Phaethon an Theodor

[28] Ich begreife, Theodor, wie die Griechen schöne Knaben und Jünglinge lieben konnten.

Denk' an die süße Trunkenheit, womit das Vollgefühl der unendlichen Lebensglut ewigkeimender Natur im Morgenglanz ihrer jugendlichen Schönheit ein zartempfindendes Gemüt überschüttet! Und gibt's in unserm rauhen Norden Geister, die so vom Gefühl der heiligen Naturschöne überwältigt werden? Wie allmächtig war diese Empfindung unter dem sonnigen Himmel jenes glücklichsten der Völker, dessen Einheit mit dem Naturgeist, dessen zartempfänglichen Sinn für jede Berührung der stummlebendigen Welt jene Orgien, jene Orakel, jener geheimnisvolle Demeter-Dienst und jene tausend Mysterien bezeugen, von denen uns kaum noch eine matte Ahnung in düstern und unheimlichen Phänomenen zurückblieb. Diese schöpferische Herrlichkeit und Blütenfülle der beseelten Natur war es, was die Griechen aus der Schönheit männlicher Jugend mit unwiderstehlicher Gewalt ansprach. Es war eine wunderbare anbetende Liebe.[29]

Und ist die männliche Jugendschönheit im Glanze der Tatkraft und der Freiheit nicht mehr als die Pflanzennatur des Weibes, die größtenteils doch nur das Bedürfnis mit ihren Reizen überkleidet?

Sieh den Dionysos an, den jugendlichen Gott der schaffenden Natur! Wie eine Jungfrau senkt er schmachtend die üppigvollen Augen nieder; die zarten Glieder schwellen wie die Trauben, die seine reichen Locken kränzen, und rein und blühend ist die Schönheit über all sein Wesen wie ein einziger linder Hauch gegossen.

Das Leben der griechischen Jünglinge war wie ein ewiger Kuß. Begreifst Du, wie man einen Kuß von Chamoleos um zwei Talente bezahlte?

Mich dünkt, der Hippolytos des Euripides kläre darüber auch die dünnsten Köpfe auf. In diesem heiligen Gemüt spiegelt sich der Äther ab, der reine wolkenlose. Er ist schön wie der Mond und keusch wie seine Göttin. Ihr ist sein Busen nur geheiligt, und der Mädchen liebeschmachtendes Auge übersehend zieht er mit Genossen und Hunden jagend durch die Wälder. Er ist eine männliche Artemis.

Ist ja der Mann der Sohn der Sonne, aber das Weib die Tochter des Mondes.

Theodor, so etwas versteht man nicht mehr. Denn die Welt altert.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 28-30.
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