Elftes Capitel.
Im Laufe von fünf Wochen.

[133] Die Sachlage ist klar. Ker Karraje weiß, wer ich bin... Er kannte mich schon, als er die Doppelentführung Thomas Roch's und seines Wärters ins Werk setzte.

Wie ist der Mann dazu gekommen? Wie hat er das erfahren können, was ich dem gesammten Personal des Healthful-House zu verheimlichen wußte? Wie hat er wissen können, daß ein französischer Ingenieur das Amt eines Wärters bei Thomas Roch versah?... Ich weiß nicht, wie das möglich war, und doch ist es an dem.

Offenbar besaß der Mann Informationsmittel, die ihm gewiß viel Geld gekostet haben, woraus er aber auch großen Nutzen gezogen hat. Ein Mann dieses Schlags sieht nicht auf die Unkosten, wenn es gilt, seinen Zweck zu erreichen.

In Zukunft ist es dieser Ker Karraje, oder vielmehr sein Spießgesell, der Ingenieur Serkö, der die Functionen, die ich bei Thomas Roch früher erfüllte, auf sich nehmen wird. Sollten seine Bemühungen mehr Erfolg haben, als die meinigen? Gott wolle, daß das nicht der Fall ist und daß der civilisierten Welt dieses Unheil erspart bleibe![133]

Auf Ker Karraje's letzte Worte hab' ich nichts erwidert. Sie trafen mich wie die Kugel einer Waffe, die mir auf die Brust gesetzt war. Ich bin aber nicht zu Boden gesunken, wie der angebliche Graf d'Artigas vielleicht erwartete.

Nein, mein Auge heftete sich gerade auf das seine, das er auch nicht senkte und dessen Pupillen unheimlich glänzten. Ich hielt die Arme gekreuzt, ganz wie er. Und doch... er war der Herr über mein Leben. Ein Wink von ihm, und ein Revolverschuß hätte mich ihm zu Füßen niedergestreckt... Warf man meinen Leichnam dann in die Lagune, so wäre er durch den Tunnel ins Meer vor Back-Cup getrieben worden.

Nach diesem Auftritt ließ man mich unbehelligt, wie vorher. Keine besondre Maßnahme wurde in Bezug auf mich getroffen. Ich konnte zwischen den Felsenpfeilern umherwandeln bis zum äußersten Ende der Höhle, die – das liegt auf der Hand – keinen andern Ausgang als den Tunnel hatte.

Als ich, eine Beute von tausenderlei Gedanken, die diese neue Lage in mir anregte, nach meiner Grotte am Ende von Bee-Hive zurückgekehrt war, sag' ich für mich:

»Wenn Ker Karraje auch weiß, daß ich der Ingenieur Simon Hart bin, soll er doch nie erfahren, daß mir die Lage von Back-Cup ganz genau bekannt ist.«

Was die Absicht, mir die Pflege Thomas Roch's anzuvertrauen, betrifft, glaub' ich, daß der Graf d'Ar tigas sie niemals im Ernste gehabt hat, da ihm meine Persönlichkeit bekannt war. Ich beklage das in gewisser Hinsicht, denn es ist unzweifelhaft, daß der Erfinder der Gegenstand aufdringlichster Anfechtung sein, daß der Ingenieur Serkö jedes Mittel versuchen wird, um in Besitz des Recepts zu dem Explosivstoffe und des Zünders zu kommen, wovon er bei seinen spätern Raubzügen den schonungslosesten Gebrauch zu machen wissen wird.

Im Laufe der nächsten vierzehn Tage habe ich meinen frühern Pflegebefohlnen nicht ein einziges Mal zu Gesicht bekommen. Dabei hat mich, ich wiederhole es, niemand an meinen täglichen Spaziergängen gehindert. Ueber den materiellen Theil des Lebens hier hab' ich mich in keiner Weise zu beklagen. Meine Mahlzeiten kommen mit militärischer Pünktlichkeit aus der Küche des Grafen d'Artigas... ein Name und Titel, dessen ich mich noch nicht entwöhnt habe und den ich ihm zuweilen beilege. Ich bin ja bezüglich des Essens und Trinkens nicht anspruchsvoll; es wäre indessen ungerecht, hierüber eine einzige[134] Klage zu erheben. Die Art der Ernährung läßt, Dank den Vorräthen, die bei jeder Reise der »Ebba« erneuert werden, unbedingt nichts zu wünschen übrig.

Es ist auch ein Glück, daß es mir in den langen Stunden der Unthätigkeit stets ermöglicht war, wenigstens zu schreiben. Ich habe in mein Taschenbuch also die kleinsten Vorkommnisse seit der Entführung aus dem Healthful-House eintragen können und führe meine Anmerkungen Tag für Tag weiter. Diese Arbeit denk' ich fortzusetzen, solange mir nicht die Feder aus der Hand gerissen wird. Vielleicht dient sie in Zukunft dazu, die Geheimnisse von Back-Cup zu enthüllen.

Vom 5. bis zum 25. Juli. – Drei Wochen sind verstrichen, und noch ist mir kein Versuch geglückt, mich Thomas Roch zu nähern. Sicherlich hat man vorgesorgt, ihn meinem Einfluß zu entziehen, so unwirksam dieser bis jetzt auch gewesen ist. Meine einzige Hoffnung besteht darin, daß der Graf d'Artigas, der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade ebenfalls Zeit und Mühe verschwenden werden, ohne hinter sein Geheimniß zu kommen.

Drei- oder viermal – wenigstens soweit ich es weiß – sind Thomas Roch und der Ingenieur Serkö zusammen umhergegangen. Mir schien, als sie so um die Lagune lustwandelten, als ob der erste mit einer gewissen Aufmerksamkeit dem lauschte, was der zweite zu ihm sagte; dieser hat ihm die ganze Höhle gezeigt, ihn nach der elektrischen Kraftstation geführt und auch Einzelheiten von der Einrichtung des Tug sehen lassen. Der geistige Zustand Thomas Roch's hat sich, seit er nicht mehr im Healthful-House ist, offenbar gebessert.

Thomas Roch hat in der Wohnung Ker Karraje's ein Zimmer für sich. Ich zweifle gar nicht daran, daß er Tag für Tag, besonders vom Ingenieur Serkö, beobachtet und belauscht wird. Wird er, wenn man ihm anbietet, seine Maschine mit dem ungeheuern Preise, den er dafür verlangt, zu bezahlen, Kraft genug haben, noch zu widerstehen? Ja, kennt er wohl überhaupt noch den Werth des Geldes? Die Elenden können ihn ja mit gar so vielem Golde verwirren, das von dem viele Jahre hindurch zusammengeraubten Gute herstammt. Wird er sich, bei dem Zustande, in dem er sich befindet, nicht gelegentlich bestimmen lassen, die Zusammensetzung seines Fulgurators zu verrathen?... Dann genügte es, nach Back-Cup die nöthigen Stoffe einzuführen, und Thomas Roch hätte Muße, seine chemischen Arbeiten auszuführen. Was die Apparate angeht, so könnte man einzelne davon in der und jener Werkstatt auf dem Festlande bestellen und diese immer getrennt anfertigen lassen, um keinen Verdacht zu erregen.[135]

Mir sträuben sich die Haare schon bei dem Gedanken, was aus einem solchen Zerstörungsmittel in den Händen dieser Seeräuber werden könnte!

Diese unerträglichen Befürchtungen nagen an mir und lassen mir keine ruhige Stunde mehr. Meine Gesundheit leidet darunter, und obgleich eine reine Luft das Innre von Back-Cup erfüllt, bin ich doch manch mal nahe am Ersticken. Es ist mir, als ob diese dicken Wände mich mit ihrer ganzen Last zermalmen sollten. Dazu fühle ich mich auch abgeschieden von der übrigen Welt, als wenn ich gar nicht auf dieser Erde wandelte, und ich weiß von nichts, was in den Ländern jenseit des Meeres vorgeht. O, wenn es möglich wäre, durch die Oeffnung in der Decke, die über der Lagune liegt, zu entweichen, sich über den Gipfel des Eilands weg zu retten... nach dessen Fuße hinab zu gelangen!...

Am Morgen des 25. Juli begegne ich endlich dem Thomas Roch. Er befindet sich allein auf dem entgegengesetzten Ufer, und ich frage mich, ob Ker Karraje, der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade, da ich sie seit gestern nicht gesehen habe, nicht vielleicht zu einer »Expedition« außerhalb Back-Cups abgefahren sind....

Ich gehe auf Thomas Roch zu, und ehe er mich hat bemerken können, betrachte ich ihn mit Aufmerksamkeit.

Sein ernster, nachdenklicher Gesichtsausdruck ist nicht mehr der eines Geisteskranken. Er geht mit langsamen Schritten und gesenkten Augen dahin, ohne sich weiter umzusehen. Unter dem Arme trägt er ein mit Papier bespanntes Reißbrett, auf dem verschiedne Skizzen eingezeichnet sind.

Plötzlich hebt er den Kopf nach mir zu, thut einen Schritt vorwärts und erkennt mich.

»Ah... Du... Gaydon! ruft er. Dir bin ich also entwischt!... Ich bin frei!«

Er mag sich wirklich wie frei fühlen... auf Back-Cup freier, als er es im Healthful-House war. Meine Gegenwart erweckt in ihm unangenehme Erinnerungen und veranlaßt vielleicht einen erneuten Anfall, denn er fährt mit außergewöhnlicher Erregung weiter fort:

»Ja... Du... Gaydon!... Komm' mir nicht zu nahe... bleib' dort! Du würdest mich doch wieder einfangen... nach dem Irrenhause zurückbringen wollen... Niemals!... Hier hab' ich Freunde, mich zu vertheidigen!... Sie sind mächtig, sind reich! Der Graf d'Artigas ist mein Commanditär!... Der Ingenieur Serkö ist mein Associé!... Wir werden meine Erfindung ausbeuten!...[136] Hier wird der Fulgurator Roch ausgeführt werden!... Geh' fort!... Geh' fort!...«

Thomas Roch hat sich wirklich in Wuth geredet. Während seine Stimme anschwillt ficht er erst mit den Armen umher und zieht dann ein Packet Papierdollars und Banknoten aus der Tasche. Weiter fallen ihm englische, französische, amerikanische und deutsche Goldstücke aus der Hand. Und woher hatte er all' das Geld, wenn nicht von Ker Karraje und um den Preis des an ihn verkauften Geheimnisses?
[137]

Sie stürzen sich auf Thomas Roch und tragen ihn weg. (S. 138.)
Sie stürzen sich auf Thomas Roch und tragen ihn weg. (S. 138.)

Durch den Lärm dieses peinlichen Auftritts angelockt, laufen jetzt einige Männer herzu, die uns aus kurzer Entfernung beobachtet haben. Sie stürzen sich auf Thomas Roch, umfassen ihn und tragen ihn weg. Sobald er mich nicht mehr sieht, läßt er sie widerstandslos gewähren und erscheint, körperlich und geistig, so ruhig wie vorher.

Am 27. Juli. – Zwei Tage nach dem erzählten Zwischenfalle ging ich beim ersten Tagesgrauen nach dem Ufer hinunter und bis zur Spitze des kleinen Hafendammes hinaus.

Der Tug liegt nicht an seinem gewöhnlichen Ankerplatze neben dem Felsgestade und ist auch auf der Lagune nirgends sichtbar. Ker Karraje und der Ingenieur Serkö waren übrigens nicht, wie ich glaubte, weggefahren, denn ich habe sie noch gestern Abend gesehen.

Heute jedoch hab' ich alle Ursache anzunehmen, daß sie sich mit dem Kapitän Spade und seiner Mannschaft auf dem Tug eingeschifft, sich nach der Goelette in ihrer Bucht des Eilands begeben haben und daß die »Ebba« zu dieser Stunde in Fahrt ist. Möglicherweise handelt es sich um einen Raubzug, doch liegt es ebenso nahe, anzunehmen, daß Ker Karraje, auf seiner Lustjacht jetzt wieder der Graf d'Artigas, einen Punkt an der Küste anlaufen will, um sich die nöthigen Rohstoffe zur Herstellung des Fulgurator Roch zu verschaffen.

O, wenn es mir möglich gewesen wäre, mich an Bord des Tug zu verbergen oder in den Raum der »Ebba« zu schlüpfen, um dort bis zur Ankunft in einem Hafen versteckt zu bleiben!... Vielleicht hätt' ich dann entweichen... die Welt von dieser Räuberhorde befreien können!

Ja, ja, das ist der Gedanke, womit ich mein Hirn zermartre... fliehen... um jeden Preis aus diesem Schlupfwinkel entfliehen!... Eine Flucht ist aber nur durch den unterseeischen Tunnel möglich. Ist es nicht reine Thorheit, daran zu denken?... Ja, Thorheit... schon mehr Wahnsinn... und doch giebt es kein andres Mittel, aus Back-Cup zu entkommen.

Während mich noch diese Gedanken beschäftigen, theilt sich das Wasser der Lagune etwa zwanzig Meter vom Hafendamme... der Schlepper taucht empor. Sofort wird sein Lukendeckel aufgeschlagen und der Maschinist Gibson betritt nebst einigen Leuten die Plattform. Andre laufen auf den Uferfelsen herbei, um eine Wurfleine aufzufangen. Diese wird erfaßt, eingeholt und der Apparat liegt nun wieder am gewohnten Platze.[138]

Diesmal segelt die Goelette also ohne die Hilfe des Schleppers, der nur ausgefahren ist, um Ker Karraje nebst Begleitern nach der »Ebba« zu befördern und diese durch die Wasserstraßen des Eilands zu lootsen.

Das bestärkt mich in der Annahme, daß die Reise keinen andern Zweck hat, als einen amerikanischen Hafen anzulaufen, wo der Graf d'Artigas die zur Zusammensetzung des Sprengmittels nöthigen Stoffe erhalten und in einer Fabrik die Maschinentheile bestellen kann. An dem für die Rückfahrt bestimmten Tag wird der Tug dann wieder den Tunnel durchfahren, die Goelette in ihr Versteck bugsieren und Ker Karraje wird nach Back-Cup zurückkehren.

Offenbar sind die Absichten des Schurken in Ausführung begriffen, und die Sache geht schneller, als ich vorausgesetzt hatte!

Am 3. August. – Heute hat sich in und auf der Lagune ein merkwürdiges Ereigniß abgespielt, das sich nur selten wiederholen dürfte.

Gegen drei Uhr nachmittags entsteht ein, etwa eine Minute lang anhaltendes Aufwirbeln des Wassers, das dann zwei bis drei Minuten aussetzt und hierauf in der Mitte der Lagune wieder beginnt.

Von der fast unerklärlichen Erscheinung herangelockt, laufen eine Anzahl von den Seeräubern das Ufergelände hinunter. Sie sehen höchst verwundert aus und lassen auch, wie es mir scheint, wiederholt einen Schreckensruf vernehmen.

Vom Tug rührt die auffällige Bewegung im Wasser nicht her, denn der liegt jetzt am Hafendamm vertäut. Die Annahme, daß ein andres Taucherschiff durch den Tunnel gelangt sein sollte, wäre doch gar zu unwahrscheinlich.

Fast gleichzeitig ertönen Rufe auf dem gegenüberliegenden Ufer. Einige Männer wenden sich in mir unverständlicher Sprache an die ersteren, und nach dem Austausch einiger Worte laufen diese hastig nach der Seite von Bee-Hive zurück.

Sollten sie etwa ein Seeungeheuer im Wasser der Lagune bemerkt haben und jetzt Waffen holen, um es anzugreifen, oder Fanggeräthe, um sich seiner zu bemächtigen?

Ich habe richtig gerathen, denn einen Augenblick darauf seh' ich sie, mit Gewehren für Sprenggeschosse und Harpunen mit langen Leinen bewaffnet, wieder nach dem Ufer hinablaufen.

Wirklich, es ist ein Walthier – von der Art der bei den Bermudas so häufigen Kaschelots oder Potwale – das nach dem Passieren des Tunnels sich jetzt in der Tiefe der Lagune tummelt. Kann ich daraus, daß das Thier gedrängt[139] worden sein dürfte, im Innern von Back-Cup Schutz zu suchen, wohl schließen, daß es von Walfängern verfolgt worden wäre?

Einige Minuten verstreichen, ehe die Cetacee wieder zur Oberfläche der Lagune herauskommt. Man sieht ihre ungeheure grünlich glänzende Masse sich bewegen, als ob das Thier gegen einen furchtbaren Feind kämpfte. Bei seinem Wiedererscheinen steigen zwei Wasserstrahlen geräuschvoll aus seinen Spritzlöchern empor.

»Ist das Thier in den Tunnel eingedrungen, um der Verfolgung durch Walfänger zu entgehen, sag' ich mir da, so muß sich ein Fahrzeug in der Nähe von Back-Cup befinden. Vielleicht liegt ein solches nur wenige Kabellängen vom Ufer entfernt. Seine Boote müssen durch die westlichen Wasserstraßen bis zum Fuße des Eilands vorgedrungen sein, und ich... ich kann mich ihnen nicht mittheilen!«

Doch wenn das anginge, wär' es mir möglich, durch die Felsenwand von Back-Cup zu ihnen zu gelangen?...

Ueber die Ursache des Erscheinens jenes Potwals erhalte ich übrigens sehr bald Aufschluß.

Es handelt sich nicht um Fischer, die ihm hitzig nachstellten, sondern um eine Bande Haifische, um jene furchtbaren Quermäuler, die das Meer in der Umgebung der Bermudas so unsicher machen. Zu fünf bis sechs werfen sie sich auf die Seite und reißen die ungeheuern Kinnladen auf, die mit gewaltigen Zähnen, wie die Egge mit Eisenspitzen, besetzt sind. Sie stürzen sich auf den Wal, der sich nicht anders vertheidigen kann, als daß er sie mit wuchtigen Schlägen mit dem Schwanze zu tödten oder doch abzuwehren sucht. Der Wal ist schon arg verwundet und das Wasser färbt sich röthlich, während er untertaucht, wieder aufsteigt und über der Oberfläche erscheint, ohne den Bissen der Quermäuler entgehen zu können.

Und doch werden es die gefräßigen Thiere nicht sein, die aus dem Kampfe als Sieger hervorgehen. Die Beute wird ihnen entgehen, denn der Mensch mit seinen Hilfsmitteln ist mächtiger als sie. Am Ufer stehen eine Menge Genossen Ker Karraje's, die nicht besser sind, als jene Haifische, denn Seeräuber oder Tiger des Meeres, das kommt auf Eins hinaus! Sie werden versuchen, den Kaschelot einzufangen... als gute Prise für die Insassen von Back-Cup.

In diesem Augenblick nähert sich der Wal dem Hafendamme, wo der Malaie des Grafen d'Artigas und einige der kräftigsten Leute stehen.[140]

Der Malaie ist mit einer Harpune bewaffnet, die eine lange Leine trägt. Er schwingt sie mit starkem Arme und schleudert sie mit ebenso viel Kraft wie Gewandtheit nach dem Thiere.

An der linken Seite der Kinnlade schwer getroffen, taucht der Wal schnellstens hinab, verfolgt von den Quermäulern, die sofort mit ihm in der Tiefe verschwinden. Die Harpunenleine rollt in der Länge von fünfzig bis sechzig Metern ab. Sie braucht nur wieder herausgezogen zu werden und der Potwal wird aus der Tiefe emporsteigen, um an der Oberfläche den Athem auszuhauchen.

Das thun denn auch der Malaie und seine Kameraden ohne sich zu übereilen, um die Harpune nicht etwa aus der Seite des Wals heraus zu reißen. Das Thier wird sehr bald nahe der Wand, unter der die Tunnelmündung liegt, sichtbar.

Zu Tode getroffen, wälzt sich das gewaltige Seesäugethier in wüthender Agonie umher und stößt dabei Dampfgarben und mit Blut vermischte Luft- und Wassersäulen aus. Mit fürchterlichem Schlage schleudert es noch ein zuckendes Quermaul auf das Felsenufer.

Infolge des Stoßes hat sich die Harpunc von der Seite des Potwals losgelöst und dieser taucht noch einmal nieder. Als er dann zum letzten Male herauskommt, peitscht er das Wasser so furchtbar mit dem Schwanze, daß eine starke Depression entsteht, durch die ein Theil der Tunnelmündung bloßgelegt wird.

Die Haifische stürzen sich auf ihre Beute; ein Hagel von Kugeln trifft aber die einen und treibt die andern in die Flucht.

Wahrscheinlich hat die Rotte der Quermäuler die Mündung wieder finden, Back-Cup verlassen und das offne Meer erreichen können. Trotzdem wird es für die nächsten Tage die Klugheit verbieten, im Gewässer der Lagune zu baden. Den Potwal suchen zwei Männer, die deshalb ein Boot bestiegen haben, mittelst starker Taue festzulegen. Später an den Hafendamm herangezogen, wird er von dem Malaien zerlegt, der in dieser Arbeit kein Neuling zu sein scheint.

Mit Sicherheit weiß ich nun, wo der Tunnel unter der westlichen Höhlenwand diese durchbricht. Die Mündung befindet sich nur drei Meter unter der Wasserlinie. Freilich kann mir das kaum zu etwas nützen.

Am 7. August. – Zwölf Tage sind nun vergangen, seit der Graf d'Artigas, der Ingenieur Serkö und der Kapitän Spade abgefahren sind. Noch deutet nichts auf eine baldige Rückkehr der Goelette. Dennoch hab' ich bemerkt[141] daß sich der Tug, wie ein Schiff unter Dampf, immer zum Auslaufen bereit hält, denn seine galvanischen Battrien werden vom Maschinisten Gibson zur sofortigen Aufnahme ihrer Thätigkeit fertiggestellt. Wenn die Goelette »Ebba« auch nicht fürchtet, am hellen Tage in einem der Unionshäfen einzulaufen, so wird sie doch jedenfalls den Abend vorziehen, um in den Canal von Back-Cup zu gelangen. Ich glaube deshalb, daß Ker Karraje und seine Begleiter in der Nacht zurückkommen werden.

Am 10. August. – Gestern Abend gegen acht Uhr hat sich der Tug, wie ich vermuthete, versenkt und den Tunnel noch zeitig genug passiert, um die »Ebba« durch die enge Wasserstraße zu schleppen. Von dieser hat er dann die Passagiere und die Mannschaft zurückgebracht.

Bei meinem heutigen Morgenausgang bemerke ich den Ingenieur Serkö und Thomas Roch, die sich unterhalten, während sie der Lagune zuschreiten. Wovon die Beiden reden mögen, das kann ich wohl errathen. Ich halte mich zwanzig Schritte von ihnen entfernt, was mir gestattet, meinen ehemaligen Pflegebefohlnen zu beobachten.

Seine Augen leuchten, seine Stirn heitert sich auf und sein Gesicht gewinnt einen andern Ausdruck, während der Ingenieur Serkö auf seine Fragen antwortet. Er kann sich kaum an der Stelle halten, sondern hat offenbar Eile, nach dem Hafendamme zu gelangen.

Der Ingenieur Serkö folgt ihm, und Beide bleiben am Ufer neben dem Tug stehen.

Die mit Löschung der Fracht beschäftigten Leute legen zehn Kisten von mittlerer Größe zwischen den Felsen nieder.

Die Deckel dieser Kisten tragen in rothen Buchstaben eine eigenthümliche Bezeichnung... große Buchstaben, die Thomas Roch aufmerksam betrachtet.

Der Ingenieur Serkö giebt dann Befehl, daß die Kisten, jede von etwa einem Hektoliter Inhalt, nach den Niederlagen am linken Ufer geschafft werden, und das wird mit Hilfe des Bootes sofort ausgeführt.

Meiner Ueberzeugung nach werden die Kisten die Stoffe bergen, aus deren Zusammensetzung oder Mischung der Sprengstoff und der Zünder hervorgeht.

Was die Nebenapparate betrifft, so dürften diese in einer Maschinenfabrik des Festlands bestellt worden sein. Wenn sie fertig sind, wird die Goelette wieder auslaufen, sie zu holen und nach Back-Cup zu befördern.[142]

Diesmal ist die »Ebba« nicht mit gestohlnem Gute zurückgekommen und hat sich keiner neuen Seeräubereien schuldig gemacht. Mit welch furchtbarer Macht für den Angriff wie für die Vertheidigung zur See wird Ker Karraje aber in Zukunft ausgerüstet sein! Wenn man Thomas Roch glauben darf, so würde sein Fulgurator ja imstande sein, das ganze Erdsphäroid mit einem Schlage zu vernichten, und er wäre der Mann dazu, das eines Tages wirklich zu versuchen.

Quelle:
Jules Verne: Vor der Flagge des Vaterlands. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXIX, Wien, Pest, Leipzig 1897, S. 133-143.
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