Phaethon an Theodor

[192] Noch bin ich wie von Sinnen. Es kam zu unerwartet. Ich saß die halbe Nacht hindurch bei den drei Säulen. Fürchterliche Ahnungen stiegen aus den Schatten.

Sie zu verlassen, Gott, das ist zuviel für mich! Wenn ich des Morgens aufstehe, lächeln mir ihre Wangen zum Kusse wie die frische Morgenröte; eh ich des Abends zu Bette gehe, drück' ich sie noch einmal an meine Brust und blicke mit ihr zu den Sternen und danke dem Schöpfer für unser Glück, für unsere Wonne. O, ich war wieder zum Kind geworden, zum liebenden geliebten Kinde, das sein göttliches Dasein kaum fühlte vor seiner Trunkenheit, seiner lautern innigen Begeisterung!

Und das alles nun vorüber! Ich werde unter fremden Menschen wandeln, die mich nicht lieben, die ich nicht lieben kann. Kein Blick aus ihrem Auge stärkt mich mehr. Kein Händedruck, kein Kuß.

O Theodor, nicht beten, nicht weinen mehr mit ihr!

Bruder, die Blätter fallen schon vom Baume. Der Wanderer tritt über sie. Auch mein Herbst ist[193] da, aber ich ernte keine Früchte; ich sehe nur dem Winter ins bleiche verglommene Auge.

Ich will nicht weiterschreiben. Du fassest doch nicht, wie mir ist.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 192-194.
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