[327] Der etwa zehn englische Meilen lange Washington-See ist einer der weniger bedeutenden in dieser Gegend des südlichen Florida. Sein seichtes Wasser scheint angefüllt mit Gras und allerlei Pflanzentheilen, welche die Strömung von den schwimmenden Wiesen abreißt; letztere aber bilden wahrhafte Nester von Schlangen, welche die Schifffahrt auf seiner Fläche sehr gefährlich machen. Er ist also meist ebenso verlassen wie seine Ufer, vorzüglich da auch hier weder Jagd- noch Fischfang erfolgreich zu betreiben ist, und nur selten geschieht es, daß sich Fahrzeuge vom Saint-John bis zu ihm verirren.
Im Süden des Sees setzt sich der Lauf des Flusses fort, der dann genau nach dem Süden der Halbinsel abbiegt. Er bildet da freilich nur noch einen Bach, dessen Quelle gegen dreißig Meilen weiter unten, zwischen dem 28. und 27. Grad der Breite liegt.
Oberhalb des Washington-Sees hört die Schiffbarkeit des Saint-John auf. Wie sehr James Burbank das auch beklagte, so mußte er doch auf die weitere Wasserfahrt verzichten und einen Weg über Land einschlagen, aber leider über ein sehr beschwerliches Terrain mit vielfachen Sümpfen und durch endlose Waldungen, deren von Rios und Wasserlachen unterbrochener Boden das Vorwärtskommen von Fußgängern merkbar erschweren mußte.
Die ganze Gesellschaft ging also ans Land. Die Waffen und die Säcke, welche den Nahrungsvorrath enthielten, wurden unter die Schwarzen gleichmäßig vertheilt. Das machte wenig Sorge und konnte das Personal der Expedition[327] kaum besonders anstrengen, so daß aus diesem Grunde keine Verzögerung zu gewärtigen war. Alles hatte man schon im Voraus bestens geordnet, und wenn Halt gemacht werden sollte, so konnte eine Art Lager binnen wenigen Minuten aufgeschlagen werden.
Zunächst ließ es Gilbert, unterstützt von Mars, sich angelegen sein, das Boot zu verbergen, da es ihm erklärlicherweise darauf ankam, dasselbe den Blicken Vorüberkommender zu entziehen, wenn eine Abtheilung Floridier oder Seminolen etwa nach den Ufern des Washington-Sees kam, und jedenfalls[328] wollte man sicher sein, es wiederzufinden. Unter den niederhängenden Baumzweigen des Ufers und zwischen dem riesenhaften Schilfrohr vor demselben ließ sich unschwer ein Platz für das Boot frei machen, dessen Mast schon vorher umgelegt worden war. Hier lag es unter dem dichten Grün so gut versteckt, daß es weder von der Wasser- noch von der Landseite her wahrgenommen werden konnte.
Neben der Sorge für sein eigenes Fahrzeug lag es Gilbert auch noch sehr am Herzen, womöglich ein anderes zu entdecken, das Boot nämlich, auf dem Dy und Zermah bis zum Washington-See geschafft worden waren. In[329] Ansehung der Unfahrbarkeit des Wassers hatte ja auch Texar dasselbe nothwendiger Weise in der Umgebung dieses kesselartigen Bassins, durch welches der See nach dem Flusse zu abfließt, zurücklassen müssen. Das, wozu James Burbank sich genöthigt sah, hatte der Spanier doch auch nicht umgehen können.
Aus diesem Grunde unternahm man denn in den letzten Tagesstunden sehr sorgfältige Untersuchungen, um jenes Boot aufzufinden. Es wäre das ein höchst schätzbares Merkzeichen und der Beweis gewesen, daß Texar den Fluß bis zum Washington-See benützt hätte.
Diese Nachforschungen blieben vergeblich. Das Boot konnte nicht entdeckt werden, ob nun die Nachsuchungen nicht weit genug ausgedehnt worden waren oder der Spanier jenes in der Annahme zerstört hatte, daß er, unter Aufgebung jedes Gedankens an eine spätere Rückkehr, dasselbe doch nicht wieder brauchen würde.
Doch wie beschwerlich mußte der Weg zu dem Washington-See und den Evergladen gewesen sein, wo es keinen Fluß mehr gab, um einer Frau und einem Kinde so langdauernde Strapazen zu ersparen. Mit schmerzlichster Empfindung stellten sich auch Alle die traurigen Scenen vor, wie Dy da von den Armen der Mestizin getragen, Zermah aber gezwungen gewesen war, den an den Marsch durch solche beschwerliche Gegenden gewohnten Männern nachzufolgen; sie gedachten der Beleidigungen, der Gewaltthätigkeiten, der Schläge, von denen sie gewiß nicht verschont blieb, um ihre Schritte zu beschleunigen, ihrer Bemühungen das kleine Mädchen vor dem Fallen zu bewahren, ohne daß sie dabei an sich selbst dachte. Mars stellte sich besonders lebhaft vor, wie seine Frau allen diesen Leiden ausgesetzt war; er erbleichte vor Wuth, und immer drangen ihm über die Lippen die Worte:
»Ich bringe Texar um!«
Warum befand er sich nicht schon auf der Insel Carneral, Auge in Auge jenem Elenden gegenüber, dessen schändliche Machinationen über die Familie Burbank so viel Unheil gebracht, der ihm Zermah, seine Gattin, geraubt hatte!
Das Lager war am Endpunkte des kleinen Cap aufgeschlagen worden, das sich vom nördlichen Winkel des Sees aus in diesen hinausstreckt. Es wäre ja unklug gewesen, sich mitten in der Nacht durch ein unbekanntes Gebiet zu wagen, wo der Gesichtskreis höchst beschränkt sein mußte. Nach kurzer Ueberlegung wurde denn auch beschlossen, den ersten Tagesschimmer hier abzuwarten, um dann erst den Marsch wieder aufzunehmen. Die Gefahr, sich in dem dichten Walde zu verirren, war eine zu große, als daß man sich ihr ohne Noth hätte aussetzen mögen.[330]
Die Nacht verlief übrigens ohne jede Störung. Um vier Uhr Morgens, als sich der Himmel am Horizont zu erhellen begann, wurde das Signal zum Aufbruche gegeben. Die Hälfte des Personals genügte schon zum Transporte der Lebensmittelsäcke und der Lagergeräthe. Die Schwarzen konnten einander also von Zeit zu Zeit ablösen. Alle, Herren und Diener, waren mit Minié-Gewehren, geladen mit je einer Kugel und vier Rehposten, und mit Colt-Revolvern bewaffnet, deren Gebrauch sich seit Anfang des Secessionskrieges unter beiden kämpfenden Theilen ganz außerordentlich verbreitet hatte. Unter diesen Verhältnissen konnten sie noch mit Vortheil einem halben Hundert Seminolen Widerstand leisten, und wenn es sein mußte, auch Texar angreifen, selbst wenn dieser eine gleiche Anzahl von seiner Partei um sich hatte.
Soweit es ausführbar erschien, empfahl es sich selbstverständlich, immer dem Saint-John nachzugehen. Der Fluß verlief jetzt direct nach Süden, also in der Richtung nach dem Okee-cho-bee-See hin, und er bildete gleichsam einen durch dieses Wälderlabyrinth ausgespannten Faden, dem man nachgehen konnte, ohne auf einen falschen Weg zu gerathen, und dem man also auch folgte.
Das machte sich unerwartet leicht. Auf dem rechten Ufer verlief eine Art Fußsteig – wie man solche zum Ziehen der Schiffe an manchen Strömen findet und der dazu dienen konnte, ein leichtes Boot weiter nach dem Oberlauf des Flusses hinauf zu schleppen. Die Gesellschaft schritt rasch dahin, Gilbert und Mars voran, James Burbank und Edward Carrol am Schlusse und der Verwalter Perry in der Mitte der Schwarzen, welche jede Stunde mit dem Tragen des Gepäckes abwechselten. Vor dem Aufbruche war noch eine kurze Mahlzeit eingenommen worden. Zu Mittag zum Essen, um sechs Uhr Abends zum Nachtmahl anzuhalten, still zu liegen, wenn die Dunkelheit einen Weitermarsch nicht gestattete, und sich wieder auf den Weg zu machen, wenn es möglich schien, durch den Wald fortkommen zu können, so lautete das angenommene Programm, welches auch stets streng eingehalten wurde.
Zuletzt galt es nun, um das östliche Ufer des Washington-Sees zu ziehen – übrigens ein ziemlich flaches und fast bewegliches Uferland. Hier traten wieder Wälder auf, doch weder der Ausdehnung noch der Dichtigkeit nach konnten sie sich mit den weiter hinaus liegenden messen, wo schon durch die Natur der dieselben bildenden Baumarten ihre Gedrängtheit bedingt wurde.
Hier erhoben sich nämlich nur Gehölze von Campeche-Bäumen mit kleinen Blättern und gelben Trauben, deren tief bräunlich gefärbtes Herz den bekannten[331] Farbstoff liefert; ferner mexikanische Ulmen, Guazumas mit weißlichen Blüthendolden, welche zu so vielerlei häuslichen Zwecken dienen und deren Schoten, wie man sagt, das hartnäckigste Erkältungsfieber – selbst das des Gehirns – heilen sollen. Da und dort finden sich auch einzelne Gruppen von Eichenbäumen, welche hier freilich nur als baumartige Gesträuche vorkommen, an Stelle der mächtigen Bäume, die sie in Peru, ihrem Vaterlande, bilden. Endlich dufteten an verschiedenen Stellen, in zahlreichen Exemplaren zusammenstehend und ohne je durch sachverständige Cultur unterstützt worden zu sein, mancherlei Blumen von lebhaften Farben, wie Gentianen, Amaryllis, Asclepias, deren seine Büschel zur Herstellung gewisser Gewebe dienen. Alle Pflanzen und Blumen aber – nach den Bemerkungen einer der competentesten Erforscher Floridas1 – die in Europa gelb oder weiß sind, bekleiden sich in Amerika mit den verschiedensten rothen Farbentönen, vom tiefsten Purpur bis zum zartesten Rosa.
Gegen Abend nahmen diese Gehölze ein Ende, um dem großen Cypressenwalde Platz zu machen, der sich bis zu den Evergladen hin ausdehnt.
Während dieses Tages hatte man einige zwanzig Meilen zurückgelegt, und Gilbert fragte sich, ob seine Gefährten sich nicht etwa zu erschöpft fühlten.
»Wir sind bereit, weiter zu ziehen, Herr Gilbert, antwortete einer der Schwarzen im Namen aller seiner Kameraden.
– Riskiren wir aber nicht, uns während der Nacht zu verirren? bemerkte Edward Carrol.
– Keineswegs, versicherte Mars, da wir auch ferner immer nur dem Saint-John nachzugehen brauchen.
– Und außerdem, fügte der junge Officier hinzu, wird die Nacht klar sein. Der Himmel ist ganz wolkenlos, und der gegen neun Uhr beginnende Mondschein muß bis zum Morgen anhalten. Uebrigens haben die Cypressen ein nur wenig dichtes Geäst, und die Dunkelheit darunter ist weniger tief, als in jedem anderen Walde.«
Man brach also wieder auf. Am folgenden Morgen nahm die kleine Gesellschaft, nachdem sie einen Theil der Nacht ununterbrochen weiter gezogen, ihr erstes Frühstück am Fuße einer jener gewaltigen Cypressen ein, die in dieser Gegend Floridas millionenweise vorkommen.
Wer diese Wunder der Natur nicht selbst gesehen hat, vermag sich kaum ein Bild davon zu machen. Man stelle sich eine in üppigem Grün prangende[332] Wiese, aber eine von hundert Fuß Höhe, vor, die von schnurgeraden Baumschäften – welche auf der Drehbank zugerichtet scheinen – getragen wird und auf der man ohne Schwierigkeit hinwandern zu können glauben möchte; darunter ist der Erdboden weich und sumpfig, und jahraus jahrein steht über dem undurchlässigen Untergrunde das Wasser, in dem es von Fröschen, Kröten, Eidechsen, Scorpionen, Wasserspinnen, Schlangen, Schildkröten und Sumpfvögeln jeder Art wimmelt. In den Kronen spielen, während Pirole, eine Art Goldammern mit metallisch glänzendem Gefieder, wie glitzernde Sterne umhergaukeln, Eichhörnchen, die von Zweig zu Zweig hüpfen, und zahlreiche Papageien erfüllen den Wald mit ihrem betäubenden Geschrei. Mit einem Worte, es ist eine merkwürdige, aber leider schwer zu bereisende Landschaft.
Der Grund und Boden, auf den man sich begab, mußte also sorgfältig besichtigt werden. Ein Fußgänger hätte hier leicht bis an die Achseln einsinken können. Mit einiger Aufmerksamkeit aber, und Dank der Klarheit des Mondes, der durch das obere Blätterwerk drang, konnte man – wohl oder übel – zurechtkommen.
Der Fluß bezeichnete wenigstens immer die einzuhaltende Richtung, und das war ein sehr glücklicher Umstand, denn alle diese Cypressen ähnelten sich ungemein mit ihren gewundenen, scheinbar abgedrehten, am Fuße ausgehöhlten Stämmen, welche lange, kleine Erhöhungen bildende Wurzeln über die Erde hintreiben und dann bis zur Höhe von zwanzig Fuß ihre cylindrischen Schäfte erhoben. Es sind das wirkliche Schirmstiele mit verdicktem Handgriffe, deren großer Stab einen ungeheuren grünen Sonnenschirm trägt, der freilich weder gegen Regen noch gegen Sonnenschein schützt.
Unter das endlose Dach dieser Bäume drangen James Burbank und seine Begleiter bald nach Tagesanbruch ein. Das Wetter war herrlich und jedenfalls kein Gewitter zu fürchten, das den Erdboden in einen ungangbaren Sumpf verwandelt hätte. Immerhin mußte man stets den Weg besonders auswählen, um die niemals trocknenden Lachen zu vermeiden; glücklicherweise sollten längs des Saint-John, dessen rechtes Ufer ein wenig höher liegt, die Schwierigkeiten minder groß sein. Abgesehen von dem Bette der Bäche, die sich in den Fluß ergießen und die man entweder eine weite Strecke umgehen oder an geeigneter Stelle durchwaten mußte, gab es nicht viel Ursache zur Verzögerung.
An eben diesem Tage wurde übrigens keine Spur gefunden, welche die Anwesenheit einer Abtheilung Südstaatler oder einer Seminolenbande angedeutet[333] hätte, ebenso wenig eine Fährte von Texar und seinen Genossen. Es war ja möglich, daß der Spanier einen Weg auf dem linken Flußufer eingeschlagen hatte. Doch das machte im Grunde genommen nichts aus. Längs des einen oder des anderen Ufers gelangte man ja geraden Weges nach dem unteren Florida, auf welches Zermah's Billet hinwies.
Als der Abend herankam, machte James Burbank für sechs Stunden Halt, während des übrigen Theiles der Nacht wurde der Marsch aber ohne Unterbrechung fortgesetzt, und schweigend zogen Alle durch den eingeschlafenen Cypressenwald. Kein Windhauch regte sich in dem düsteren Blättergewölbe. Der jetzt als Sichel am Himmel stehende Mond zeichnete scharf das seine Zweignetz auf den Erdboden, das in Folge der Höhe der Bäume hier vergrößert erschien. Vom Flusse, der über sein ganz schwach abfallendes Bett hinglitt, hörte man kaum ein leises Murmeln. Zahlreiche Untiefen, jetzt kleine Sandbänke, traten aus demselben hervor, und es wäre ganz leicht gewesen, ihn, wenn das nöthig wurde, zu überschreiten.
Am folgenden Morgen nahm die kleine Gesellschaft nach zweistündiger Rast in der einmal gewohnten Ordnung den Weg nach Süden wieder auf. Im Laufe des Tages riß nun freilich der leitende Faden wiederholt entzwei oder vielmehr er näherte sich dem Ende des Knäuels. In der That verschwand der Saint-John, jetzt nur noch ein schwacher Wasserfaden, bald unter einer Gruppe Chinabäume, welche sich von dessen Quelle nährten. Weiter hinaus verdeckte der Cypressenwald den Horizont auf Dreiviertel seines Umfanges.
An dieser Stelle fand sich auch ein nach Art der Eingeborenen hergerichteter Friedhof für Schwarze, die zum Christenthum übergetreten und ihrem katholischen Glauben auch bis zum Tode treu geblieben waren. Hier und da bezeichneten bescheidene Kreuze, einmal aus Holz und dann wieder aus Stein, welche an kleinen Erdhügeln standen, die Gräber zwischen den Bäumen. Zwei oder drei in der Luft befindliche Grabstätten, welche von im Sumpfe befestigten Pfählen getragen wurden, schaukelten im Winde je einen zum Skelett vermoderten Cadaver.
»Das Vorhandensein eines Friedhofes an dieser Stelle, bemerkte Edward Carrol, könnte wohl auf die Nähe eines Dorfes oder Weilers hindeuten.
– Der heute wohl nicht mehr existiren wird, setzte Gilbert hinzu, denn auf unseren Karten findet sich nicht die Spur eines solchen. Das Verschwinden von Dörfern im unteren Florida ist ja eine gar häufige Erscheinung, ob diese nun von den Bewohnern einfach verlassen oder von Indianern zerstört worden waren.[334]
– Nun sage, Gilbert, fragte James Burbank, wie werden wir jetzt, wo der Saint-John uns zu leiten fehlt, weiter vorwärts kommen?
– O, der Compaß wird uns schon die einzuhaltende Richtung angeben, lieber Vater, antwortete der junge Officier. Wie groß und dicht der Wald auch sein mag, so ist es damit doch unmöglich, sich darin zu verlieren.
– Also vorwärts, Herr Gilbert, drängte Mars, der sich während der Stunden der Nacht kaum auf der Stelle zu halten vermochte. Vorwärts, und Gott möge uns leiten!«
Eine halbe Stunde jenseits des Negerfriedhofes gelangte die kleine Gesellschaft unter das grüne Dach und mit Hilfe des Compasses wanderte sie ziemlich genau nach Süden hinab.
Während der ersten Hälfte dieses Tages ereignete sich nichts Erwähnenswerthes. Bisher hatte kein Zwischenfall diesen Forschungszug gehindert, doch würde das bis zum Ende so fortgehen? Sollte er das Ziel erreichen oder die Familie Burbank verurtheilt sein, zu verzweifeln? Das kleine Mädchen und Zermah nicht wieder zu finden, sie allem Elend preisgegeben, vielleicht Mißhandlungen aller Art ausgesetzt zu wissen und sie dem nicht entziehen zu können, wäre für Alle so gut wie die grausamste Strafe gewesen.
Gegen Mittag machte man Halt. Unter Berechnung des vom Washington-See zurückgelegten Weges schätzte Gilbert die Entfernung bis zum Okee-cho-bee-See noch auf fünfzig Meilen.
Acht Tage waren seit dem Aufbruche aus Camdleß-Bay verflossen, und mehr als dreihundert Meilen (gleich 480 Kilometer) mit außerordentlicher Schnelligkeit zurückgelegt worden, doch ist nicht zu vergessen, daß zuerst der Fluß bis zu seiner Quelle und dann der Cypressenwald niemals ein ernsthaftes Hinderniß geboten hatten. Bei dem Ausbleiben jener gewaltigen Regengüsse, welche den Lauf des Saint-John unfahrbar gemacht und das darüber hinaus liegende Land durchweicht hätten, hatte Alles in diesen schönen Nächten, welchen der Mond eine merkwürdige Klarheit verlieh, die Reise und die Reisenden begünstigt.
Jetzt trennte sie nur eine verhältnißmäßig kurze Entfernung von der Insel Carneral; bei der fortwährenden Uebung im Marschiren, die sie durch Tag und Nacht fortgesetzte Anstrengungen erlangt, hofften sie ihr Ziel vor Ablauf von achtundvierzig Stunden zu erreichen. Dann winkte die Lösung des Knotens, von der natürlich Niemand vorher sagen konnte, wie sie ausfallen würde.
[335] Doch wenn ein günstiges Geschick sie bisher unterstützt hatte, konnten James Burbank und seine Begleiter in der zweiten Hälfte des Tages wohl zu dem Glauben kommen, daß sie auf fast unüberwindliche Hindernisse stoßen möchten.
Nach der Mittagsmahlzeit war der Weg unter den gewöhnlichen Verhältnissen wieder aufgenommen worden. Das Terrain bot nichts Neues, sondern zeigte noch immer ausgedehnte Wasserlachen und halbausgetrocknete Vertiefungen, vor denen sie sich hüten mußten, neben jenen Bächen, die nicht anders als bis zum Knie im Wasser zu überschreiten waren. Alles in Allem wurde ihr Fortkommen aber durch solche Kleinigkeiten nicht sonderlich verlangsamt.
Da blieb Mars gegen vier Uhr Nachmittags plötzlich stehen. Dann, als die Uebrigen zu ihm herankamen, machte er sie auf deutlich am Boden eingedrückte Spuren aufmerksam.
»Es unterliegt gar keinem Zweifel, sagte James Burbank, daß hier vor nicht langer Zeit eine Anzahl Menschen vorübergekommen sind.
– Und zwar eine große Anzahl, fügte Edward Carrol hinzu.
– Von welcher Seite kommen jene Spuren und nach welcher Seite sind sie gerichtet? fragte Gilbert; das müssen wir vor Allem wissen, bevor ein weiterer Entschluß zu fassen ist.«
Die Fährte wurde also sorgfältig besichtigt.
Bis auf sechshundert Schritte weit nach Osten zu konnte man jenen Spuren, die sich aber auch noch weiter hinaus fortsetzten, unschwer folgen, doch schien es nutzlos, dieselben auch noch darüber hinaus zu untersuchen. Was durch die Richtung der Fußabdrücke bewiesen wurde, war die Gewißheit, daß hier eine Gesellschaft von wenigstens hundertfünfzig bis zweihundert Mann, die vom Ufer des Atlantischen Oceans gekommen schienen, diesen Theil des Cypressenwaldes durchzogen hatten. Nach Westen hin setzte sich diese Fährte nach dem Golf von Mexiko zu fort; sie durchschnitt also die Insel Florida durch eine Linie, die in dieser Breite nicht über zweihundert Meilen mißt. Man konnte auch erkennen, daß jene Truppe, ehe sie ihren Marsch in der nämlichen Richtung wieder aufnahm, genau an derselben Stelle, wie James Burbank und seine Begleiter, Halt gemacht hatte.
Nachdem Gilbert und Mars Allen dringend anempfohlen, sich für jeden Alarm fertig zu halten, konnten diese, als sie sich eine Viertelstunde weiter in den Wald hinein begaben, constatiren, daß die Fußspuren sich da geraden Weges nach Süden richteten.
Als Beide nach dem Halteplatz zurückgekehrt waren, sagte Gilbert:
»Vor uns ist eine Truppe von Männern, welche genau den Weg eingeschlagen haben, dem wir schon vom Washington-See aus folgen. Es sind bewaffnete Leute, denn wir haben Reste von Patronen gefunden, mit denen sie sich offenbar Feuer angezündet hatten, von dem man nur noch erloschene Kohlen sehen kann.
Wer diese Leute sind, weiß ich freilich nicht. Gewiß ist nur, daß sie sehr zahlreich sind und nach den Evergladen hinunterziehen.[339]
– Sollte es etwa eine Truppe nomadisirender Seminolen sein? fragte Edward Carrol.
– Nein, erwiderte Mars. Der Abdruck der Tritte beweist deutlich, daß diese Männer Amerikaner sind.
– Vielleicht Soldaten von der floridischen Miliz?... bemerkte James Burbank.
– Das könnte möglich sein, antwortete Perry. Sie scheinen in zu großer Zahl beisammen zu sein, um dem Personal Texar's angehören zu können...
– Wenn der Bursche nicht eine ganze Bande seiner Hilfstruppen zusammengerafft hat, sagte Edward Carrol. Da wäre es ja kaum zu verwundern, wenn deren mehrere Hundert wären...
– Gegen siebenzehn!... ließ sich da der Verwalter vernehmen.
– O, das macht nichts aus! rief Gilbert. Wenn sie uns angreifen oder wir gezwungen wären, sie anzugreifen, so wird Keiner von uns zurückweichen.
– Nein, nein!«... riefen alle die muthigen Gefährten des jungen Officiers.
Es war das ja ein gewiß ganz natürlicher Ausdruck ihrer Gesinnung; bei näherer Ueberlegung mußte man aber doch begreifen, daß ein solches Vorkommniß sehr böse Aussicht für sie bot.
Wenn sich dieser Gedanke aber wahrscheinlich Allen bald genug aufdrängte, so that er doch dem Muthe keines Einzigen Abbruch. So nahe dem Ziel nun auf ein Hinderniß, und auf welch' ernsthaftes Hinderniß, zu stoßen! Eine Abtheilung Südstaatler, vielleicht Parteigänger Texar's, die sich in den Evergladen dem Spanier anzuschließen suchten, um da den geeigneten Augenblick abzuwarten, wo sie wieder im Norden von Florida auftauchen konnten!
Ja, gewiß war so Etwas zu fürchten. Alle empfanden es. So blieben sie denn nach der ersten Aufwallung von Enthusiasmus auch nachdenklich still und blickten ihren jungen Führer an, wie fragend, was er nun zunächst bestimmen werde. Auch Gilbert selbst hatte sich diesem allgemeinen Eindruck nicht entziehen können. Bald aber warf er den Kopf wieder in die Höhe und rief:
»In Gottes Namen vorwärts!«[340]
1 Poussielque, der leider mit Tode abging, ehe er seine Forschungsreise vollenden konnte.
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