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[170] Wir hatten schon früher erwähnt, daß Westindien nicht weniger als dreihundert Inseln und Eilande umfaßt. Der Name Inseln kommt davon freilich, entweder infolge ihrer Ausdehnung oder ihrer sonstigen Wichtigkeit, nur zweiundvierzig Landerhebungen zu, und von diesen zweiundvierzig sollten die Preisträger der Antilian School wieder nur neun besuchen.
Diese gehörten alle zu der Gruppe der Kleinen Antillen und besonders zu denen Vor dem Winde. Die Engländer unterscheiden sie in zwei Teile; die, die im Norden von den Jungferninseln bis nach Dominique reichen, nennen sie die[170] Leeward Islands, und die, die zwischen Martinique und Trinidad liegen, die Windward Islands.
Es liegt jedoch kein Grund vor, diese Bezeichnung allgemein anzunehmen. Die ganze Inselwelt, die das amerikanische Mittelmeer im Westen begrenzt, verdient tatsächlich den Namen der »Inseln Vor dem Winde«; sie berührt zuerst der Passat, der hier in ostwestlicher Richtung webt.
In dem Netze dieser Inseln vermengen sich die Fluten des Atlantischen Ozeans mit denen aus dem Antillenmeere. Elisé Reclus hat sie deshalb auch mit den Pfeilern einer Riesenbrücke verglichen, zwischen denen die Strömungen hin- und herschwanken, die den Golf von Mexiko furchen.
Man darf diesen Golf jedoch nicht mit dem eigentlichen Antillenmeer verwechseln: Beide sind wohl unterschiedene Wasserbecken, die ihre besondere Gestalt und eine verschiedene Ausdehnung haben; das erste mißt nur fünfzehnhundert-, das zweite dagegen neunzehnhunderttausend Quadratkilometer.
Bekanntlich entdeckte Christoph Columbus 1492 Cuba, die größte der Antillen, nachdem er vorher die Inseln Conception, Fernandina und Isabella angelaufen hatte, wo der Genueser Seeheld die spanische Flagge aufpflanzte. Er glaubte damals freilich, seine Karavellen hätten die äußersten Landmarken Asiens, die Gewürzländer, erreicht, und er ist auch gestorben ohne Kenntnis davon, daß er den Fuß auf einen neuen Erdteil gesetzt hatte.
Seit jener Zeit haben sich verschiedene europäische Mächte in blutigen Kriegen mit entsetzlichen Metzeleien und unter immer neu auflodernden Streitigkeiten um das Gebiet der Antillen beworben, und es ist selbst heute noch nicht sicher, ob die Verhältnisse dort eine endgültige Regelung erfahren haben.1
Gegenwärtig entspricht folgende Aufzählung der dortigen Sachlage:
Eine unabhängige Insel: Haïti-Sankt-Domingo.
England gehörig: siebzehn Inseln.
Frankreich gehörig: fünf Inseln und die Hälfte von Saint-Martin.
Unter holländischer Oberhoheit: fünf und die andere Hälfte von Saint-Martin.
Spanische Inseln: zwei.
Dänische Besitzungen: drei.
Zu Venezuela gehörig: sechs Inseln.[171]
Zu Schweden endlich: eine Insel. (Inzwischen von Schweden abgetreten.)
Was den Namen »Westindien« für die Antillen betrifft, so erklärt sich dieser aus dem Irrtum des Christoph Columbus bezüglich der geographischen Zugehörigkeit seiner Entdeckungen.
Die ganze Gruppe, vom Eilande Sombrero im Norden bis Barbados im Süden, d. i. die der Kleinen Antillen, erstreckt sich über eine Fläche von sechstausendvierhundertacht Quadratkilometern. England besitzt davon dreitausendfünfhundertfünfzig. Frankreich zweitausendsiebenhundertsiebenundsiebzig und Holland einundachtzig Quadratkilometer.
Alle Inseln zusammen zählen siebenhundertzweiundneunzigtausend Einwohner, wovon vierhundertachtundvierzigtausend auf England, dreihundertsechsunddreißigtausend auf Frankreich und achttausendzweihundert auf Holland kommen.
Die dänischen Besitzungen gehören mehr zur Gruppe der Jungferninseln, von denen dreihundertneunundfünfzig Quadratkilometer mit vierunddreißigtausend Bewohnern unter dänischer, und hundertfünfundsechzig Quadratkilometer mit fünftausendzweihundert Bewohnern unter britischer Oberhoheit stehen.
Die Jungferninseln können füglich als ein Teil Kleinantiliens betrachtet werden. Von den Dänen im Jahre 1671 in Besitz genommen, bilden sie hauptsächlich deren westindisches Kolonialgebiet und sind unter den Namen Sankt-Thomas, Sankt-Johann und Sainte-Croix (Santa-Cruz) bekannt. Auf der ersten hat einer der jungen Stipendiaten das Licht der Welt erblickt, Niels Harboe, der sechste Preisträger im Wettbewerbe der Antilian School.
An dieser Insel sollte Harry Markel also nach einer glücklichen, fünfundzwanzigtägigen Überfahrt am Morgen des 26. Juli vor Anker gehen. Von hier aus brauchte der »Alert« nur noch nach Süden zu steuern, um die übrigen in Aussicht genommenen Inseln anzulaufen.
Ist Sankt-Thomas auch nur klein, so hat es doch einen sicheren und gut befestigten Hafen. Fünfzig Fahrzeuge von großem Tonnengehalt können bequem darin Platz finden. Die englischen und französischen Flibustier ließen sich ihn auch nicht streitig machen, als die europäischen Flotten in jenen Gewässern mit einander kämpften und die Inseln Antiliens einmal einnahmen, dann sich wieder entrissen sahen... wie wilde Raubtiere, die sich um eine ihre Begierde reizende Beute balgen. Christian Harboe wohnte in Sankt-Thomas, und die beiden Brüder hatten seit mehreren Jahren keine Gelegenheit zu einem Wiedersehen[172] gehabt. Natürlich erwarteten beide das Eintreffen des »Alert« mit größter Ungeduld.
Christian Harboe war neun Jahre älter als Niels und dessen einziger Verwandter auf der Insel. Zu den reichsten hiesigen Kaufleuten gehörend, war er von höchst sympathischer Natur mit liebenswürdiger Zurückhaltung, dieser besonderen Eigenschaft der Kinder des Nordens. Nach seiner Niederlassung in der dänischen Kolonie hatte er das große Geschäft seines Onkels, eines Bruders seiner Mutter, übernommen, in dem allerlei Gebrauchsgegenstände, Lebensmittel, Stoffe und ähnliches vertrieben wurden.
Die Zeit lag noch nicht weit zurück, wo fast der ganze Handel von Sankt-Thomas in den Händen von Israeliten war. Er wurde, als damals in dieser Gegend kriegerische Verwicklungen an der Tagesordnung waren, sehr im großen betrieben, vorzüglich als ein Vertrag den Negerhandel verboten hatte. Der Hafen der Insel, Charlotte-Amalia, wurde dann sehr bald zum Freihafen erklärt, was sein Aufblühen noch mehr beförderte. Er bot auch den Schiffen von jeder Nationalität nicht zu unterschätzende Vorteile. Diese fanden hier Schutz gegen die Passate und gegen die Stürme des Meerbusens, dank den Anhöhen der Insel, einer Landzunge, woran sich die Wogen brachen, und einem Holme, der mit Kaianlagen eingefaßt ist und auf dem sich Kohlenlager befinden.
Als der durch die Semaphore signalisierte »Alert« die Cowell- und die Molhentersspitze gepeilt, die Landzunge und den Holm umschifft, sowie das Signal zur Linken gelassen hatte, fuhr er in ein nach Norden offenes, kreisförmiges Wasserbecken ein, in dessen Hintergrunde die ersten Häuser der Stadt aufragen. Nach Ablauf von sechs bis sieben Faden Ankerkette lag dann der Dreimaster bei fünf bis sechs Metern Wassertiefe fest.
Reclus hat ausgesprochen, daß die Lage von Sankt-Thomas eine besonders vorteilhafte sei, da die Insel eine sehr günstige Stelle an der Bogenlinie der Antillen einnimmt, eine Stelle, von der aus »die Warenverteilung nach allen Teilen des Archipels am bequemsten erfolgen kann«.
Aus dieser Lage des Hafens erklärte es sich auch, daß er von Anfang an die Aufmerksamkeit der Flibustier erregte. Diese benützten ihn als Hauptniederlage der Schmuggelwaren für den Handel mit den spanischen Kolonien, und bald entwickelte er sich zum Hauptmarkte für »Ebenholz«, d. h. für die an den Küsten Afrikas gekauften Neger, die nach Westindien eingeführt wurden. Deshalb kam er schnell unter dänische Herrschaft, unter der er auch dauernd blieb,[173] und zwar nach seiner Abtretung durch eine Finanzgesellschaft, die ihn vom Kurfürsten von Brandenburg erworben hatte, dessen rechtmäßiger Erbe der König von Dänemark war.
Sobald der »Alert« festgemacht hatte, ließ sich Christian Harboe an Bord bringen, wo sich beide Brüder jubelnd in die Arme fielen. Darauf wechselte der Kaufmann noch einen herzhaften Händedruck mit Horatio Patterson nebst dessen Reisegenossen.
»Liebe Freunde, begann er dann, ich hoffe, daß Sie während Ihres Aufenthaltes auf Sankt-Thomas alle meine Gäste sein werden. Wie lange wird der › Alert‹ hier liegen bleiben?
– Drei Tage, antwortete Niels Harboe.
– Nur so kurze Zeit?
– Nicht länger, Christian. Ich bedaure es gewiß herzlich, da wir so lange nicht beisammen gewesen sind.
– Herr Harboe, nahm jetzt der Mentor das Wort, wir nehmen mit Vergnügen Ihre freundliche Einladung an und werden also Ihre Gäste sein, so lange wir auf Sankt-Thomas verweilen dürfen...
– So ist Ihnen also wohl eine Art Reiseprogramm vorgeschrieben, Herr Patterson?
– Ja, von der Mistreß Kathlen Seymour.
– Kennen Sie vielleicht diese Dame, Herr Harboe? fragte Louis Clodion.
– Nein, erwiderte der Kaufmann, doch hab' ich öfters von ihr reden hören, und auf den Antillen rühmt man ihre unerschöpfliche Wohltätigkeit.«
Dann wandte er sich an Harry Markel.
»Sie, Herr Kapitän Paxton, werden mir erlauben, Ihnen im Namen aller Angehörigen Ihrer jungen Passagiere den aufrichtigsten Dank abzustatten für die Fürsorge und das Wohlwollen...
– Einen Dank, den der Kapitän Paxton redlich verdient hat, fiel Patterson ein. Obwohl das Meer uns arg mitgespielt hat, mir mehr als allen anderen – horresco referens! – muß man doch anerkennen, daß unser wackerer Kapitän alles, was in seinen Kräften stand, getan hat, uns die Überfahrt so bequem und angenehm wie möglich zu machen.«
Harry Markels Art war es einmal nicht, sich in Komplimenten und Höflichkeiten zu ergehen. Vielleicht genierte ihn ein wenig auch Christian[174] Harboe, der den Blick auf ihn gerichtet hielt. So begnügte er sich denn mit einer leichten Neigung des Kopfes und sagte:
»Ich, mein Herr, finde nichts dagegen einzuwenden, daß die Passagiere des ›Alert‹ von der ihnen angebotenen Gastfreundschaft Gebrauch machen, freilich unter der Bedingung, daß diese unseren Aufenthalt hier deshalb nicht über den festgesetzten Zeitpunkt hinaus verlängert.
– Natürlich, Herr Kapitän, versicherte Christian Harboe. Wollen Sie dann von heute an mit meinen anderen Gästen wenigstens bei mir zu Mittag speisen?
– Ich danke bestens, verehrter Herr, erwiderte Harry Markel, doch ich habe hier einige Ausbesserungen ausführen zu lassen, die mich jede Stunde in Anspruch nehmen. Überhaupt ziehe ich es vor, mein Schiff so wenig wie möglich zu verlassen.«
Christian Harboe schien von dem kühlen Ton dieser Ablehnung etwas überrascht zu sein. Freilich findet man unter den Seeleuten, und besonders häufig unter den Kapitänen der britischen Handelsflotte, manche ungeschliffene Gesellen, schlecht erzogene Leute, deren Manieren sich bei der Ausübung ihres Berufes, bei der Berührung mit rohen Matrosen, natürlich auch nicht verfeinert haben. Jedenfalls war der Eindruck, den Harry Markel und seine Mannschaft bei dem ersten Zusammentreffen auf ihn machte, nichts weniger als günstig. Immerhin war das Schiff während der Reise gut geführt worden und die Überfahrt glücklich verlaufen, das war ja am Ende die Hauptsache.
Eine halbe Stunde später landeten die Passagiere am Kai von Charlotte-Amalia und begaben sich nach dem Hause Christian Harboes.
Kaum waren sie außer Sicht, als John Carpenter bemerkte:
»Na, Harry, es scheint sich ja alles zum besten zu gestalten.
– Ja, wenigstens bis jetzt, gab Harry Markel zu. Wir werden aber, wo wir später nach Halt machen, eher die doppelte Vorsicht nötig haben.
– Die wird nicht vernachlässigt werden, Harry; es hat doch keiner von uns Lust, den Erfolg dieses Unternehmens aufs Spiel zu setzen. Es hat gut angefangen... es wird auch gut enden.
– Gewiß, John, wenn nämlich niemand auf Sankt-Thomas den Kapitän Paxton persönlich gekannt hat. Du wirst übrigens darauf achten, daß keiner unserer Leute ans Land geht!«
Harry Markel hatte ganz recht damit, seine Mannschaft am Verlassen des Schiffes zu hindern. Gestattete man den Matrosen, alle Schenken und Spelunken[175] abzulaufen und übermäßig zu trinken – was ja niemals ausblieb, wenn sie sich allein überlassen waren – so konnte ihnen gar zu leicht ein verdächtiges Wort entschlüpfen, und deshalb erschien es ratsam, sie auf dem »Alert« strengstens zurückzuhalten.
»Ganz richtig, Harry, fuhr John Carpenter fort, und wenn sie gar zu großes Verlangen zu trinken haben, mögen sie die doppelte oder dreifache Ration bekommen. Jetzt sind die Passagiere für drei Tage auf dem Lande, und wenn unsere Leute da hier einmal einen Schluck zuviel nehmen, hat's ja nicht viel zu bedeuten.«
Übrigens begriffen die Mannschaften des »Alert«, wenn sie sonst auch zu Exzessen geneigt waren und sich für die Enthaltsamkeit an Bord in den Häfen gründlich zu entschädigen liebten, daß ihre Lage keine ungefährliche war, und schon deshalb hüteten sie sich gewiß, sie irgendwie zu kompromittieren. Dazu war es aber nötig, jede Berührung mit der Bevölkerung der Insel und mit den Teerjacken jeder Nationalität zu vermeiden und sich nicht der Gefahr auszusetzen, daß einer der Piraten vom »Halifax« von dem oder jenem der Abenteurer erkannt werden könnte, die sich meist schon auf allen Meeren umhergetriebenhatten. Von Harry Markel erging also der gemessene Befehl, daß einerseits keiner der Leute das Land beträte, und anderseits, daß man auch keinem Fremden an Bord zu kommen erlaubte.
Das Geschäftshaus Christian Harboes lag unmittelbar am Kai. Hier werden sehr umfangreiche Geschäfte abgeschlossen, denn die jährliche Einfuhr allein hat einen Wert von fünf Millionen sechsmalhunderttausend Francs, und das bei einer Bevölkerung von knapp zwölftausend Seelen.
Mit der Sprache konnten die jungen Passagiere nicht in Verlegenheit kommen, denn hier schwirrten die spanische, die dänische, die holländische, die englische und die französische Zunge bunt durcheinander, so daß sie sich fast hätten in eine der Klassen der von Ardagh geleiteten Antilian School versetzt glauben können.
Die Privatwohnung Christian Harboes befand sich etwa eine englische Meile entfernt von der Stadt an der Abdachung eines Berges, der den Hafen amphitheatralisch umrahmte.
Hier liegen in herrlicher Umgebung, inmitten üppiger tropischer Bäume, die Villen der reichen Kolonisten der Insel, und das Heim Christian Harboes war eines der größten und elegantesten Landhäuser.
Vor sieben Jahren hatte sich Christian Harboe mit einer aus vornehmer Familie stammenden jungen Dänin vermählt, und dieser Ehe waren zwei liebliche Töchterchen entsprossen. Wie herzlich kam die junge Frau ihrem Schwager entgegen, den sie bisher noch nicht kannte, und auch dessen Kameraden, die ihr vorgestellt wurden. Was aber Niels anging, so hatte wohl kaum jemals ein Onkel seine Nichten so innig in die Arme geschlossen und geliebkost, wie er.
»Nein, sind sie hübsch... sind die Kleinen hübsch! rief er wiederholt.
– Und warum sollten sie nicht hübsch sein? ließ sich Horatio Patterson vernehmen. Talis pater... talis mater... quales filiae!«
Diesem Citate stimmten auch alle unumwunden bei.
Die jungen Passagiere und ihr Mentor erhielten also Unterkunft in der Villa, die geräumig genug war, allen schön ausgestattete Zimmer zu bieten. Hier konnten sie sich bei reichlichem Mahle von der ziemlich einförmigen Schiffsnahrung erholen, die ja auch Ranyah Coghs Talent nicht besser zu gestalten vermochte. Und welche angenehme Siesta gab es hier in den heißen Tagesstunden in dem schattigen Parkgarten, der die Wohnung Christian Harboes umschloß. Bei diesen täglichen Plauderstündchen kam das Gespräch oft auf die in Europa[179] zurückgelassenen Familien, oder es betraf Niels Harboe, der, da er elternlos war, nach Vollendung seiner Ausbildung zu seinem Bruder zurückkehren sollte. Hier sollte er in dessen Handelshause tätig sein, und Christian Harboe gedachte auch noch auf der Sankt-Thomas benachbarten Insel Sankt-Johann ein Zweiggeschäft zu begründen.
Sankt-Johann war übrigens in den letzten Jahren für fünf Millionen Piaster den Vereinigten Staaten zum Kauf angeboten worden; die Republik hatte das aber abgelehnt.2
Auf Sankt-Johann hatten sich die ersten Kolonisten angesiedelt, weil sie meinten, Sankt-Thomas würde sich für eine umfängliche Entwicklung des Handels nicht eignen. Da Sankt-Johann aber nur drei Lieues lang und zwei breit ist, wurde es bald als zu klein erkannt, und die Kolonisten wanderten dann nach Sain te-Croix aus.
Wiederholt erwähnte Christian Harboe auch den Kapitän des »Alert« und dessen Mannschaft, wobei er durchblicken ließ, daß die von Patterson beiden gespendeten Lobeserhebungen ihm doch nicht recht begründet erschienen.
Selbstverständlich wurden auch einige Ausflüge auf Sankt-Thomas unternommen, das des Besuches der Touristen entschieden wert ist. Die aus Porphyr bestehende Insel hat im nördlichen Teile ziemlich welliges Terrain, das noch durch prächtige Hügel verschönert wird, deren höchster bis vierzehnhundert Fuß über das Meer aufragt.
Die jungen Ausflügler bestanden darauf, dessen Gipfel zu ersteigen, und wenn das auch nicht ohne Anstrengung ablief, so wurden sie doch reichlich durch die Schönheit des Bildes belohnt, das sich dem Auge von der Höhe aus darbot. Die Aussicht von hier reichte bis Sankt-Johann, das, einem ungeheuern Fische ähnlich aus dem Antillenmeere herausragend, von einer Menge Eilanden, wie Hans-Lellik, Loango, Buek, Saba, Savana u. a. und darüber hinaus von der im Sonnenglanze schimmernden Wasserwüste umgeben war.
Sankt-Thomas hat übrigens nur eine Oberfläche von sechsundachtzig Quadratkilometern, d. h., wie Louis Clodion bemerkte, kaum hundertzweiundsiebzigmal die des Pariser Marsfeldes.[180]
Nach Ablauf der drei programmäßigen Tage begaben sich die Passagiere wieder an Bord des »Alert«, wo alles zur Abfahrt bereit war. Herr und Frau Harboe begleiteten die Gesellschaft dahin. Patterson sprach ihm noch in aller Namen den wärmsten Dank für ihre Gastfreundlichkeit aus, und die beiden Brüder umarmten sich zum letzten Male.
Am Abend des 28. Juli lichtete der Dreimaster die Anker, hißte seine Segel und glitt bei günstiger nordöstlicher Brise mit südwestlichem Kurse hinaus auf die Insel Sainte-Croix zu, wo zunächst Aufenthalt genommen werden sollte.
Die Strecke von sechzig Seemeilen zwischen den beiden Inseln wurde binnen sechsunddreißig Stunden zurückgelegt.
Als die Kolonisten, deren es für Sankt-Thomas und Sankt-Johann zu viele waren, wie erwähnt, nach der zweihundertachtzehn Quadratkilometer großen Insel Sainte-Croix übersiedeln wollten, fanden sie diese in den Händen englischer Flibustier, die sich hier seit der Mitte des 17. Jahrhunderts eingenistet hatten. Das führte natürlich zu Mißhelligkeiten und zu wiederholten, zuweilen recht blutigen Kämpfen, die zunächst zu Gunsten der britischen Abenteurer ausgingen. Diese Burschen, die von Anfang an mehr Seeräuber als Kolonisten waren und das Meer in weitem Umkreise un sicher machten, hatten sich um den Anbau der Insel fast gar nicht gekümmert.
Im Jahre 1750 gelang es dann den Spaniern, sich der Insel zu bemächtigen und die Engländer zu verjagen.
Freilich sollten sie sich des Besitzes nicht lange erfreuen, denn nur wenige Monate später mußte die schwache, zur Verteidigung der Insel zurückgelassene Besatzung vor einer französischen Truppenabteilung die Waffen strecken.
Erst jetzt begann die Kultivierung von Sainte-Croix; ehe aber an einen Anbau zu denken war, mußten die Urwälder des Innern niedergebrannt werden, eine Maßregel, die den Erdboden nicht nur freilegte, sondern auch anreicherte.
Dank den dann anderthalb Jahrhunderte fortgesetzten Arbeiten traf der »Alert« jetzt hier auf eine sorgfältig kultivierte und sehr fruchtbare Insel.
Natürlich gab es darauf keine Karaïben mehr, die sie vor ihrer Entdeckung durch Europäer bevölkerten, ebenso keine Engländer, ihre nächstspäteren Bewohner, noch Spanier, die diesen folgten, und auch keine Franzosen mehr, denen die ersten wirklichen Kolonisationsversuche zu verdanken waren. In der Mitte des 17. Jahrhunderts hätte man hier überhaupt keine lebende Seele vorgefunden.[181] Nach Vernichtung ihres Handels und Unterdrückung des einträglichen Schmuggels hatten die Kolonisten die Insel wieder verlassen.
Siebenunddreißig Jahre, bis 1733, blieb Sainte-Croix gänzlich unbewohnt. Frankreich verkaufte es für siebenhundertfünfzigtausend Livres an Dänemark, und seit diesem Zeitpunkt ist es eine dänische Kolonie.
Als der »Alert« in Sicht der Insel kam, steuerte Harry Markel auf den Hafen von Barnes, ihrer Hauptstadt, zu, die dänisch Christianstad heißt und an der Nordküste im Hintergrunde einer kleinen Bucht liegt. Die zweite Stadt von Sainte-Croix, Frederikstad, einst während eines Negeraufstandes völlig eingeäschert, erhebt sich an der westlichen Küste.
In Frederikstad war Axel Wickborn, der zweite Preisträger des Wettbewerbes, geboren. Gegenwärtig hatte er hier keine Angehörigen mehr. Seit einem Dutzend von Jahren wohnte seine Familie nach dem Verkauf ihres hiesigen Besitztums schon in Kopenhagen.
Waren die Passagiere bei ihrem Aufenthalt nun auch niemandes eigentliche Gäste, so wurden sie doch von alten Freunden der Familie Wickborn recht herzlich aufgenommen. Den größten Teil der Zeit verbrachten sie auf dem Lande, kehrten zum Schlafen aber jeden Abend an Bord zurück.
Die Insel, die sie meist zu Wagen besuchten, ist an sich höchst interessant. So lange die Sklaverei noch bestand, kamen die Pflanzer hier zu großem Vermögen und Sainte-Croix konnte wohl die reichste Insel der Antillen genannt werden. Unter fortschreitender Bewirtschaftung wurde ihr Boden bis zum Gipfel der Hügel ausgenutzt. Sie enthielt dreihundertfünfzig Farmen, jede von hundertfünfzig Morgen, und wurde von einem tüchtigen Beamtenstabe mit musterhafter Ordnung verwaltet. Zwei Drittel des Bodens dienen dem Anbau von Zuckerrohr, und in mittelguten Jahren gewinnt man davon – abgesehen von der Melasse – vom Morgen je sechzig Tonnen Zucker.
Neben diesem werden jährlich noch achthundert Ballen Baumwolle nach Europa ausgeführt.
Die Touristen fuhren durch die schönen, mit Palmen besetzten Landstraßen, die jedes Dorf mit der Hauptstadt verbanden. Der in nördlicher Richtung sanft abfallende Boden stieg allmählich nach der Nordwestküste zu an, wo ihn der vierhundert Meter hohe Mount Eagle abschloß.
Beim Anblick der schönen und überaus fruchtbaren Insel konnten Louis Clodion und Tony Renault ihr Bedauern nicht unterdrücken, daß Frankreich[182] dieses reiche Gebiet in den Antillen nicht für sich behalten hätte. Anderseits fanden Niels Harboe und Axel Wickborn, daß Dänemark damit eine sehr vorteilhafte Erwerbung gelungen sei, und sie sprachen nur den einen Wunsch aus, daß Sainte-Croix, nachdem es vor her im Besitz der Engländer, der Franzosen und der Spanier gewesen sei, ihrem Vaterlande für immer erhalten bleiben möchte.
Dank seiner Lage in Europa hatte Dänemark – abgesehen von der Blockade des Festlandes, wobei Kopenhagen von einer englischen Flotte bombardiert wurde – das Glück, nicht in die langen und blutigen Kämpfe zwischen Frankreich und England im Anfange des 19. Jahrhunderts mit verwickelt zu werden. Eine Macht zweiten Ranges, war sein Gebiet für die Entwicklung großer europäischer Heeresmassen zu klein. Diesem Umstande verdankten es auch die dänischen Kolonien in Antilien, daß sie ganz unberührt blieben von den Rückwirkungen jener furchtbaren Kriege, die sich sonst bis über den Atlantischen Ozean fühlbar machten. Sie konnten in vollem Frieden an ihrer glücklichen Entwicklung weiter arbeiten.
Die im Jahre 1862 proklamierte Negeremanzipation rief dagegen anfangs einige Unruhen hervor, die die Kolonialbehörden mit Strenge unterdrücken mußten. Die Freigelassenen beschwerten sich nicht ganz mit Unrecht darüber, daß die ihnen gemachten Versprechungen nicht eingehalten worden seien, vorzüglich die Überweisung einer gewissen Fläche von Grund und Boden zu freiem Eigentum. Das verursachte Reklamationen, die ohne Erfolg blieben, und schließlich einen Aufstand der Neger, der zu Brandstiftungen an verschiedenen Stellen der Insel führte.
Als der »Alert« im Hafen von Christianstad lag, waren die Beziehungen zwischen Kolonisten und Freigelassenen noch immer nicht endgültig geregelt. Immerhin erfreute sich die Insel einer vollkommenen Ruhe, und die Touristen wurden bei ihren Ausflügen auch nirgends belästigt. Ein Jahr später wären sie freilich in einen offenen Aufruhr hineingeraten, der so ernst war, daß dabei Axel Wickborns Vaterstadt von den Negern niedergebrannt wurde.
Hier möge auch erwähnt werden, daß sich die Bevölkerung von Sainte-Croix schon seit sechs bis sieben Jahren ansehnlich vermindert hat infolge einer anhaltenden Auswanderung, die sie um den fünften Teil ihres früheren Bestandes schwächte.
Während des Aufenthaltes des »Alert« befand sich der dänische Gouverneur, der sonst abwechselnd je sechs Monate auf Sankt-Thomas und auf[183] Sankt-Johann seinen Sitz hat, hier auf Sainte-Croix, wo man neue Störungen befürchtete. Er konnte den jungen Antilianern also nicht den Empfang zu teil werden lassen, der diese auf den anderen Antillen erwartete. Dennoch hatte er Vorsorge getroffen, ihnen alle Erleichterungen zur Besichtigung der Insel zu gewähren, was denn auch im weitesten Umfange geschah.
Vor der Weiterreise übermittelte deshalb noch ein von Horatio Patterson aufgesetzter Brief in zierlicher Schrift, den die neun Preisträger unterzeichneten, Seiner Exzellenz den Ausdruck des lebhaftesten Dankes.
Am 1. August verließ der »Alert« wieder den Hafen von Christianstad, und nachdem er aus dessen Zufahrtsstraße heraus war, schlug er bei mäßiger Brise, gegen diese scharf ansegelnd, den Kurs nach Sankt-Martin ein.
1 Beweis dafür das Schicksal Cubas und Portoricos nach dem 1898er spanisch-amerikanischen Kriege.
2 Später beschäftigte man sich noch mit der Abtretung aller drei dänischen Inseln, die Reichstagsverhandlungen in Kopenhagen führten jedoch bis heute zu keinem endgültigen Ergebnisse.
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