Phaethon an Theodor

[33] Des Morgens bin ich gern im Freien. Da schließt sich mein Busen wieder auf wie die Blumenglocken auf der Wiese. Mein ganzes Wesen ist so frisch wie das taubesprengte Gras. Ich lieg' oft stundenlang unter meiner Eiche auf dem Hügel und hör' all das geschäftig rege Treiben umher mit einer wunderbaren Wonne. Ach, und Du weißt nicht, was sich da für Gedanken regen, wenn ich hinüberseh' auf die vielen stillen Dörfer. Ich mein', ich müsse dort etwas suchen, und weiß doch nicht was. Dann ergreift mich ein nie gefühltes Sehnen. Hinüberdrängt's mich, hinüber! Und ich strecke meine Arme aus, als wollt' ich eine Braut umfangen, und weine hinüber in die blauen dämmernden Fernen. Ach, sie lächeln mich so lieblich unschuldig an wie die Wangen eines Kindes.

Oft überrascht mich mein Johannes – so heißt jener schöne Jüngling, von dem ich Dir geschrieben – und setzt sich zu mir und trauert mit mir. Ich sah's ein paarmal schon, daß sein Auge blinkte wie der Tau auf der Blume, und er sich zur Seite wandte und[34] die Tränen sich abwischte. Er muß auch einen Kummer auf seinem Herzen haben.

Ach, wozu führt mich noch all das unbegreifliche, unaussprechliche Sehnen?

Ein Etwas blickt mich oft an wie die bescheidenen Stahlen der Morgensonne und umweht mich wie der buhlende Wind. Da ist's mir, als ahnt' ich etwas Großes, Heiliges, das da kommen wird. Theodor, denke Dir, was Du willst!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 33-35.
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