Sechstes Lied

[65] Sie.


Ja, so laß es uns bestellen,

Besser ist's, ich bin im Kloster

Als in meines Vaters Hause;

Nimmer kannst du hier mich sehen,

Denn der böse Vater zürnet,

Ach! und Feinde hast du mehr

Als du weißt, in diesen Bergen.


Ich.


Halte treu an dem Entschlusse,

Deiner wart' ich denn im Kloster:

Hätt' es nimmer mir geträumet,

Daß mein Liebchen Nonne würde.

Gut ist es, des Vaters Zürnen

Zu vermeiden, doch warum,

Sprich, hab ich der Feinde viele?


Sie.


Viele schon, und wohl ein Dutzend

Haben mich zum Weib begehret,

Aber welche mir gefielen,

Die gefielen nicht dem Vater,

Und die er gewählt, ich mochte

Sie nicht leiden, alle nun

Macht die Eifersucht zu Feinden.


[65] Ich.


Drum mit seinem Willen wirst du

Niemals eines Mannes werden,

Und so laß denn im Geheimen

Einen Liebesbund uns knüpfen;

Glaub', ich kenne Welt und Menschen,

Glaube, Mädchen, wer nicht täuscht,

Wird dafür getäuscht von andern.


Sie.


Aber, lieber Freund, ich fürchte,

Allzu eng sind Klosterbande;

Uns zu sehn, und uns zu sprechen,

Schwierig wird es sein; die Nonne

Bleibt im traurigen Gemache.

Ach mir bangt, es wird uns nicht

Glücken, wieder uns zu finden.


Ich.


Ohne Furcht, mein Kind, es findet

Das Geheimniß eines Briefchens

Eingang auch ins Nonnenkloster;

Doch die holde Kunst zu schreiben

Sei die erste, die du lernest;

Liebe, die da sprechen lehrt,

Liebe lehrt gewiß auch schreiben.


Sie.


Und so geben denn die Heiligen

Ihren Schutz dir auf die Reise;

Nimm zum Pfande meiner Treue

Diese Hand, du darfst nicht weilen,

Denn sie lauern dein und trachten

Böses – warte mein in Rom!

Lebe wohl! Auf Wiedersehen!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Gedichte aus Italien, Band 1: Lieder des Römischen Karnevals und andere Gedichte, Leipzig 1893/1895, S. 65-66.
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