Phaethon an Theodor

[204] Es ist schrecklich, wie wenig die Menschen teilnehmen aneinander! Glückliche und Unglückliche, Lachende und Weinende. Nirgends ein Blick aus reinem uneigennützigem Herzen. Keine Tugend geliebt um ihrer selbst willen. Alles nur Eitelkeit und Selbstliebe. Jeder geht nur seinen eignen Weg, und nach dem Schmerz des Bruders fragt er wenig.

Und jene allwirkende Verbindung von Verstand und Gemüt, wie ist sie so selten! Das Herz, das warme jugendliche, muß sich um den Geist schlingen wie Rosen um die ernste Stirn eines Greisen, wie zarte junge Akazienblätter um graue unerschütterliche Mauern.

Der Verstand ohne Herzenswärme macht unerträgliche Pedanten; das Herz ohne den ernsten Blick des Verstandes wird zur Schwachheit.

Mich halten sie für einen Schwärmer und Sonderling. Der eine lächelt; der andere spöttelt; und wieder einer rümpft bedächtlich die Nase.

Und ich möchte doch alle umfassen, alle lieben![205]

Ich stand gestern so vor einem Menschen, der redlich und brav vom Morgen zum Abend arbeitet und sich erstaunlich viel zu machen weiß aus dem bißchen Gelehrsamkeit, das er mit Mühe zusammenscharrt. Ich wußte von ihm, er habe noch nie geliebt, und – lächle nur! – ich sah den Menschen an mit einer seltsamen Bewegung. Ich wunderte mich, daß der Arme nur stehen könne ohne Liebe; und er glaubte gar, er sei vergnügt.

Das lerne ich einsehn: es kann keine Allgemeinheit mehr geben in unserer Zeit; jeder Versuch ist vergebens. Darum ist es das Klügste, den Schmerz in die Brust zu pressen und zu wirken für sich und andere so viel als möglich.

Lieber, es gibt Dinge, die das innigste Heiligtum unserer Seele sind und Wert und Gehalt verlieren, wenn man sie ausspricht. Drum laß mich schweigen! Nur das!

Länger kann's doch nicht mehr so dauern. Ich glaube, unsere Zeit ringt mit einer schweren großen Geburt. Es werden unsere Umstände sich umgestalten und neue Bahnen einer angemessenern Wirksamkeit eröffnen den Vielen, die jetzt nicht wissen, wo ein noch aus.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 204-206.
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