26. An Selma

[196] Um Mitternacht.


13. Januar 1774.


Du seraphischer Geist! Heiliger Gotteshauch!

Wird mein sterblicher Blick nimmer gewürdiget,

Deiner Herrlichkeit Abglanz,

Jene Himmelsgestalt, zu schaun?


O so wandelte Fluch, als ich geboren ward!

Nacht, so keimten in dir ländervergiftende

Schandgesäng', und ein König

Sann der Freiheit die Fessel aus!


So gab Gott mir im Zorn dieses phantastische

Herz, das geniuskühn zaubernde Träume schafft,

Dann abgöttische Thränen

Vor dem eignen Geschöpfe weint! –


Traum war, täuschender Traum, dieser erhabne Blick?

Dieses Beben der Brust? dieser edenische

Frühling lächelnder Wangen?

Ganz der himmlischen Seele Bild?


Nein! so wahr er im Sturm freudiger Schauer mich

Drauf, durch Sphärengesang, unter die Blüten riß,

Wo in goldenen Schalen

Mir Unsterblichkeit funkelte:


Diesen göttlichen Traum schuf mir ihr Genius!

Ihren ahndenden Wunsch hüllt er in Morgenglanz,

Bracht' in Schlummergewölken

Dann die heilige Bildung mir!


Uns, zur Liebe bestimmt, ach! zu der feurigsten

Reinsten Liebe bestimmt! warum, o Selma, schrieb

Dort ein schwarzes Verhängnis

Unsre Trennung mit Sternenschrift?
[197]

Ach! ich fühl' es, sie feufzt! Eile, geflügelter!

Selma seufzet dir auch! Eile, beglückter Tag,

Der in Thränen der Liebe

Meinem zitternden Arm sie schenkt!


Flamme Gottes, du strahlst, Liebe! der Sonne gleich,

Auf des Todes Gefild Leben und Schönheit aus!

Gleich dem Liede Sionas,

Stürmst du Seelen zu Gott empor!


Oft durchbebtest du mich, Liebe! doch unerkannt,

Schien dein Odem mir jetzt Balsam der Sommernacht,

Jetzt ein Säuseln des Frühlings,

Jetzt ein Seufzen der Nachtigall!


Schon im schattigen Thal, wo wir, noch Seelen nur,

Träumten, spielten wir stets unter demselben Strauch,

Pflückten einerlei Blumen,

Horchten einerlei Harmonie.


Doch die Seraphim, einst unserer Pilgerschaft

Zu Geleitern gesellt, senkten den Psalterton

Oft zum Lispel der Wehmut,

Blickten seitwärts, und weineten.


Jetzo weinen auch wir! Dumpfere Trauer bebt

Diese Saiten herab! Denn in der Mitternacht

Leisem Hauche begegnen

Sympathetische Seufzer sich!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 196-198.
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