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[298] Am nämlichen Tage, am 17. März, kehrten James und Gilbert Burbank, Mr. Stannard und seine Tochter nebst dem Gatten Zermah's nach der Ansiedlung von Camdleß-Bay zurück.
Frau Burbank konnte die Wahrheit nicht wohl verhehlt werden.
Für die unglückliche Gattin war das ein neuer Schlag, der bei dem Zustande der Schwäche, in dem sie sich befand, leicht tödtlich werden konnte.
Der letzte Versuch, das Schicksal ihres Kindes aufzuhellen, hatte sich erfolglos erwiesen, da Texar jede Antwort verweigerte. Und wie hätte man diesen auch zu einer solchen zwingen können, da er behauptete, mit der Entführung nichts zu thun gehabt zu haben? Und das behauptete er nicht allein, sondern es bewies ein nicht weniger als alle früheren unerklärliches Alibi, daß er zu der Zeit, wo das Verbrechen begangen wurde, in der Marino-Bucht gar nicht hatte sein können. Da ihn das Gericht in Folge dessen von der erhobenen Klage freisprechen mußte, verschwand auch die Möglichkeit, ihn vor die Wahl einer harten Strafe oder[298] eines Geständnisses zu stellen, welches wenigstens auf die Spuren seiner Opfer hätte führen können.
»Doch, wenn es Texar nicht gewesen ist, wiederholte Gilbert, auf wem lastet dann dieses Verbrechen?
– Es kann ja durch seine Leute begangen worden sein, meinte Mr. Stannard, ohne daß er dabei persönlich anwesend war.
– Das wäre die einzige annehmbare Erklärung, sagte Edward Carrol.
– Nein, lieber Vater; nein, Herr Carrol! versicherte Miß Alice. Texar befand sich in dem einen Boote, während das andere unsere kleine Dy fortführte... Ich habe ihn gesehen... habe ihn noch in dem Augenblicke erkannt, als Zermah mit einem letzten Hilferuf seinen Namen ausstieß... Ich habe ihn gesehen... ganz sicher und bestimmt gesehen.«
Niemand wußte eine Antwort auf eine so bestimmt abgegebene Erklärung, nach der ein Irrthum ihrerseits, wie das junge Mädchen im Castle-House wiederholt erklärte, ebensowenig unterlaufen konnte, wie vorher, als sie ihre Aussage im Fort Marion eidlich erhärtete. – Freilich blieb damit noch immer unaufgeklärt, wie der Spanier sich in dem Augenblicke hatte unter den Gefangenen in Fernandina befinden und an Bord eines der Fahrzeuge des Commodore Dupont zurückgehalten werden können.
Doch wenn sich auch bei allen Anderen leise Zweifel über diesen Punkt regen mochten, bei Mars war dies nicht der Fall. Er suchte gar nicht zu begreifen, was einmal unbegreiflich schien, wie er sagte, und, entschlossen, den Spuren Texar's nachzufolgen, hoffte er, ihm sein Geheimniß schon noch entwinden zu können, und müßte er es ihm durch die Folter entreißen.
»Du hast Recht, Mars, antwortete Gilbert. Im Nothfalle müssen wir freilich ohne diesen Schurken unser Ziel zu erreichen suchen, denn wir wissen nicht, was jetzt aus ihm geworden und wohin er gegangen ist. Wir nehmen unsere Nachsuchungen wieder auf. Ich habe Urlaub, so lange Zeit, wie es mir nöthig erscheint, auf Camdleß-Bay zu bleiben, und schon von morgen an...
– Ja, ja, Herr Gilbert, fiel Mars ein, von morgen an!«
Der Mestize begab sich nach seinem Zimmer, wo er seinem Schmerze und seinem Zorne gleichmäßig freien Lauf lassen konnte.
Am folgenden Tage trafen Gilbert und Mars ihre Vorbereitungen zum Aufbruche. Sie wollten die nächsten zwölf Stunden dazu benützen, mit größter Sorgfalt alle Einbuchtungen und kleinen Eilande flußaufwärts von Camdleß-Bay[299] an beiden Ufern des Saint-John abzusuchen. Während ihres Fernbleibens sollten James Burbank und Edward Carrol die nöthigen Maßregeln zur Ausführung eines umfassenden Zuges treffen. Lebensmittel, Schießbedarf, Transportmittel und Mannschaft – nichts sollte dabei vernachlässigt werden, um denselben zu gutem Ende zu führen.
Wurde es nothwendig, sogar bis in die verwilderten Theile des unteren Florida vorzudringen, quer durch die Evergladen inmitten der Sümpfe des Südens, so würde man deshalb nicht zögern. Es schien ja unmöglich, daß Texar das Gebiet des Staates verlassen haben könnte; denn bei dem Versuche, nach Norden hin auszuweichen, wäre er den föderirten Truppen in die Hände gefallen, welche längs der Grenze von Georgia standen. Wollte er über das Meer entkommen, so konnte das nur durch eine Fahrt über die Meerenge von Bahama erfolgen, um dann vielleicht Zuflucht auf den englischen Lucayen zu suchen. Die Schiffe des Commodore Dupont hielten aber alle Wasserstraßen vom Mosquito-Eiland bis zum Eingange in jene Meerenge besetzt und außerdem übten die Schaluppen derselben eine effective Blockade über das ganze Küstengebiet aus. Nach dieser Seite hin bot sich dem Spanier also keine Aussicht zur Flucht. Er mußte in Florida sein und hielt sich wahrscheinlich ebenda verborgen, wo seine von dem Indianer Squambo bewachten Opfer nun schon seit vierzehn Tagen schmachteten. Der von James Burbank geplanten Expedition fiel also die Aufgabe zu, jene Schurken auf dem ganzen Gebiete von Florida aufzusuchen.
Uebrigens erfreute sich dieses ganze Gebiet jetzt einer vollkommenen Ruhe in Folge der Anwesenheit der Truppen aus dem Norden und der Schiffe, welche die östliche Küste im Schach hielten.
Wir brauchen wohl kaum hinzuzufügen, daß dieselben Zustände in Jacksonville herrschten, wo die früheren Beamten ihre Stellungen in der Stadtverwaltung wieder eingenommen hatten. Da gab es keine wegen ihrer lauen oder gegentheiligen Anschauungen eingekerkerten Bürger mehr, und die Spießgesellen Texar's, die sich in der ersten Stunde auf den Fersen der zurückweichenden Milizen aus dem Staube machten, waren nach allen Himmelsgegenden zerstreut.
Inzwischen nahm der Secessionskrieg in den Centralstaaten der Union einen für die Föderirten immer günstiger verlaufenden Fortgang. Am 18. und 19. März war die erste Division der Potomac-Armee beim Fort Monroe gelandet; am 22. schickte sich die zweite an, Alexandria zu verlassen, um jener mit derselben Bestimmung zu folgen. Trotz des militärischen Genies des ehemaligen Chemie-[300] Professors J. Jackson, der sich den Namen »Stonewall (das ist: Steinmauer) Jackson« erworben hatte, wurden die Südstaatler doch schon wenige Tage später in der Schlacht bei Kernstown auf's Haupt geschlagen. Für jetzt war demnach von einer etwaigen Erhebung in Florida nicht das Geringste zu fürchten, hier in dem Staate, der sich, was nicht genug hervorgehoben werden kann, gegenüber jenen den Norden wie den Süden erfüllenden Leidenschaften ziemlich theilnahmslos verhalten hatte.
Unter diesen Verhältnissen hatte das nach dem Ueberfalle der Pflanzung einstweilen zerstreute Personal von Camdleß-Bay nach und nach zurückkehren können. Nach der Einnahme Jacksonvilles hatten die Befehle Texar's und seines Bürgerausschusses bezüglich der Ausweisung der befreiten Sclaven ja keinerlei Geltung mehr. An jenem 17. März waren die meisten Familien der auf der Ansiedlung wieder eingetroffenen Schwarzen schon mit der Wiederaufrichtung ihrer Baracken beschäftigt. Gleichzeitig räumten zahlreiche Arbeiter die Trümmer der Zimmerplätze und Sägewerke hinweg, um den regelmäßigen Betrieb auf ganz Camdleß-Bay baldigst wieder aufnehmen zu können. Perry und seine Unterverwalter entwickelten unter der Leitung Edward Carrol's eine große Thätigkeit.
Wenn James Burbank ihm die Sorge, Alles anzuordnen, überließ, so kam das daher, daß er selbst eine andere Aufgabe zu erfüllen – daß er sein Kind wiederzufinden hatte, und er wollte also für einen nahe bevorstehenden Nachforschungszug alle Elemente seiner Expedition vereinigen. Eine Abtheilung von zwölf befreiten Schwarzen, ausgewählt unter denen, die ihm auf Gut und Blut ergeben waren, sollte ihn bei seinen Nachsuchungen begleiten, und man darf sicher glauben, daß die wackeren Leute sich dieser Aufgabe mit opfermuthigem Feuereifer unterzogen.
Nun blieb zunächst festzustellen, welche Richtung die Expedition einschlagen sollte, denn hierüber konnte man wohl im Zweifel sein. Ja, nach welchem Theile des Landes sollte der Zug denn gehen? Diese Frage mußte offenbar alle anderen überwiegen.
Ein ganz unerwarteter Umstand, den einzig der Zufall herbeiführte, wies da mit ziemlicher Bestimmtheit darauf hin, welcher Fährte man, wenigstens zum Beginne des Zuges, zu folgen habe.
Am 19. fuhren nämlich Gilbert und Mars, die am frühen Morgen von Castle-House aufgebrochen waren, in einem der leichtesten Boote von Camdleß-Bay schnell den Saint-John hinaus. Keiner der Schwarzen von der Ansiedlung[301] begleitete sie bei diesen Nachsuchungen, welche sie jeden Tag an beiden Ufern des Flusses unternahmen. Sie bemühten sich dabei, so heimlich als möglich zu Werke zu gehen, um ja nicht den Verdacht etwaiger Spione zu wecken, welche auf Befehl Texar's die Umgebungen des Castle-House überwachen konnten.
An genanntem Tage glitten Beide längs des linken Ufers hin. Ihr unter dem hohen Schilf, das sich hinter den durch die Hochfluthen der Tag- und Nachtgleiche vom Lande losgerissenen Inseln erhob, hinschleichendes Fahrzeug lief nicht die geringste Gefahr, bemerkt zu werden. Für Boote, welche im eigentlichen Flußbette steuerten, wäre es vollständig unsichtbar gewesen; ebenso auch vom Ufer selbst aus, dessen Höhe gegen die Blicke jedes Lauschers schützte, der sich unter dem Blätterdache desselben aufhielt.
An jenem Tage wollten sie die verborgensten Einbuchtungen und selbst die kleinsten Zuflüsse, welche die Grafschaften Duval und Putnam zum Saint-John entsenden, aufsuchen und durchforschen.
Bis zum Weiler Mandarin erscheint der Fluß überall ziemlich sumpfig. Bei Hochwasser im Meer steigt dasselbe über seine niedrigeren Ufertheile, welche sich dann nicht vollständig wieder entleeren, wenn wieder soweit Ebbe eingetreten ist, um den Saint-John auf seinen gewöhnlichen Wasserstand zurückzuführen. Auf dem rechten Ufer nun steigt der Erdboben fast überall höher an. Dort sind die Maisfelder geschützt gegen die periodischen Ueberfluthungen, welche keine Cultur derselben gestattet hätten. Der Oertlichkeit selbst, wo sich die wenigen Häuser von Mandarin erheben und die sich in ein bis zur Mitte der Wasserstraße reichendes Vorland fortsetzt, kann man fast den Namen eines Hügels geben.
Weiter hinaus durchsetzen zahlreiche Inseln das mehr eingeengte Bett des Flusses, und, die weißlichen Blüthenmassen vieler prächtigen Magnolien wiederspiegelnd, wälzt sich das in drei Arme getheilte Wasser desselben mit der Fluth hinauf und sinkt mit der Ebbe wieder herunter – ein Wechsel, den die Flußschifffahrt binnen vierundzwanzig Stunden zwei Mal mit Vortheil benützt.
Nachdem sie in den westlichen Arm eingedrungen, durchsuchten Gilbert und Mars auch die geringsten Einschnitte und Durchlässe des Ufers; sie bemühten sich, zu erkennen, ob nicht die Mündung eines kleinen Rio unter dem Gezweige der Tropenbäume sich öffnete, dessen Windungen sie nach dem Innern hinein hätten folgen können. An dieser Stelle fanden sich schon nicht mehr die Sumpfniederungen des unteren Flußlaufes; vielmehr zeigte sich hier eine Art kleiner Thäler mit baumartigen Farren und Ambrabüschen, deren erste zarte Blüthen,[302] durch welche sich Guirlanden von Schlangenkraut und Aristolochia wanden, die Luft mit ihrem durchdringenden Geruch erfüllten. Wo sie aber hier und da solche kleine Zuflüsse entdeckten, hatten diese nur eine ganz geringe Tiefe und bildeten eigentlich nur Wasserfäden, die nicht einmal einem Skiff genug Wasser boten, vorzüglich, da die Ebbe sie fast ganz trocken legte. An deren Rande erhob sich nirgends eine Wohnstätte, höchstens vereinzelte, jetzt verlassene Jägerhütten, die schon seit langer Zeit unbenützt zu sein schienen. Wenn sich hier auch keine menschlichen Wesen aufhielten, hätte man doch glauben können, daß verschiedene Thiere in dieser Wildniß hausten. Das Gebell der Hunde, das Miauen von Katzen, das Quacken von Fröschen, wie das Pfeifen von Reptilien und das Kläffen von Fuchsen schlug einem dann und wann an's Ohr. Und doch gab es hier weder Füchse noch Katzen, Frösche, Hunde oder Schlangen; Alles kam nur auf den Schrei des fast jede Thierstimme nachahmenden Katzenvogels hinaus, einer Art bräunlicher Drossel mit schwarzem Kopfe und orangerothem Schwanz, den die Annäherung des Bootes aus seinem Verstecke verscheuchte.
Es war jetzt etwa um drei Uhr Nachmittags. Eben glitt das leichte Fahrzeug mit seinem Vordertheile unter das düstere Dickicht riesenhaften Schilfrohrs, als ein kräftigerer Stoß mit dem Bootshaken, dessen Mars sich hier bediente, dasselbe durch eine grüne Wand trieb, welche ganz undurchdringlich schien. Jenseits dieser Wand glitzerte ein, vielleicht einen halben Acker großer Einschnitt, dessen durch ein dichtes Gewölbe von Tulpenbäumen gedecktes Wasser sich wohl noch niemals durch die Strahlen der Sonne erwärmt hatte.
»Da ist ein Teich, den ich bisher nicht gekannt, sagte Mars, der sich erhob, um den Verlauf der Uferwand an der entgegengesetzten Seite zu übersehen.
– So untersuchen wir ihn, antwortete Gilbert. Er muß wohl mit der Kette von Tümpeln zusammenhängen, welche in dieser Lagune zerstreut liegen. Vielleicht werden dieselben doch von einem Nebenflusse gespeist, der uns gestattet, weiter in's Innere dieses Gebietes einzudringen.
– Ganz recht, Herr Gilbert, bestätigte Mars, dort seh' ich auch schon die Oeffnung einer Fahrstraße im Nordwesten von uns.
– Kannst Du wohl angeben, fragte der junge Officier, an welchem Orte wir uns befinden?
– Ganz genau nicht, antwortete Mars, wenn das nicht die Lagune ist, welche man die Schwarze Bucht nennt. Uebrigens glaubte ich mit allen Leuten[303] im Lande, daß es unmöglich sei, zu Wasser in dieselbe einzudringen, und daß sie überhaupt nicht mit dem Saint-John in Verbindung stände.
– Befand sich in dieser Bucht nicht ehemals eine zur Abwehr der Seminolen errichtete Befestigung?
– Ja, Herr Gilbert. Doch schon seit langen Jahren hat sich der Eingang zur Bucht vom Flusse her geschlossen, und die Befestigung ist aufgegeben worden. Ich selbst bin übrigens nie bis dahin gekommen, und sie muß jetzt wohl in Trümmern liegen.
– Versuchen wir, dieselbe zu erreichen, sagte Gilbert.
– Ja, wir wollen es versuchen, stimmte Mars zu, obgleich die Sache ziemlich schwierig sein wird. Bald muß es mit dem Wasser zu Ende sein, und das sumpfige Land bietet uns dann nicht hinreichend festen Boden, um über denselben hinzuschreiten.
– Gewiß, Mars; so lange wir also genug Fahrwasser unter uns haben, bleiben wir natürlich in dem Boote.
– Verlieren wir keinen Augenblick, Herr Gilbert; es ist schon drei Uhr, und unter diesen Bäumen muß es zeitig Nacht werden.«
In der That war es jene Schwarze Bucht, in die Gilbert und Mars eingedrungen waren, Dank jenem Stoße mit dem Bootshaken, der ihr Boot unvermuthet durch die Schilfwand getrieben hatte. Wie wir wissen, war diese Lagune nur für ganz leichte Skiffs, wie Squambo ein solches gewöhnlich benützte, wenn er oder sein Herr sich nach dem Saint-John selbst hinaus begab, fahrbar. Um übrigens bis zu dem inmitten dieser umfänglichen Einbuchtung gelegenen Blockhause zu gelangen, das fast unentwirrbare Netzgewebe von Eilanden und schmalen Wasserstraßen zu passiren, mußte man mit deren tausend Windungen genau vertraut sein, und schon seit langen Jahren hatte sich bis hierher Niemand verirrt, ja, man glaubte wohl im Lande gar nicht an das Nochvorhandensein jener kleinen Befestigung; das gewährte natürlich der fremdartigen und verbrecherischen Persönlichkeit, die hier gewöhnlich einen Schlupfwinkel fand, ungestörte Sicherheit, und daher rührte auch das bisher unentschleierte Geheimniß, welches das Privatleben Texar's umhüllte.
Man hätte einen Ariadnefaden gebraucht, um sich durch dieses immer dunkle Labyrinth zu finden, welches die Sonne nicht einmal, wenn sie im Mittag stand, durchleuchtete. In Ermangelung dieses Fadens konnte es nur der Zufall geben, die Central-Insel der Schwarzen Bucht zu entdecken.[304]
Dieser unbewußten Führung mußten sich also auch Gilbert und Mars anvertrauen. Ueber den ersten freien Einschnitt hinweggekommen, steuerten sie in die Canäle ein, deren Gewässer jetzt mit der steigenden Fluth anwuchs, so daß selbst die engsten Durchlässe fahrbar schienen. Sie drangen dabei vorwärts, als triebe sie ein geheimes Vorgefühl, ohne sich zu fragen, wie sie wohl den Rückweg finden würden. Da sie einmal die ganze Grafschaft bis in's Kleinste durchsuchen wollten, so sollte auch kein Winkel in dieser Lagune ihrer Besichtigung entgehen.[305]
Nach einer halbstündigen Anstrengung mochten sie, wie Gilbert es schätzte, wohl eine gute Meile in die Bucht eingedrungen sein. Mehr als einmal hatten sie sich dabei, vor ein undurchdringliches Uferstück gelangt, wieder rückwärts wenden müssen, um eine andere Durchfahrt zu entdecken, doch bestand kein Zweifel darüber, daß sie sich in der Hauptrichtung nach Westen hin fortbewegten. Weder der junge Officier noch Mars hatte daran gedacht, an's Land zu gehen, was auch seine Schwierigkeiten gehabt hätte, da der Boden aller dieser Eilande den mittleren Wasserstand des Flusses nur um wenige Fuß überragte.
Jedenfalls schien es besser, das leichte Boot nicht eher zu verlassen, als bis eintretender Wassermangel dessen weiteres Vorwärtskommen verhinderte.
Dennoch hatten Gilbert und Mars diese eine Meile nur unter großer Anstrengung zurücklegen können. So kräftig er auch war, mußte der Mestize wohl ein wenig ausruhen. Er wollte das aber nicht früher, als bis sie ein größeres und höher ansteigendes Eiland erreicht haben würden, auf das durch Lücken in den Bäumen wenigstens einige Sonnenstrahlen herniederfielen.
»Da, das ist auffallend, sagte er plötzlich.
– Was meinst Du? fragte Gilbert.
– Dieses Eiland zeigt Spuren von Cultur,« antwortete Mars.
Beide sprangen ans Land und sahen, daß sie sich auf einem minder sumpfigen Ufer befanden.
Mars täuschte sich nicht; hier verriethen sich deutliche Spuren eines stattfindenden Anbaues. Da und dort sproßten einige Ignamen, und der Erdboden zeigte vier bis fünf offenbar von Menschenhänden gezogene Furchen; überdies stak noch eine zurückgelassene Haue in der Erde.
»Die Bucht ist demnach bewohnt?... fragte Gilbert.
– Das könnte man wohl glauben, erwiderte Mars, mindestens ist sie wahrscheinlich Waldläufern bekannt, vielleicht auch nomadisirenden Indianern, welche sich hier einiges Gemüse züchten.
– Dann wäre es auch nicht unmöglich, daß dieselben sich Wohnstätten... Hütten erbaut hätten...
– Nun, Herr Gilbert, wenn es nur eine solche giebt, werden wir sie auch finden.«
Sie hatten natürlich ein großes Interesse, zu wissen, welcher Art Leute diese Schwarze Bucht besuchen mochten, ob es sich dabei nur um Jäger aus den unteren Gebieten oder um Seminolen handelte, von denen manche Banden noch[306] immer durch die Sumpfländereien Floridas streifen. Ohne an die Rückkehr zu denken, begaben sich Gilbert und Mars also wieder in ihr Boot und drangen noch tiefer in die Schlangenwege der Bucht ein. Es schien, als ob eine Art Ahnung sie gerade nach den düstersten Theilen derselben hinzöge. Ihre an die verhältnißmäßige Dunkelheit, welche das dichte Laubwerk auf den Eilanden unterhielt, schon gewöhnten Blicke wandten sich nach allen Richtungen hin. Manchmal glaubten sie schon eine Wohnung zu entdecken, während es sich nur um einen von Baum zu Baum reichenden Blättervorhang handelte. Bald wieder sagten sie: »Da ist ein Mensch, der still steht und uns beobachtet!« – und es war doch nur ein seltsam gewundener alter Baumstumpf, dessen Profil einigermaßen die Seitenansicht eines Menschen wiedergab. Dann lauschten sie wieder voller Spannung... konnte ihnen die Kunde, welche sie durch die Augen nicht erhielten, vielleicht durch die Ohren wer den? Es genügte ja das geringste Geräusch, um die Anwesenheit eines lebenden Wesens in dieser Wüstenei erkennen zu lassen.
Eine halbe Stunde nach ihrem ersten Halt waren Beide nahe bei der Mittelinsel angelangt. Das in Ruinen liegende Blockhaus verbarg sich so vollständig unter dem Baumdickicht, daß sie davon nichts wahrnehmen konnten. Es schien sogar, als ginge die Bucht hier zu Ende und als würden die von Gestrüpp durchsetzten Wasserfäden völlig unfahrbar. Hier strebte noch eine ganz undurchdringliche Wand von Buschwerk empor und zwar zwischen den letzten Ausläufern der Canäle und den sumpfigen Wäldern, die sich auf dem linken Ufer des Saint-John durch die ganze Grafschaft Duval verbreiten.
»Es scheint mir unmöglich noch weiter vorwärts zu kommen, bemerkte Mars. Schon fehlt es an Wasser, Herr Gilbert...
– Und doch, erwiderte der junge Officier, haben wir uns bezüglich jener Spuren von Cultur nicht täuschen können, daß in dieser Bucht auch menschliche Wesen hausen. Vielleicht waren solche vor ganz kurzer Zeit... vielleicht sind sie gar jetzt noch hier?...
– Gewiß, stimmte Mars ihm zu, wir müssen aber den Rest des Tages benutzen, um nach dem Saint-John zurückzufahren. Schon naht die Nacht heran, bald wird tiefe Finsterniß herrschen, und wie sollen wir uns dann inmitten dieser gewundenen Canäle wieder zurecht finden? Ich glaube, Herr Gilbert, es ist am klügsten, wir kehren nun schleunigst um und beginnen diese Durchsuchung morgen bei Tagesanbruch von neuem. Kehren wir also wie gewöhnlich nach dem Castle-House zurück; dort melden wir, was wir gesehen haben, und stellen[307] unter günstigeren Bedingungen eine wiederholte und vollständigere Durchsuchung der Schwarzen Bucht an.
– Ja, es geht wohl nicht anders, meinte Gilbert; und doch, ehe wir aufbrechen, hätte ich gern...«
Gilbert hielt sich regungslos still, warf eben einen letzten Blick unter die Bäume hin und wollte schon das Boot wieder abstoßen lassen, als er Mars durch eine Handbewegung noch davon zurückhielt.
Der Mestize legte sofort die Ruder ein, richtete sich auf und lauschte auch selbst mit größter Aufmerksamkeit.
Ein Schrei oder vielmehr eine Art fortwährendes Wimmern, das mit den gewöhnlichen Lauten aus dem Walde gar nicht zu verwechseln war, ließ sich jetzt vernehmen. Es klang wie eine verzweifelte Klage, wie Schmerzenslaute eines menschlichen Wesens, welche diesem offenbar durch schwere Leiden abgerungen wurden. Man konnte darin die letzten Lebenszeichen einer Stimme erkennen, welche dem Verlöschen nahe war.
»Das ist ein Mensch! Er verlangt Hilfe!... Vielleicht liegt er im Sterben!
– Ja, bestätigte Mars; wir müssen zu ihm hin, müssen sehen, wer es ist!... Gehen wir an's Land!«
Das war im Handumdrehen geschehen. Nach sorgfältiger Festlegung des Bootes am Uferrand, sprangen Gilbert und Mars auf das Eiland und drangen unter die Bäume desselben ein.
Auch hier fanden sich verschiedene Spuren auf den durch das Dickicht gebrochenen Fußpfaden, sogar solche von menschlichen Tritten, deren Eindrücke der letzte Schimmer des Tages gerade noch erkennen ließ.
Von Zeit zu Zeit blieben Mars und Gilbert stehen, um zu lauschen, ob jene Klagelaute noch hörbar wären, da sie sich ja nur durch diese, und durch diese allein führen lassen konnten.
Beide vernahmen sie von neuem und jetzt schon weit näher. Trotz der mehr und mehr zunehmenden Dunkelheit mußte es ihnen offenbar gelingen, nach der Stelle vorzudringen, von der jene kamen.
Plötzlich ertönte ein schrecklicher Aufschrei, so daß sie über die einzuhaltende Richtung gar nicht im Unklaren sein konnten. Mit wenig Schritten hatten Gilbert und Mars ein dichtes Gebüsch erreicht und sahen sich hier einem schon röchelnden, neben einer Palissade auf der Erde liegenden Mann gegenüber.[308]
Von einem Messerstich in die Brust getroffen, entquoll dem Unglücklichen ein reichlicher Blutstrom und die letzten Seufzer kamen über seine erbleichten Lippen. Er hatte gewiß nur noch wenige Augenblicke zu leben.
Gilbert und Mars hatten sich über ihn hinabgebeugt. Er öffnete wohl noch einmal die Augen, bemühte sich aber vergebens, auf die an ihn gerichteten Fragen zu antworten.
»Wir müssen ihn genauer sehen können, diesen Mann! rief Gilbert. Eine Fackel! Einen brennenden Zweig her!«
Mars hatte bereits einen Zweig von einem der harzreichen Bäume gerissen, die in großer Anzahl auf dem Eilande wuchsen. Er zündete denselben an, und seine qualmende Flamme warf einige Helligkeit in den Schatten.
Gilbert kniete neben dem Sterbenden. Es war ein Schwarzer, dem Anscheine nach ein noch junger Sclave. Sein zerrissenes Hemd ließ eine klaffende Oeffnung in seiner Brust erkennen, aus der das Blut hervorquoll. Die Verwundung mußte eine tödtliche sein, da der Messerstich wohl durch die Lunge gedrungen war.
»Wer bist Du?... Wer bist Du?...« fragte Mars.
Keine Antwort.
»Wer hat Dich verwundet?«
Der Sclave vermochte keine Silbe hervorzubringen.
Inzwischen bewegte Mars den brennenden Zweig hin und her, um die Oertlichkeit zu erkennen, wo dieses Verbrechen begangen worden war.
Da bemerkte er erst besser die Palissade und durch das halb offenstehende Thor derselben die unbestimmten Umrisse des Blockhauses. Es war das wirklich die kleine Veste der Schwarzen Bucht, von deren Vorhandensein in der Grafschaft Duval wahrscheinlich Niemand etwas wußte.
»Die Befestigung!« rief Mars.
Und seinen Herrn neben dem armen Schwarzen zurücklassend, drang er durch das Thor in jene ein.
Binnen einer Minute war Mars durch das Innere des Blockhauses gelaufen und hatte in dessen Einzelräume, die sich von beiden Seiten nach dem mittleren größeren Raume öffneten, einen flüchtigen Blick geworfen. In dem einen fand er die Ueberreste eines Feuers, das sogar noch schwach rauchte. Die Befestigung war also bis vor ganz kurzer Zeit bewohnt gewesen. Doch welcher Art Leuten, Floridiern oder Seminolen, hatte dieselbe als Zufluchtsort gedient? Das mußten sie um jeden Preis erfahren und zwar von einem Verwundeten, der ihnen unter[309] den Händen zu sterben drohte. Sie mußten wissen, wer seine Mörder gewesen seien, die ja nur seit wenigen Stunden entflohen sein konnten.
Mars trat aus dem Blockhaus wieder heraus, lief im Innern der Einfriedigung um die Palissade herum, leuchtete mit seiner Fackel unter alle Bäume... Niemand! Wären Gilbert und er heute Morgen hierher gekommen, vielleicht hätten sie dann die Insassen der Befestigung angetroffen. Jetzt war es zu spät.
Der Mestize kehrte zu seinem Herrn zurück und meldete ihm, daß sie sich beim Blockhaus der Schwarzen Bucht befänden.
»Hat dieser Mann eine Antwort geben können? fragte er.
– Nein, erwiderte Gilbert, er ist jetzt ohne Bewußtsein, und ich fürchte sehr, daß er nicht wieder zu sich kommen wird.
– Versuchen wir, was uns möglich ist, Herr Gilbert, bat Mars. Hier liegt ein Geheimniß vor, das zu erforschen sicher von Wichtigkeit ist und das kein Mensch uns zu entschleiern vermag, wenn dieser Unglückliche todt ist.
– Ja, Mars, wir wollen ihn in die Befestigung tragen... Dort erholt er sich vielleicht noch einmal ein wenig... Wir können ihn nicht an dieser Stelle den Athem aushauchen lassen.
– Nehmen Sie die Fackel, Herr Gilbert, sagte Mars. Ich werde ihn schon tragen können.«
Gilbert ergriff den brennenden Harzzveig. Der Mestize nahm den Körper, der nur noch eine leblose Masse war, in die Arme, stieg die Stufen am Ausfallsthore hinauf, drang durch die Oeffnung, welche durch die Umfriedigung Eingang gewährte, und legte seine Last in einem der Zimmer der kleinen Befestigung nieder.
Der Sterbende wurde auf eine dicke Blätterlage gebettet. Mars ergriff darauf seine Kürbisflasche und führte sie ihm zwischen die Lippen.
Wenn auch nur schwach und in längeren Zwischenräumen, klopfte das Herz des Unglücklichen doch noch. Das Leben drohte ihm zu entfliehen... Sollte er sein Geheimniß vor dem letzten Athemzuge wirklich nicht mehr offenbaren?
Die wenigen Tropfen Branntwein schienen ihn ein wenig zu beleben, denn er öffnete noch einmal die Augen und richtete dieselben auf Gilbert und Mars, die ihn dem Tode abzuringen suchten.
Er wollte sprechen. Einige gurgelnde Laute – vielleicht ein Name – kamen mühsam über seine Lippen.[310]
»Rede!... Um Gotteswillen rede!«
Die maßlose Aufregung des Mestizen erschien ganz unerklärlich, als wenn das zu erreichende Ziel, dem er sein ganzes Leben gewidmet, von den letzen Worten dieses Sterbenden abhinge.
Der junge Sclave versuchte vergeblich, einige Silben hervorzubringen... er fand die Kraft dazu nicht mehr...
In diesem Augenblicke fühlte Mars, daß ein Stück Papier sich in dessen Westentasche befand.
Das Papier ergreifen, es entfalten und beim lodernden Scheine der Fackel lesen, war nur das Werk einiger Secunden.
Auf demselben fanden sich, mit einem Kohlenstifte geschrieben, folgende Worte:
»Entführt durch Texar in der Marino-Bucht... In die Evergladen... nach der Insel Carneral geschleppt.... Zettel diesem jungen Sclaven... für Mr. Burbank... anvertraut...«
Es waren Schriftzüge, welche Mars gar zu gut kannte.
»Zermah!...« rief er.
Bei Nennung dieses Namens schlug der Sterbende die Augen wieder auf und senkte, wie zur Bestätigung, ein wenig den Kopf.
Gilbert richtete ihn vorsichtig halb empor und fragte:
»Zermah?...
– Ja!
– Und Dy?...
– Auch.
– Wer hat Dich so schwer verletzt?
– Texar!«
Das war das letzte Wort des jungen Sclaven, der jetzt todt auf sein Blätterlager zurücksank.[311]
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