Phaethon an Theodor

[79] Fast jeden Abend bin ich drüben. Ich bin schon halb zu Haus im Garten und im Schlößchen; nur in Katons Mausoleum nicht. Wenn ich einmal nicht hinübergehe des Abends, dann sitz' ich stundenlang in meinem Zimmer, lege mein Gesicht auf meinen Arm und höre meinem Pulse zu, und jeder seiner Schläge wallt für sie. Oder ich geh' auch auf den Hügel und setze mich an die Stelle, wo sie einst saß, und sehe die Sonne hinunter wandeln und strecke meine Arme aus nach ihr, als wollt' ich sie umfassen.

Und des Nachts träum' ich von ihr. Da halten wir uns in Armen wie unschuldige Kinder und sitzen auf einer Wiese unter schattigen Bäumen. Wir pflücken uns Blumen, und ich steck' ihr eine Rose an den Busen und drück' ihr dann einen Kuß auf den keuschen lieblichen Mund, und wir lächeln uns dann wieder an und liegen einander wieder an der Brust. Ach, und wenn ich dann erwach' und glaube, ich habe sie in meinen Armen: und es war nur ein Traum!

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Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 79-80.
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