Phaethon an Theodor

[30] Nicht wahr, nur in Griechenland war's möglich, daß eine Phryne vor den Augen aller Griechen ins Bad stieg und wie die süße Göttin der Wollust und der Liebe aus den Wellen tauchte? Wo feiert ein Volk noch Wettspiele in der Schönheit?

Die jungfräulichen Leiber, die auf den Höhn des Eryx sich dem Dienst der Aphrodite weihten, hießen heilig.

Und was gilt körperliche Stärke noch bei uns? Welcher Geist war göttlicher als der Geist des Platon? Und Platon rang in den heiligen Spielen des wellenumrauschten Isthmos.

Aus der Gymnastik entsprang die erhabene Todesverachtung eines Harmodios und Aristogeiton, und Freiheit und Freundschaft erhoben sich aus ihr wie Blüten aus dem gesunden kräftigen Stamme. Wie ein Schleier umhüllte der gewandte schöne Körper den ewigjungen Geist. Weisheit und Tapferkeit waren wie Blumen, die aus einem Stengel blühen. Wir fühlen nur halb des Lebens Kraft und Schöne; denn seine andere Hälfte, der Körper, ist für uns verloren. Wir staunen die[31] Werke des Altertums an wie unglaubliche Riesenschöpfungen, aber die Quelle, woraus der Geist der Alten floß, bemerken wir nicht.

Der Geist des göttlichen Pindaros ruht wie eine unermeßliche Eiche über den griechischen Kämpfern, in deren Schatten sie den Schweiß sich trocknen von der freien Heldenstirn. In seinen feuertrunknen Gesängen liegt das Geheimnis griechischer Erziehung. Kein Grieche spricht den Geist seines Volkes mehr aus in seiner Kraft und Fülle wie er. Alle Strahlen griechischer Vollkommenheiten sind in ihm gesammelt und wie zu einer großen Sonne geworden.

Meine seligsten Stunden bracht' ich im Antikensaale zu. Schon als ein kleiner Knabe, wo mich die Zukunft wie ein zarter Geist umsäuselte, wo ich mit kindlichheiterm Sinn nur nach dem Nächsten griff, ach, wo mich all das, was ich jetzt erkannt, wie eine dunkle Ahnung noch umspielte, vergaß ich lächelnd Gegenwart und Zukunft und kniete staunend in dem heiligen Raume. Da hing an den weißen Gestalten der hohen Vorwelt mein trunknes Auge selig und begeistert. Der alte große Göttervater, deß majestätischhohe Stirne die Wellen des wildaufwallenden Gelocks umfließen, in all seiner Herrschergröße aus dem tiefen Auge blickend und doch so liebendväterlich, so würdigmild wie der Geist, der ernste alldurchblickende! Und wie das Gemüt ihm gegenüber der Liebe schmachtend süße Göttin in ihrer üppigbescheidnen Schöne, mit ihrem holdlächelnden Auge, mit ihrem vollen gewölbten Nacken, mit ihren weichen schwellenden Gliedern, wie ins Morgenrot[32] getaucht! Hier wie die aufquellende Kraft, des erhabenen Vaters ähnlichster Sohn, der jugendlichstarke Apollon, in stammender Anmut seines Zornes, und neben ihm seine Schwester, die schöne keusche Jägerin, leichtschwebend wie ein schlankes Reh, den Boden kaum mit ihrem Fuß betretend! Hier die kolossale Gestalt der höheren Athene, das tiefe Bild der ernsten Mäßigung, mit jungfräulichem Ernst die großen Augen auf die Erde kehrend, und neben ihr wie Ungestüm bei Weisheit der junge trotzig wilde Gott des Krieges, mit kühnem Selbstgefühl die hochgewölbte Brust geschwellt! – Theodor, ach da schwanden mir die Sinne, dem knieenden Knaben, und alles graute mir vor meinem Blick, und große heilige Tränen schwammen mir im Auge, und schauernd fühlt' ich ihn wehen durch die stillen Gestalten, den Geist der Fülle, Mäßigung und Schöne.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 30-33.
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