Phaethon an Theodor

[206] Sieh, das Sehnen, das unaussprechliche Sehnen in meiner Brust kannst Du nicht begreifen! Auf dem Gipfel eines hohen Berges lieg' ich halbe Tage lang. Unter mir die Erde mit ihren Wäldern, Wegen, Bergen und Dörfern, so rein, so keusch, die ewig junge liebende! Der blaue Himmel über mir. Die fernen Berge so wunderzart in blassen Duft gehaucht. Die Vergangenheit wie ein weinender Engel, mit ihrem lieben Munde mir die Wangen küssend. All ihre Bilder und Farben! Die Zukunft im Spiegel meiner Ahnung wie ein Regenbogen in den sonnenhellen Tränen meiner Wehmut glänzend ...

Da lieg' ich, nur so ein kleines Männchen, und doch meine Wünsche, meinen wundgeweinten Blick von den ragenden Höhen hinüberstreckend in die ungeheuern Fernen, wo sie lebt, die Liebe, Gute! Ahnend, durchschauert von Schmerz und Wonne, mich fühlend als das wunderbare Kind der Natur, so ganz zerfließend in Eins, in ein Sehnen nach ihr ...

O Theodor, Theodor, ich gehe zu Grunde!

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Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 206-207.
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