|
[312] Noch denselben Abend, kurz vor Mitternacht, waren Gilbert und Mars wieder im Castle-House zurück; doch welche Schwierigkeiten hatten sie zu überwinden gehabt, um aus der Schwarzen Bucht wieder herauszukommen! Als sie das Blockhaus verließen, begann schon die Nacht über das Thal des Saint-John[312] herabzusinken und unter den Bäumen der düsteren Lagune herrschte bereits tiefe Finsterniß. Ohne eine Art Instinct, der Mars jetzt in der Dunkelheit noch durch die engen Wasserstraßen und zwischen dem endlosen Inselgewirr leitete, hätten sie weder der Eine noch der Andere den Lauf des Flusses wieder finden können. Zwanzigmal mußte ihr Boot wohl vor einer geschlossenen Stelle Halt machen und wieder umkehren, um einen fahrbaren Weg aufzusuchen. Immer mußten sie frische harzreiche Zweige anzünden und am Vordertheile des Canots befestigen, um so gut es anging, das Fahrwasser zu beleuchten. Am allerschlimmsten gestalteten[313] sich diese Schwierigkeiten, als Mars sich bemühte den einzigen Ausgang zu finden, der dem Wasser der Bucht als Verbindung mit dem Saint-John diente. Der Mestize erkannte zuerst die Stelle nicht wieder, durch welche sie nur vor wenig Stunden hierher eingedrungen waren, obwohl er sie durch Umbrechen verschiedener Rohrstengel bezeichnet hatte.
Zum Glück war die Fluth im Fallen und das Boot konnte sich der Strömung überlassen, welche nach diesem natürlichen Abfluß hintrieb. Drei Stunden später und nachdem sie die zwanzig Meilen von der Schwarzen Bucht bis Camdleß-Bay in rascher Fahrt zurückgelegt, landeten Gilbert und Mars am Pier der Ansiedlung.
Im Castle-House wartete man ihrer. Noch hatten weder James Burbank noch einer der Seinigen ihre Zimmer aufgesucht, da Alle diese ungewöhnliche Verzögerung beunruhigte. Gilbert und Mars pflegten sonst stets mit Anbruch des Abends heimzukehren, und heute blieben sie so lange aus. Natürlich erfüllte das Alle mit einiger Angst, wenn man wie als Trost dafür auch die Erklärung darin zu finden meinte, daß sie wahrscheinlich eine neue Spur gefunden, daß ihre Nachforschungen vielleicht zu unerwartetem Erfolge geführt hätten.
Endlich kamen sie, und bei ihrem Eintritte in die Halle eilten ihnen Alle entgegen.
»Nun, wie steht's, Gilbert? rief James Burbank.
– Lieber Vater, antwortete der junge Officier, Alice hatte sich doch nicht getäuscht!... Texar ist es gewesen, der meine Schwester und Zermah entführte.
– Hast Du dafür Beweise?
– Hier, lies selbst!«
Gilbert reichte ihm das zerknitterte Stückchen Papier, welches die wenigen, von der Hand der Mestizin geschriebenen Worte trug.
»Ja, fuhr er fort, nun giebt's keinen Zweifel mehr, der Spanier ist der schurkische Räuber! Seine beiden Opfer hat er nach der kleinen Befestigung in der Schwarzen Bucht selbst gebracht oder dahin bringen lassen. Dort hat er gewohnt, ohne daß wir etwas davon ahnten. Ein armer Sclave, dem Zermah dieses Papierstückchen anvertraute, um es im Castle-House abzuliefern, und von dem sie jedenfalls erfahren hatte, daß Texar sich nach der Insel Carneral zurückzuziehen beabsichtigte, hat den Dienst, den er ihr leisten wollte, mit dem Leben bezahlen müssen. Wir haben ihn, von Texar's Hand tödlich verwundet, nur sterbend aufgefunden, und jetzt ist er todt. Doch wenn Dy und Zermah auch nicht mehr in der Schwarzen Bucht weilen, so wissen wir mindestens, nach[314] welchem Theile Floridas man sie geschleppt hat, nach den Evergladen nämlich, und von dort müssen wir sie uns holen. Schon morgen, lieber Vater, gleich morgen brechen wir auf...
– Wir sind bereit, Gilbert.
– Also morgen!«
In das Castle-House war ein neuer Hoffnungsschimmer eingezogen, denn jetzt brauchte man keine Zeit mehr in unfruchtbaren Nachforschungen zu vergeuden. Frau Burbank fühlte sich, als sie diese günstige Veränderung der Sachlage erfuhr, wie neu belebt, so daß sie die Kraft gewann sich aufzurichten und Gott für seine Gnade auf den Knien zu danken.
Der bestimmten Aussage Zermah's nach war es also Texar gewesen, der persönlich jenen frechen Raub an der Marino-Bucht geleitet, und ihn hatte Miß Alice ganz richtig in dem nach der Flußmitte zu steuernden Boote erkannt, wenn diese Thatsache auch mit jenem Alibi, auf das der Spanier sich berief, kaum in Uebereinstimmung zu bringen war. Wie konnte er zur Stunde, als jenes Verbrechen begangen wurde, gleichzeitig an Bord eines der Fahrzeuge des Geschwaders Gefangener der Föderirten gewesen sein? Ohne Zweifel mußte dieser Alibibeweis, ebenso wie die früheren, ein trügerischer, erlogener sein. Doch wie das zusammenhing und ob jemals das Geheimniß dieser Allgegenwart Texar's, von der er schon mehrfache Proben abgelegt, gelüstet werden würde, das konnte vorläufig Niemand sagen.
Im Grunde kam für den Augenblick wenig darauf an, da ja nun bekannt gegeben war, daß die Mestizin und das Kind anfänglich nach dem Blockhause in der Schwarzen Bucht und dann nach der Insel Carneral geschafft worden waren und daß man sie Texar dort wieder entreißen mußte. Diesmal sollte ihn nichts der härtesten Strafe entziehen, die er für seine schändlichen Verbrechen schon längst verdient hatte.
Jetzt galt es, keinen Tag zu verlieren. Die Evergladen lagen von Camdleß-Bay in sehr beträchtlicher Entfernung, deren Zurücklegung wenigstens einige Tage in Anspruch nahm. Zum Glücke war die von James Burbank vorbereitete Expedition, wie er versprochen, schon zum Aufbruch vom Castle-House bereit.
Die Karten der Halbinsel Florida zeigen, daß die Insel Carneral im sogenannten Okee-cho-bee-See gelegen ist.
Die Evergladen selbst bilden ein sumpfiges Gebiet, das bis an den Okee-chobee-See heranreicht und im südlichen Florida, ein wenig unterhalb des 27. Breitengrades,[315] zu suchen ist. Zwischen Jacksonville und jenem See rechnet man nahezu vierhundert Meilen (= 644 Kilometer). Ueberdies ist es ein sehr wenig besuchtes und jener Zeit fast unbekanntes Land.
Wäre der Saint-John bis zu seiner Quelle schiffbar gewesen, so hätte die Fahrt dahin rasch und ohne größere Schwierigkeiten ausgeführt werden können, höchst wahrscheinlich war dieser Wasserweg aber nur auf einer Strecke von hundertsieben Meilen, das heißt bis zum Georg-See, zu benützen. Weiterhin hätte in seinem beschränkten Bett, das von vielen Holmen übersäet und von Wasserpflanzen so ausgefüllt ist, daß kein hinreichendes Fahrwasser freibleibt, zumal da bei tiefstem Ebbestand da und dort der Grund fast trocken gelegt wird, ein einigermaßen belastetes Boot schon ernsthafte Hindernisse gefunden oder wenigstens beträchtliche Verzögerungen erleiden müssen. Erwies es sich dagegen ausführbar, denselben bis zum Washington-See, sehr nahe dem 28. Breitengrade und bis etwa zur Höhe des Kap Malabar, hinauszusegeln, so hätte man sich dem Ziele damit wesentlich genähert. Auf mehr durfte man jedenfalls nicht rechnen. Am richtigsten schien es, sich auf einen Landmarsch von zweihundertfünfzig Meilen vorzubereiten, der freilich durch eine beinahe ganz öde Gegend führte, in der alle Transportmittel und anderen Hilfsquellen fehlen mußten, deren eine rasch durchzuführende Expedition bedurfte. Unter Berücksichtigung aller dieser Umstände hatte James Burbank auch seine Vorbereitungen getroffen.
Am folgenden Tage, dem 20. März, waren alle Theilnehmer der Expedition auf dem Pier von Camdleß-Bay versammelt. James Burbank und Gilbert hatten nicht ohne ängstliche Unruhe Frau Burbank umarmt, die das Zimmer noch immer nicht verlassen konnte. Miß Alice, Mr. Stannard und die Unterverwalter hatten ihnen das Geleite gegeben. Selbst Pyg verabschiedete sich recht herzlich von Mr. Perry, für den er jetzt wirklich eine Art Zuneigung hegte. Er erinnerte sich ja der Lectionen, die ihm von Jenem über die Unzuträglichkeiten einer Freiheit, für welche er sich doch nicht reif genug fühlte, zutheil geworden waren.
Die Expedition bestand aus folgenden Mitgliedern: James Burbank, sein jetzt von der erlittenen Verwundung völlig wiederhergestellter Schwager Edward Carrol, sein Sohn Gilbert, der Oberverwalter Perry, Mars und dazu ein Dutzend Schwarze, die aus den muthigsten und ergebensten Leuten der Ansiedlung gewählt worden waren – zusammen siebzehn Personen. Mars kannte hinlänglich den Lauf des Saint-John, um sozusagen als Lootse dienen zu können, so lange[316] – unterhalb und oberhalb des Georg-Sees – der Wasserweg überhaupt zu Gebote stand. Die Schwarzen dagegen, lauter junge Männer, denen es an der Uebung im Rudern nicht fehlte, sollten ihre kräftigen Arme dransetzen, wo und wann es an der Strömung oder an günstigem Winde mangelte.
Das Fahrzeug, eines der größten von Camdleß-Bay, führte ein einziges Segel, das ihm bei Rücken-wie bei einem Seitenwinde gestattete, allen Windungen des manchmal sehr scharfe Winkel bildenden Fahrwassers zu folgen. Es trug übrigens Waffen- und Schießbedarf in hinreichender Menge, um James Burbank und seine Gefährten nichts von den Seminolen-Banden des unteren Florida oder von den Spießgesellen Texar's fürchten zu lassen, sofern der Spanier, etwa einige seiner Parteigänger um sich versammelt hatte, und auch diese Möglichkeit, welche den Erfolg des ganzen Zuges hätte in Frage stellen können, mußte wohl berücksichtigt werden.
Nun noch den letzten Abschied – Gilbert umarmte Miß Alice, und James Burbank drückte diese in die Arme, als wäre sie schon seine Tochter gewesen.
»Mein Vater... liebster Gilbert... rief sie, bringt mir unsere kleine Dy mit zurück!... Bringt mir mein Schwesterchen wieder!...
– Ja, meine theure Alice! antwortete der junge Officier, Du wirst – Du mußt sie wieder haben!... Gott gebe uns seinen mächtigen Schutz!«
Mr. Stannard, Miß Alice, die Unterverwalter und Pyg waren auf der Landungsbrücke zurück geblieben, als das große Boot von derselben abstieß, und Alle sandten diesem ein letztes Lebewohl nach, als es, von günstigem Nordostwind getrieben und von der ansteigenden Fluth unterstützt, hinter der kleinen Landzunge vor der Marino-Bucht verschwand.
Es war jetzt gegen sechs Uhr Morgens. Eine Stunde später segelte das Boot an dem Weiler Mandarin vorüber, und etwa um zehn Uhr befand es sich, ohne daß bisher die Ruder in Anspruch genommen worden wären, in der Höhe der Schwarzen Bucht.
Wie schlug da Allen das Herz, als sie nahe diesem linken Ufer des Flusses hinglitten, durch welches jetzt das höher stehende Wasser nach dem Hinterlande eindrang! Durch dasselbe Dickicht von Schilfrohr, von Cannas und Wurzelträgern waren ja Dy und Zermah anfänglich entführt worden. Hier hatten sie Texar und seine Helfershelfer seit länger als vierzehn Tagen so tief versteckt gehalten, daß nach dem schändlichen Raube auch keine Spur von ihnen zu entdecken[317] war. Zehnmal wenigstens waren James Burbank und Stannard, und nach diesen Gilbert und Mars bis zu dieser Höhe des Flusses hinausgefahren ohne eine Ahnung, daß das verfallene Blockhaus jenen als Gefängniß diente.
Heute hatte man natürlich keine Ursache, sich hier aufzuhalten, wo es ja galt, die Nachforschungen mehrere hundert Meilen weiter unten im Süden wieder aufzunehmen, und das Boot trieb also ohne Verzug an der Schwarzen Bucht vorüber.
Die erste Mahlzeit wurde in Gemeinschaft eingenommen. Mitgenommene Kisten und Koffer enthielten Nahrungsmittel für gut zwanzig Tage und daneben eine gewisse Anzahl Säcke, um diese weiter zu schaffen, wenn der Weg über Land eingeschlagen werden mußte. Verschiedene Lagergeräthe gestatteten überdies, am Tage oder in der Nacht in den dichten Waldungen, mit denen die Ufergelände des Saint-John überall bedeckt sind, Halt zu machen.
Gegen elf Uhr, als das Wasser zurückzusinken begann, blieb zwar der Wind noch günstig, doch wurden jetzt die Ruder in Thätigkeit gesetzt, um die gewünschte Fahrschnelligkeit beizubehalten. Die Schwarzen gingen also an's Werk, und unter dem Drucke ihrer fünf Ruderpaare glitt das Boot rasch den Fluß hinaus.
Mars stand am Steuer und führte das Fahrzeug mit sicherer Hand durch die Einzelarme, welche Inseln und Eilande im Saint-John so vielfach bilden. Er folgte dabei allemal den Durchfahrten, in welcher eine minder starke Strömung stattfand, bog aber stets ohne jedes Zaudern in dieselben ein. Niemals gerieth er dabei aus Irrthum in einen unfahrbaren Canal, niemals lief er Gefahr, auf einer Untiefe zu stranden, welche die Ebbe vielleicht bald ganz trocken legen sollte. Er kannte das Bett des Flusses bis zum Georg-See ebensogut, wie dessen Verlauf unterhalb Jacksonvilles, und er leitete jetzt das Fahrzeug mit derselben Sicherheit, wie die Kanonenboote des Commandanten Stevens, als er diese durch die Windungen bei der Barre lootste.
In diesem Theile seines Laufes war der Saint-John ganz öde und verlassen. Die Küstenschifffahrt auf demselben – wenn dieses Wort erlaubt ist – welche sonst im Interesse der Pflanzungen an seinen Ufern unterhalten wurde, war seit der Einnahme von Jacksonville gänzlich eingestellt worden. Wenn jetzt noch ein Boot auf demselben stromauf- oder abwärts hinglitt, so geschah das nur zur Befriedigung der Bedürfnisse der föderirten Truppen und zur Aufrechthaltung der Verbindung des Commandanten Stevens mit seinen Unterbefehlshabern. Sehr wahrscheinlich mußte übrigens oberhalb Picolata auch dieses geringe Leben auf dem Flusse aufhören.[318]
James Burbank traf vor diesem kleinen Flecken gegen sechs Uhr Abends ein. Eine Abtheilung nordstaatlicher Soldaten hatte hier den Landungsplatz besetzt. Das Boot wurde angerufen und mußte in der Nähe des Quais Halt machen.
Hier gab sich Gilbert Burbank dem in Picolata commandirenden Officier zu erkennen und konnte, da er vom Commandanten Stevens seinen Passierschein aufwies, ungehindert weiter fahren.
Dieser Aufenthalt hatte nur wenig Augenblicke in Anspruch genommen. Da sich jetzt schon wieder das Anschwellen der Fluth bemerkbar machte, wurden die Ruder eingezogen und das Boot schnitt rasch durch das Wasser zu den tiefen Wäldern hin, die sich auf jeder Seite des Ufers erhoben. Einige Meilen unterhalb Picolata trat an die Stelle desselben ein mehr sumpfreiches Land. Was dagegen den Wälderbestand am rechten Ufer angeht, so mußte man bis über den Georg-See hinaus gelangen, ohne dessen Ende gesehen zu haben. Auf diesem Ufer entfernen sie sich freilich ein wenig von dem Saint-John und lassen einen ziemlich breiten Streifen offenen Landes liegen, dessen sich die Cultur mit Recht bemächtigt hat. Hier dehnen sich weite Reisfelder aus oder solche mit spanischem Rohr und Indigo, und daneben bezeugen reiche Baumwollpflanzungen noch die Fruchtbarkeit der floridischen Halbinsel.
Kurz nach sechs Uhr schon hatten James Burbank und seine Begleiter hinter einer Biegung des Flusses den rothen Thurm des alten spanischen, seit einem Jahrhundert verlassenen Forts, der sogar die hohen Wipfel der großen Palmen am Ufer überragt, aus dem Gesicht verloren.
»Du fürchtest nicht, Mars, sagte da James Burbank, auch während der Nacht auf dem Saint-John weiter zu fahren?
– Nein. Herr Burbank, antwortete Mars, bis zum Georg-See stehe ich für Alles. Weiter werden wir ja sehen. Uebrigens haben wir keine Stunde zu verlieren, und da uns jetzt die Fluth begünstigt, gilt es dieselbe zu benützen. Je weiter wir hinauf kommen, desto schwächer wird sie freilich sein, aber doch noch anhalten. Meiner Meinung nach, sollten wir also immer Tag und Nacht weiter fahren.«
Mars' Vorschlag war durch die Umstände gegeben. Da er für ein ungehindertes Fortkommen eintrat, mußte man sich wohl seiner Geschicklichkeit anvertrauen, und sollte das auch nicht zu bereuen haben. Die ganze Nacht hindurch drang das Boot ohne Schwierigkeiten den Lauf des Saint-John hinauf, doch während einiger Stunden kam ihm dabei die Fluth zu Hilfe. Dann griffen[319] die Schwarzen wieder zu den Rudern, und so konnte man noch fünfzehn Meilen nach Süden zu zurücklegen.
Weder in dieser Nacht noch während des 22. März selbst wurde irgendwo Halt gemacht, alles ging ohne Störung ab, und auch im Laufe der nächsten zwölf Stunden ereignete sich keinerlei Zwischenfall. Der Oberlauf des Flusses schien vollständig verlassen. Man segelte sozusagen inmitten eines endlosen Waldes alter Cedern hin, deren Blättermassen sich zuweilen über den Saint-John vermischten und ein dichtes Laubgewölbe bildeten. Dorfschaften waren nirgends zu erblicken, und ebensowenig Pflanzungen oder Einzelwohnungen. Das Uferland mochte offenbar zu keinem Anbau geeignet sein, so daß keinem Ansiedler der Gedanke ankommen konnte, hier eine Pflanzung oder nur eine kleine Farm zu begründen.
Am 23. bei Tagesanbruch erweiterte sich der Fluß zu einer sehr ausgedehnten Wasserfläche, deren Ufer sich zuletzt von dem schier endlosen Wald abhoben. Das sehr flache Land wich bis zu den Grenzen eines mehrere Meilen entfernten Horizontes zurück.
Das Ganze bildete einen See – den Georg-See – den der Saint-John von Süden nach Norden durchfließt und dem er einen Theil seiner Wassermassen entnimmt.
»Ja, da ist der Georg-See, erklärte Mars, den ich schon besucht habe, als ich eine zur Erforschung des Oberlaufes des Flusses ausgesendete Expedition begleitete.
– Und wie weit, fragte James Burbank, befinden wir uns jetzt von Camdleß-Bay?
– Etwa hundert Meilen, antwortete Mars.
– Das ist also noch nicht ganz der dritte Theil der Strecke, die wir zurückzulegen haben, um bis zu den Evergladen zu gelangen, bemerkte Edward Carrol.
– Wie sollen wir uns nun verhalten, Mars? fragte Gilbert. Werden wir das Boot verlassen müssen, um längs eines der Ufer des Saint-John weiterzuziehen? Das würde ohne Mühe und Verzögerung nicht abgehen. Sollte es nicht möglich sein, nach Ueberschreitung des Georg-Sees dem Wasserlaufe noch bis zu dem Punkte zu folgen, wo er überhaupt unfahrbar wird? Könnten wir das nicht versuchen, selbst auf die Gefahr hin aufzulaufen und uns nicht wieder flott machen zu können? Mindestens verlohnt sich's der Mühe, es zu probiren. – Was meinst Du?[320]
– Versuchen wir es, Herr Gilbert,« erwiderte Mars.
In der That konnten sie ja etwas Besseres nicht thun. Die Fahrt auf dem Wasser ersparte ihnen ohne Zweifel so manche Anstrengung und manche Verzögerung.
Das Boot steuerte also über den Georg-See, immer mehr an dessen östlichem Uferrande hin.
In der Umgebung dieses Sees, auf dem sehr ebenen Lande, ist die Vegetation nicht so üppig wie am Strande des Flusses.
Große Sümpfe dehnen sich hier fast über Gesichtsweite hin aus. Einzelne den Ueberschwemmungen weniger ausgesetzte Theile des Bodens zeigen sich mit einem Teppich von schwärzlichem Moose bedeckt, zwischen dem in violetter Färbung abertausende von kleinen Champignons emporragen. Dieser beweglichen Erde hätte man sich gar nicht anvertrauen können, da der weiche Grund dem Fuße nirgends einen Stützpunkt darbot. Hätten James Burbank und seine Begleiter diesen Theil des floridischen Gebietes durchwandern müssen, so konnte ihnen das nur um den Preis der größten Anstrengungen, der tiefsten Entkräftung und unbegrenzt langer Verzögerungen gelingen, wenn sie sich nicht gezwungen sahen, überhaupt umzukehren. Nur Wasservögel allein – meistentheils die hier gewöhnlichen Plattsüßter-können sich in diese Sümpfe wagen, wo man auch unzählige Sarcellen, Enten und Wasserschnepfen antrifft. Da gab es Auswahl genug, um sich mit Mundvorräthen zu versehen, wenn das Boot mit Lebensmitteln zu karg ausgestattet gewesen wäre. Um auf diesen Ufern aber der Jagd obzuliegen, hätte man den Kampf mit einer ganzen Legion sehr gefährlicher Schlangen in den Kauf nehmen müssen, deren scharfes Zischen man aus dem Teppich von Algen und Wassermoosen hörte. Diese Reptilien fanden freilich ernsthafte Feinde in den Heerden weißer Pelikane, die zu diesem Kampfe bis auf's Messer vorzüglich ausgerüstet sind und längs der ungesunden Ufer des Georg-Sees immer umherschweifen.
Das Boot glitt indeß mit großer Schnelligkeit weiter. Das von frischem Nordwind geschwellte Segel trieb es in gewünschter Richtung vorwärts. Dank der günstigen Brise konnten die Ruder den ganzen Tag über in Ruhe bleiben. Mit Anbruch des Tages waren denn auch die dreißig Meilen Länge, welche der Georg-See von Norden nach Süden mißt, ohne jede Anstrengung zurückgelegt. Gegen sechs Uhr hielt James Burbank mit seiner kleinen Truppe an dem unteren Winkel, durch welchen der Saint-John sich in den See ergießt.
Wenn hier Rast gemacht wurde – übrigens ein Aufenthalt, der kaum eine halbe Stunde dauerte – so kam das daher, weil drei oder vier Häuser[323] an dieser Stelle eine Art Weiler bildeten. Sie waren von einigen jener floridischen Nomaden bewohnt, die sich zu Anfang der schönen Jahreszeit ausschließlich der Jagd und dem Fischfange widmen. Auf Edward Carrol's Vorschlag hin erachtete man es für gerathen, wegen des Vorüberkommens Texar's hier Erkundigungen einzuziehen, und man sollte das nicht bereuen.
Einer der Bewohner des Weilers wurde also befragt, ob er während der nächstvorhergegangenen Tage vielleicht ein Boot bemerkt habe, das über den Georg-See nach dem Washington-See zu gefahren sei – ein Boot, das sechs bis sieben Personen außer einer farbigen Frau und einem Kinde, einem kleinen Mädchen von weißen Eltern, getragen haben dürfte.
»Gewiß, antwortete der Mann, vor nur achtundvierzig Stunden sah ich ein Boot vorüberkommen, das jedenfalls dasselbe war, von dem Sie sprechen.
– Hat es sich an diesem Weiler aufgehalten? fragte Gilbert.
– Nein! Es schien sich sogar zu beeilen, den Oberlauf des Flusses zu erreichen. An Bord sah ich deutlich, fügte der Floridier hinzu, eine Frau mit einem Kinde, das sie in den Armen hielt.
– Meine Freunde, rief Gilbert, frohe Hoffnung! Wir sind bestimmt auf Texar's Spuren!
– Ja, bestätigte auch James Burbank. Er hat nur einen Vorsprung von achtundvierzig Stunden, und wenn das Boot uns nur noch wenige Tage zu tragen vermag, so holen wir ihn ein.
– Kennen Sie etwa den Lauf des Saint-John aufwärts vom Georg-See? fragte Edward Carrol den Floridier.
– Ja wohl, Herr, ich bin ihn selbst auf eine Strecke von über hundert Meilen hinausgefahren.
– Glauben Sie auch, daß er für ein Boot wie das unsrige schiffbar sein wird?
– Welchen Tiefgang hat dasselbe?
– Ungefähr drei Fuß, antwortete Mars.
– Drei Fuß? sagte der Floridier. Das wird an manchen Stellen knapp hergehen, doch wenn Sie immer das Fahrwasser sondiren, werden Sie schon bis zum Washington-See hinauskommen können.
– Und wie weit, fragte Carrol, befinden wir uns denn vom Okee-chobee-See?
– Gegen hundertfünfzig Meilen.[324]
– Ich danke, guter Freund.
– Stoßen wir also ab, rief Gilbert, und fahren wir so weit, bis uns das Wasser unter dem Kiele ausgeht.«
Jeder nahm seinen Platz wieder ein. Da der Wind gegen Abend abgeflaut hatte, wurden die Ruder wieder ausgelegt und kräftig gehandhabt. Rasch verschwanden die eingeengten Ufer des Flusses. Vor vollständigem Einbruche der Nacht waren bereits fünfzehn Meilen nach Süden zurückgelegt, und anzuhalten brauchte man nicht, da Alles vorgesehen war, um an Bord schlafen zu können.
Der Mond war fast voll. Das Wetter versprach klar genug zu bleiben, um die Schifffahrt nicht zu behindern. Gilbert hatte das Steuer ergriffen. Mars stand jetzt am Vordertheile mit einer langen Stange in der Hand. Er untersuchte unablässig den Grund, und wenn er auf diesen stieß, ließ er das Boot nach Back- oder Steuerbord wenden. Kaum berührte er fünf- bis sechsmal während dieser nächtlichen Fahrt den Boden, und konnte immer ohne größere Schwierigkeiten vorwärtskommen, so daß Gilbert gegen Morgen nach vier Uhr, als die Sonne sich zu zeigen begann, den während der Nacht zurückgelegten Weg auf nicht weniger als fünfzig Meilen abschätzte.
Wie günstige Aussichten hätte es James Burbank und den Seinen geboten, wenn der Fluß noch einige Tage schiffbar blieb und sie bis nahe an ihr Ziel führte! –
Im Laufe des Tages erhoben sich doch einige materielle Hindernisse. In Folge starkgewundenen Flußverlaufes traten sehr oft lange Landzungen in demselben hervor. Angehäufter Sand vervielfältigte noch die an und für sich vorhandenen Untiefen, welche man umschiffen mußte, was den Weg ebenso verlängerte, wie es merkbare Verzögerungen mit sich führte. Dazu konnte man den Wind nicht immer nach Wunsch benützen, wenn er auch, was die Hauptrichtung betraf, günstig blieb, da die zahlreichen Windungen die Richtung des Bootes gar zu oft änderten. Dann neigten sich aber die Schwarzen über ihre Ruder und entwickelten eine solche Kraft, als ob sie die verlorene Zeit wieder einzubringen sich bemühten.
Außerdem zeigten sich bald auch andere, dem Saint-John eigenthümliche Schwierigkeiten. Es waren das schwimmende Inseln, welche aus einer mächtigen Ansammlung einer wuchernden Pflanze bestanden, jener »Pistia«, die, von verschiedenen floridischen Forschern mit riesigem Lattich verglichen, sich auf der Wasserfläche ausbreitete. Diese Teppiche von Pflanzenfasern bieten nur den Fisch-[325] ottern und Reihern genügende Festigkeit, um sich darauf zu tummeln. Nun kam es sehr darauf an, sich nicht in diese vegetabilischen Massen zu verirren, aus denen man sich nur mit großer Mühe hätte befreien können. Als das Auftreten derselben gemeldet wurde, verwendete Mars denn auch alle Vorsicht darauf, sie zu vermeiden.
Was die Ufer des Flusses betrifft, so rahmten diese jetzt wieder dichte Wälder ein; doch enthielten sie nicht mehr die zahllosen Cedern, deren Wurzeln der Saint-John in seinem unteren Laufe badet. Hier streben vielmehr Unmassen von Fichten empor, und zwar eine Art jener australischen Fichten, welche inmitten dieser von hochstehendem Grundwasser getränkten Gebiete, die man unter dem Namen »Barrens« kennt, ganz vorzügliche Existenzbedingungen finden. Die fruchtbare Erde zeigt an diesen Stellen eine ganz außerordentliche Elasticität, welche da und dort soweit geht, daß ein Fußgänger völlig das Gleichgewicht verliert, wenn er sich auf dieselben wagt. Zum Glücke hatte die kleine Truppe James Burbank's eine solche Probe nicht zu bestehen. Der Saint-John trug sie noch immer durch die Gebiete des unteren Florida.
Der Tag verlief ohne Zwischenfall. Der Fluß blieb immer so öde wie vorher. Kein einziges Fahrzeug belebte seine Gewässer – keine Hütte erhob sich an den Ufern. Letzterer Umstand war eigentlich freudig zu begrüßen, denn man begegnet lieber Niemandem in diesen weltvergessenen Gegenden, wo solche Begegnungen manchmal recht schlimm ablaufen – die hiesigen Waldläufer, die Jäger von Profession und die Abenteurer aller Art gehören einmal zu den verdächtigsten Gesellen.
Daneben konnte man wohl auch fürchten, mit Milizen aus Jacksonville oder Saint-Augustine zusammenzutreffen, welche Dupont und Stevens zum Rückzuge nach dem Süden genöthigt hatten. Diese Möglichkeit erschien vielleicht am allerbedrohlichsten. Unter jenen Abtheilungen befanden sich ja gewiß auch Parteigänger Texar's, welche nur zu gern die Gelegenheit ergriffen hätten, sich an James und Gilbert Burbank zu rächen. Die kleine Truppe mußte aber jeden Kampf meiden, außer einen solchen mit dem Spanier selbst, wenn es nöthig wurde, die Gefangenen diesem mit Gewalt zu entreißen.
Die Fahrt James Burbank's und seiner Begleiter ging jedoch so ungehindert glücklich von statten, daß am Abende des 25. die Entfernung zwischen dem Georg- und dem Washington-See zurückgelegt war. Mit Erreichung des Randes dieses Kessels stagnirenden Wassers mußte das Boot endlich Halt machen.[326]
Die Schmalheit des Flusses und die geringe Tiefe seines Bettes verboten auf demselben jedes weitere Vordringen nach dem Süden.
Kurz, zwei Drittel des Zuges waren überwunden, und James Burbank und seine Gefährten befanden sich jetzt nur noch hundertvierzig Meilen von den Evergladen entfernt.
Ausgewählte Ausgaben von
Nord gegen Süd
|
Buchempfehlung
Die schöne Böhmin Bozena steht als Magd in den Diensten eines wohlhabenden Weinhändlers und kümmert sich um dessen Tochter Rosa. Eine kleine Verfehlung hat tragische Folgen, die Bozena erhobenen Hauptes trägt.
162 Seiten, 9.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro