[618] Auf dem Bergjoche angelangt, gewahrt Brünnhilde, in die Schlucht hinabblickend, Siegmund und Sieglinde; sie betrachtet die Nahenden einen Augenblick, dann wendet sie sich in die Höhle zu ihrem Roß, so daß sie dem Zuschauer gänzlich verschwindet. – Siegmund und Sieglinde erscheinen auf dem Bergjoche. Sieglinde schreitet hastig voraus; Siegmund sucht sie aufzuhalten.
SIEGMUND.
Raste nun hier,
gönne dir Ruh!
SIEGLINDE.
Weiter! Weiter!
SIEGMUND umfaßt sie mit sanfter Gewalt.
Nicht weiter nun!
Er schließt sie fest an sich.
Verweile, süßestes Weib!
Aus Wonne-Entzücken
zucktest du auf,
mit jäher Hast
jagtest du fort:
kaum folgt ich der wilden Flucht,
Durch Wald und Flur,
über Fels und Stein.
Sprachlos, schweigend
sprangst du dahin,
kein Ruf hielt dich zur Rast!
Sie starrt wild vor sich hin.
Ruhe nun aus:
rede zu mir!
Ende des Schweigens Angst!
Sieh, dein Bruder
hält seine Braut:
Siegmund ist dir Gesell!
Er hat sie unvermerkt nach dem Steinsitz geleitet.
SIEGLINDE blickt Siegmund mit wachsendem Entzücken in die Augen; dann umschlingt sie leidenschaftlich seinen Hals und verweilt so; dann fährt sie mit jähem Schreck auf.
Hinweg! Hinweg!
Flieh die Entweihte!
Unheilig
umfängt dich ihr Arm,
entehrt, geschändet
schwand dieser Leib:[619]
flieh die Leiche,
lasse sie los!
Der Wind mag sie verweh'n,
die ehrlos dem Edlen sich gab!
Da er sie liebend umfing,
da seligste Lust sie fand,
da ganz sie minnte der Mann,
der ganz ihr Minne geweckt –
vor der süßesten Wonne
heiligster Weihe,
die ganz ihr Sinn
und Seele durchdrang –
Grauen und Schauder
ob gräßlichster Schande
mußte mit Schreck
die Schmähliche fassen,
die je dem Manne gehorcht,
der ohne Minne sie hielt! –
Laß die Verfluchte,
laß sie dich fliehn!
Verworfen bin ich,
der Würde bar:
dir reinstem Manne
muß ich entrinnen,
dir herrlichem darf ich
nimmer gehören!
Schande bring ich dem Bruder,
Schmach dem freienden Freund!
SIEGMUND.
Was je Schande dir schuf,
das büßt nun des Frevlers Blut!
Drum fliehe nicht weiter;
harre des Feindes:
hier soll er mir fallen!
Wenn Nothung ihm
das Herz zernagt,
Rache dann hast du erreicht!
SIEGLINDE schrickt auf und lauscht.
Horch, die Hörner!
Hörst du den Ruf? –
Ringsher tönt
wütend Getös,
aus Wald und Gau
gellt es herauf.
Hunding erwachte[620]
aus hartem Schlaf.
Sippen und Hunde
ruft er zusammen:
mutig gehetzt
heult die Meute,
wild bellt sie zum Himmel
um der Ehe gebrochenen Eid!
Sie starrt wie wahnsinnig vor sich hin.
Wo bist du – Siegmund?
Seh ich dich noch?
Brünstig geliebter,
leuchtender Bruder!
Deines Auges Stern
laß noch einmal mir strahlen:
wehre dem Kuß
des verworf'nen Weibes nicht!
Sie hat sich ihm schluchzend an die Brust geworfen; dann schrickt sie ängstlich wieder auf.
Horch! O horch!
Das ist Hundings Horn!
Seine Meute naht
mit mächt'ger Wehr:
kein Schwert frommt
vor der Hunde Schwall,
wirf es fort, Siegmund!
Siegmund – wo bist du? –
Ha dort! Ich sehe dich!
Schrecklich Gesicht!
Rüden fletschen
die Zähne nach Fleisch;
sie achten nicht
deines edlen Blicks,
bei den Füßen packt dich
das feste Gebiß:
du fällst
in Stücken zerstaucht das Schwert: –
die Esche stürzt –
es bricht der Stamm!
Bruder! Mein Bruder!
Siegmund – ha! –
Sie sinkt ohnmächtig in Siegmunds Arme.
SIEGMUND.
Schwester! Geliebte!
Er lauscht ihrem Atem und überzeugt sich, daß sie noch lebt.[621] Er läßt sie an sich herabgleiten, so daß sie, als er sich selbst zum Sitze niederläßt, mit ihrem Haupt auf seinem Schoß zu ruhen kommt. In dieser Stellung verbleiben Beide bis zum Schlusse des folgenden Auftrittes. – Langes Schweigen, während dessen Siegmund mit zärtlicher Sorge über Sieglinde sich hinneigt und mit einem langen Kusse ihr die Stirn küßt.
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