Phaethon an Theodor

[35] Oft wenn ich erwache bei Nacht, da seh' ich meinen Amor vom Mondlicht wie von einem zarten innigen Leben glühend, und es ist mir dann, als ob das stumme Bild mehr als toter Marmor wäre.

Warum will die Jugend immer nur das Große? In ungeheuren Schöpfungen will sie sich offenbaren; und was ist mehr, die Riesengestalten Ägyptens oder die stille gemäßigte natürliche Schöne der Griechen?

Die Kunst der Griechen ist wie das wellenlose spiegelklare Meer. Sie ist immer heiter. Der schöne Himmel Griechenlands ist überall abgespiegelt. Aus allem lächelt das Leben, wie bei uns aus allem der Tod. Denn was ist es anders, das uns anhaucht in dunkeln Schauern aus den unendlich verzierten und verschnörkelten Strebepfeilern, Gewölben und Bögen, den hohen bemalten Fensterscheiben, den unzähligen Nischen und Spitzgebäudchen, den Kruzifixen, Blumen und Heiligenbildern des gotischen Domes als der Tod? Ich will es nicht tadeln; aber ist das heitere Spiel des Lebens und der Schönheit nicht mehr als der schaurige,[36] ewig aus den gespensterartigen Formen hervortretende Geist des Grabes?

In allen Werken der Alten ist Ruhe, die Schwester der Größe. Das Kolosseum wie die Siegesgesänge des Pindaros sind riesengroß; aber ein ruhig stiller Geist spricht aus dem Bau der Steine wie der Strophen.

Maß in Fülle, und Fülle in Maß, das ist das Wesen der Griechen wie überhaupt das Wesen der Kunst.

Auf der Stirne des Zeus sträuben sich die Locken wie die Mähne eines Löwen und strudeln über die Schläfe hinunter; aber die Miene des Weltgebieters ist mild. Und schüttelt er nur die Locken, so zittert Himmel und Erde.

Ich kann Dirs nicht verbergen: auch mich ergreift noch das Gigantische, das Maß Überschreitende. Der verlassene, auf der Heide mit den empörten Elementen kämpfende Lear wär' ein Vorwurf für mich. Aber laß nur die Wogen sich bäumen! Dann besänftigt sich das Meer schon wieder.

Das ist eben das Größte, daß bei den Griechen alle Werke ein Geist beseelt.

Stelle Dich vor den Laokoon und erkenn' in ihm den tiefen Geist der Ruhe des Sophokles. Er hat den Knoten der Begebenheiten wie der Schlangen geschlungen.

Wie der gewaltige Pheidias nur das Riesenmäßige liebte, so geht auch Äschylos über das Gewöhnliche hinaus, und sein hoher mächtiger Geist regt sich wie im alten Reiche die Urgötter. Die Gestalten des Sophokles haben die Rundung des vatikanischen Apoll;[37] aber sie sind noch keusch wie die Tochter Latonas. Im Euripides schweifen sie ins Weichliche, Üppige hinüber wie in den rundlich schwellenden Formen des Dionysos. Wenn der Blick an den übermäßigen Formen des Pheidias und Äschylos aufgehalten wurde, so gleitet er ruhig und selig über die liebliche Fülle des Sophokles und des Antinoos hin.

Es ist alles Einheit und Harmonie bei den Griechen.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 35-38.
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