofort kehrte Zermah mit dem Kinde nach dem Wohnraume zurück. Jetzt blieb ihr nur der eine Ausweg übrig, die schon in der Wand des Wigwams vorhandene Oeffnung hinreichend zu erweitern.

Das war keine zu schwierige Aufgabe; sie konnte dazu das Jagdmesser benützen, mit dem sie das Rohrgeflecht der Wand durchschnitt, und das vollbrachte sie, ohne dabei das geringste Geräusch zu erregen.

Doch wenn jener Spürhund, der Texar nicht gefolgt war, vorläufig unsichtbar blieb, würde derselbe nicht kommen, wenn Zermah sich draußen befand? Würde er dann nicht sie und das Kind mit gewohnter Wuth überfallen? Das wäre ungefähr dasselbe gewesen, als wenn sie sich einem Tiger gegenüber befunden hätte.

Dennoch durfte sie keinen Augenblick zaudern. Nach Verbreiterung der Oeffnung zog Zermah das Kind an sich und umfing es in zärtlichster Umarmung. Das kleine Mädchen gab ihr jeden Kuß mit Zinsen zurück. Sie hatte begriffen, daß sie fliehen, durch diese Oeffnung fliehen mußten.

Da erscholl plötzlich ein wüthendes Gebell. Noch ziemlich weit entfernt, schien es von der Westseite der Insel herzukommen. Zermah hatte das Kind ergriffen. Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Sie glaubte sich nicht eher in verhältnißmäßiger Sicherheit, als bis sie hinter dem Röhricht des anderen Ufers verschwunden war.

Freilich, den etwa hundert Schritte langen Zwischenraum, der den Wigwam vom Canal trennte, zu überschreiten, war der allergefährlichste Theil ihres kühnen Vorhabens. Sie lief ja dabei Gefahr, entweder von Texar oder von einem der auf der Insel zurückgebliebenen Sclaven bemerkt zu werden.

Glücklicher Weise erstreckte sich zur Rechten des Wigwams ein dichtes Gewirr baumartiger, mit Rohr durchsetzter Gesträuche bis zum Rande des Canals und bis wenige Schritte von der Stelle, wo die Pirogue liegen mußte.[394]

Zermah beschloß zunächst in dieses, sie gut verbergende Dickicht zu flüchten, was sie denn auch sogleich ausführte. Die hohen Gewächse gewährten den beiden Flüchtlingen einen Durchgang und schlossen sich hinter diesen wieder zusammen. Das Bellen des Hundes war augenblicklich nicht mehr zu hören.

Dieses Durchschlüpfen des Dickichts gelang freilich nicht ohne Mühe. Sie mußten sich dabei durch das Gezweig der Büsche drängen, die oft nur einen sehr beschränkten Raum zwischen sich ließen. Bald hingen Zermah's Kleider in Fetzen herunter und von ihren Händen tröpfelte das Blut, doch das kümmerte sie nicht, wenn sie nur das Kind davor schützen konnte, von den langen spitzen Dornen verletzt zu werden – der muthigen Mestizin konnten diese Stiche und Risse keinen Schmerzenslaut abnöthigen. Trotz ihrer sorgsamsten Aufmerksamkeit zog sich das kleine Mädchen doch da und dort an Händen und Armen kleine Verwundungen zu. Doch auch Dy stieß keinen Schrei aus und ließ keine Klage über ihre Lippen kommen.

Obwohl die zu durchmessende Strecke nur kurz – höchstens gegen siebenzig Schritte lang – war, so bedurfte es doch nicht weniger als einer halben Stunde, um den Canal zu erreichen.

Zermah stand hierauf still und blickte durch das Rohr erst noch einmal nach der Seite des Wigwams und dann nach der des Waldes scharf hinaus.

Unter dem Hochwald der Insel war kein Mensch zu bemerken; ebensowenig am anderen Ufer ein Zeichen der Anwesenheit Texar's und seiner Begleiter, die sich jetzt wahrscheinlich schon eine oder zwei Meilen weit im Innern befanden. Trafen sie dabei nun nicht mit einer feindlichen Abtheilung zusammen, so war ihre Rückkehr vor Ablauf einiger Stunden nicht zu gewärtigen.

Zermah konnte jedoch nimmermehr glauben, daß sie im Wigwam ganz allein zurückgelassen worden wäre. Ebensowenig war anzunehmen, daß der Bruder Texar's, der mit seinen Anhängern am Vortage eintraf, während der Nacht die Insel schon wieder verlassen haben werde, und noch weniger, daß der zweite Spürhund mit ihm fortgegangen sei. Außerdem hatte die Mestizin ja vorher ein Gebell vernommen – ein Beweis, daß der Hund doch irgendwo unter den Bäumen umherstreifte. Jeden Augenblick konnte Einer oder der Andere vor ihr auftauchen.

Der Leser erinnert sich, daß Zermah, als sie den Abzug der Begleiter Texar's beobachtete, die Pirogue bei der Fahrt über den Canal nicht wahrnehmen konnte, da dessen Bett durch die Höhe und den dichten Stand des Rohres verdeckt wurde.[395]

Die Mestizin zweifelte jedoch gar nicht daran, daß diese Pirogue durch einen der Sclaven zurückgerudert worden sei. Das erforderte ja schon die Sicherheit des Wigwams für den Fall, daß die Soldaten des Capitän Howick die Südstaatler zurückgeworfen und versprengt hätten.

Wenn die Pirogue aber doch am jenseitigen Ufer zurückgeblieben war, wenn man es für rathsam erachtet hätte, sie nicht zurückzuschicken, um dem von den Föderirten zu hart bedrängten Texar und seiner Truppe einen schnelleren Uebergang zu ermöglichen, was sollte dann die Mestizin beginnen, um nach der anderen Seite zu gelangen? Dann blieb ihr auf den ersten Blick nur übrig, vielleicht in den Hochwald der Insel zu flüchten und etwa abzuwarten, bis der Spanier tiefer drin in den Evergladen selbst einen neuen Zufluchtsort aufsuchte. Doch wenn er das that, geschah es gewiß nicht, ohne vorher Alles zu versuchen, um Zermah nebst dem Kinde wieder in seine Gewalt zu bringen. Die Hauptsache für sie blieb also, die Pirogue benutzen zu können, um zum anderen Ufer des Canals zu gelangen.

Zermah hatte nur sechs bis acht Schritte weit durch das Röhricht vorzudringen. Hier angelangt, hielt sie ein...

Die Pirogue lag am anderen Ufer.

Quelle:
Jules Verne: Nord gegen Süd. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LII–LIII, Wien, Pest, Leipzig 1889, S. 387-396.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Nord gegen Süd
Nord gegen Süd
Nord gegen Süd Band 2 (Collection Jules Verne)
Nord gegen Süd

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Frau Beate und ihr Sohn

Frau Beate und ihr Sohn

Beate Heinold lebt seit dem Tode ihres Mannes allein mit ihrem Sohn Hugo in einer Villa am See und versucht, ihn vor möglichen erotischen Abenteuern abzuschirmen. Indes gibt sie selbst dem Werben des jungen Fritz, einem Schulfreund von Hugo, nach und verliert sich zwischen erotischen Wunschvorstellungen, Schuld- und Schamgefühlen.

64 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon