Phaethon an Theodor

[81] O, im Freien ist mir so schmerzlich wohl. Und ist's nicht natürlich? Du reine heilige Luft, du umsäuselst mich ja, ewige, endlose! In deinen Armen ruhet die Erde wie der Säugling im Schoß der Mutter! Du küssest die jähen Riesenstirnen einer Felswand wie das bescheidene Blümchen, das um eine Quelle wankt. Du bist's, die tausendjährige Eichenstämme mit starkem Arm an ihrer Krone faßt und aus der Wurzel die gewaltigen wirbelt; du bist es, die in kindisch-heiterm Spiel um eines Mädchens Locken wie um eine volle Rose weht! Mutter, alliebende, du kühlst mir wie das Flüstern einer fernen Ahnung oft die heiße Stirne und legst dich schmeichelnd an meinen glühenden Busen. Nach dir dürsten alle Wesen, du Allernährende! Ach, und sie hast du liebend schon umfangen, als sie, ein harmlos lächelnd Kind, an ihrer Mutter Brüsten lag und in der Wiege mit farbigen Blumen spielte. Und jetzt noch küssest du die vollen Wangen der Jungfrau, und sie errötet nicht, denn deine Lippen sind keusch. Du Reine, du bist ja die erste, die den Menschen[82] mit freundlichen Armen umfaßt, wenn er eintritt in die Welt, und du bist's, die den letzten verklingenden Seufzer von seinen Lippen nimmt, Göttliche, Anbetungswürdige!

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Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 81-83.
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