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[188] Die plastische Vollkommenheit der Formen ist nur dann Schönheit, wenn eine Idee sie beseelt.
Wie der Geist den Körper, so muß eine Seele die Form beleben.
Die Schönheit muß rein und klar das Geistige gleichsam verkörpert zeigen wie Wasser den Himmel.
Die wahre Schönheit kann nicht sein ohne diese Einigung des Geistigen und Sinnlichen. Das Geistige muß auf der Form beruhen wie befruchtender Tau auf der Blume.
Die Schönheit der Form ohne den beseelenden Hauch des Geistes kann zwar dem Auge, das nicht eingeweiht ist, die wahre Schönheit zu erkennen, als eine wahre erscheinen; aber sie ist es nicht.
Wenn sich aber beides eint wie mit einem weichen Kuß der Liebe, dann entzückt es sowohl die Sinne wie den Geist. Er öffnet sich dann in seiner Fülle wie die aufgehende Morgenrose.
Die höchste Eigenschaft dieser Schönheit ist Reinheit. Sie ist wie eine weiße gestaltete Lichtflamme.[189] Auch ist sie mäßig bei aller Fülle. Ihr Auge ist die unergründbare Tiefe der Seele, das innigste wärmste Leben des Gemüts, das Empfindung aus sich sendet wie Lichtstrahlen die Sonne. Der Mund ist das Geheimnis der Einung durch den Kuß, und die Strahlen, die durch das Auge flossen, quillen aus ihm in dem Augenblick, wo die Sehnsucht gestillt wird. Aus dieser Einung aber wird ein drittes erzeugt, und der schwellende Busen ist die Fülle der Fruchtbarkeit.
Das helle Sonnenlicht drang durch die Fenster. Atalanta stand vor mir. Ich folgte der Natur in der Bildung ihrer Schönheit und ahmte sie nach in ihren fließenden Formen, in ihren Wellenlinien, in ihren zartgehauchten Rundungen, in ihren wallenden Wölbungen. Wie der Schleier vom seligsten tiefsten Geheimnis war die letzte Hülle gefallen, und ihr Busen quoll wie zarte Milch aus dem dunkeln Gewande. Ihn deckte halb die Hand, und das Auge ruhte jungfräulich verschämt auf ihm.
Mein Auge zitterte wie das Auge des Jüngers, wenn der Schleier sich lüftet vom Allergeheimsten und er mit heiliger Scheu sich angereiht sieht an die Eingeweihten.
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Phaeton
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