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[271] Judith Imhof ging an allen Gastspielabenden Lorms ins Theater. Sie ging aber nicht mit ihrem Mann und Crammon; die beiden störten sie; für Crammon hatte sie außerdem wenig Sympathie; wenn er ihr nicht gerade spaßhaft erschien, fand sie ihn unleidlich.

Sie nahm einen Platz im Parkett, und im Zwischenakt winkte sie gnädig und gelassen Crammon und Felix zu, die in einer Loge saßen. Um die Verwunderung der Bekannten kümmerte sie sich nicht. War jemand so vermessen, sie nach dem Grund ihres Alleinseins zu fragen, so antwortete sie: »Imhof mag es nicht, wenn einem andern etwas mißfällt, was ihn begeistert, und so gehen wir getrennte Wege.«

»Mißfällt Ihnen denn Lorm?« fragte der oder die Neugierige unfehlbar weiter. Worauf sie entgegnete: »Ich habe nicht viel übrig für ihn. Es ist wahr, er zwingt mir Interesse ab, doch das trag ich ihm nach. Ich begreife nicht, daß man so viel Aufhebens von ihm macht.«

Eines Tages wurde sie von einer Dame aus ihrem Kreis gefragt, ob sie sich in der Ehe glücklich fühle. »Ich weiß es nicht,« erwiderte sie lachend; »ich kann mir unter dem, was die Menschen Glück nennen, nichts Rechtes vorstellen.« Warum sie dann geheiratet habe? forschte die Dame. »Sehr einfach,« antwortete sie; »junges Mädchen zu sein, war mir ein so unerfreulicher Zustand, daß ich getrachtet habe, ihn so bald wie möglich zu beendigen.« So liebe sie also ihren Mann nicht? »Gott, Liebe,« versetzte sie, »Liebe. Mir scheint, mit dem Wort wird viel Unfug getrieben. Ich glaube, die[271] meisten Leute flunkern bloß, wenn sie von Liebe reden, und legen sich nur deshalb so ins Zeug, weil keiner zugeben will, daß nichts dahinter steckt. Es ist wie mit des Königs neuen Kleidern im Märchen; alle tun ungeheuer wichtig und entzückt, derweil ist der König im jämmerlichsten Neglige.«

Ein andermal wurde sie gefragt, ob sie sich ein Kind wünsche. »Pfui!« rief sie aus, »ein Kind! Fraß für die Würmer.«

Als einst in Gesellschaft die Rede auf Schmerzempfindlichkeit kam, sagte sie, sie könne jede körperliche Marter erdulden, ohne mit der Wimper zu zucken. Es wurde bezweifelt. Sie verschaffte sich eine lange goldene Nadel und befahl einem Herrn, ihr die Nadel durch den ganzen Arm zu stechen. Als der Aufgeforderte sich erschrocken weigerte, ersuchte sie einen andern darum, der gröbere Nerven hatte, und der ihr willfahrte. Und wirklich regte sich kein Muskel in ihrem Gesicht. Das Blut ergoß sich in einem dicken Bach; sie lächelte.

Felix Imhof konnte bei geringem Anlaß weinen; manchmal schon bei Migräne. Dies verachtete sie an ihm.

Der Schauspieler ging ihr nahe. Sie wehrte sich vergeblich; er hielt sie im Bann, immer fester, immer unlösbarer. Sie grübelte. Waren es die Verwandlungen, die sie reizten?

Wie geschliffener Stahl, biegsam und elegant, war sein Körper, der den Vierzigjährigen zum Epheben machte. Wie Stahlschlag seine Stimme, in der die Worte als Funkengewirbel aufprasselten. Unter seinen Schritten wurde die Bretterbühne zur Palästra; da klebte nichts, da winselte und kroch nichts; alles war Anspannung, Fortgang, Verve, Rhythmus, Sturmtakt. Nichts innere Belastung, alles Fanfare. Sie gab Felix recht, als er sagte: »In diesem Menschen ist mehr Inhalt unsrer Zeit als in sämtlichen Journalen, Leitartikeln, Broschüren und dickleibigen Wälzern, die seit zwanzig Jahren die Druckerpresse verlassen haben. Er hat das Wort zum Herrscher gekrönt.«

Sie war ungeduldig nach der persönlichen Bekanntschaft[272] mit Lorm. Crammon machte den Vermittler. Lorm kam ins Haus. Die Häßlichkeit seines Gesichts überraschte sie. Sie verübelte ihm die unbedeutende Stulpnase und die niedrige Stirn. Der Zauber wurde dadurch nicht gebrochen. Sie wollte es übersehen und übersah es. Es war eine Verwandlung mehr. Sie traute ihm unendliche zu.

Er zeigte sich als Feinschmecker mit Resten jener Gier, die Emporkömmlingen eigen ist. Tafelgenüsse verführten ihn zu Ausbrüchen lärmender Fröhlichkeit. Bei Sekt und Austern urteilte er wohlwollend über Feinde.

Er war so launenhaft, daß der Umgang mit ihm anstrengte. Ein Schatten veränderte seine Stimmung. Niemand trat ihm entgegen, und der Mangel an Widerstand hatte einen leeren Raum um ihn erzeugt, der beinahe wie Einsamkeit aussah. Er hielt es selbst für Einsamkeit und gefiel sich schmerzlich darin.

Er sprach nur in Monologen. Er hörte nur sich zu. Aber es lag Unschuld darin wie bei einem Wilden. Wenn andre redeten, verschwand er in einer Versenkung, und seine Augen bekamen einen Steinglanz, ohne daß der noch anwesende Teil von ihm an Artigkeit einbüßte. Doch hatte diese Artigkeit nicht selten etwas belastet Automatisches. Ergriff er dann wieder das Wort, so entzückte er durch Witz, Paradoxie und meisterhaft erzählte Anekdoten.

Unterhaltung mit Frauen vermied er. Schönheit und kokette Künste machten keinen Eindruck auf ihn. Wenn man ihn anschwärmte, wurde seine Miene höflich-aufmerksam und er dachte etwas Respektloses. Er erlebte keine Abenteuer, an seinen Namen hingen sich keine pikanten Gerüchte. Außerhalb des Theaters führte er das Leben eines Privatmannes von bescheidenen Gewohnheiten.

Mit kühlem Spürsinn tastete sich Judith an den Klippen seines Wesens entlang. Sie, die ohne allen Schwung war, vollkommen nüchtern, bloß Nützliches gewahrend, bloß an[273] Zweckmäßiges denkend, von Jugend auf eingeschnürt in Formen und nichts anderes schätzend als Äußeres: Gewänder, Geschmeide, Prunk, Titel, Namen, war in einem Zeitraum von drei Tagen so von ihm besessen, daß sie mit Elektrizität geladen schien. Es war vornehmlich Äußeres, wovon sie fasziniert war: sein Auge, seine Stimme, sein Ruhm; aber es war auch ein Inneres: die Illusion vom Schauspieler.

Sie wußte, was sie tat; sie berechnete jeden Schritt.

Eines Tages klagte Lorm über die Ordnungslosigkeit in seiner Existenz, die heillose Verwirtschaftung seines Erworbenen. Es war bei Tisch; die andern gingen mit Redensarten darüber hinweg; Judith nahm das Thema auf, als es ihr später gelang, mit ihm allein zu sprechen. Sie ließ sich die Personen schildern, die er verantwortlich gemacht und drückte Zweifel an deren Vertrauenswürdigkeit aus. Sie verwarf Einrichtungen, die er getroffen, gab Ratschläge, die er billigte, warf ihm Versäumnisse vor, deren er sich schuldig bekannte. »Ich schwimme in Geld und ersticke in Schulden,« seufzte er; »in zwanzig Jahren werde ich ein alter Mann und ein armer Teufel sein.«

Ihre praktische Umsicht erfüllte ihn mit naiver Bewunderung. Er sagte: »Ich habe bisweilen gehört, daß es solche Frauen wie Sie geben soll, ich habe aber nie an ihre Existenz geglaubt. Ich weiß nur von leeren Ansprüchen und blümeranten Gefühlen.«

»Sie sind ungerecht,« versetzte sie lächelnd, »jede Frau hat ein Gebiet, wo sie sich bewährt; die Welt kümmert sich bloß nicht darum. Zur Welt stehen wir meistens in einem falschen Verhältnis.«

»Dies ist klug,« sagte Lorm befriedigt. Er war ein Geizhals im Lob.

Gern ließ er sich nun von ihr in Gespräche über seine kleinen Sorgen und Nöte ziehen. Er hatte ausführliche Verhöre zu bestehen, denen er sich geduldig unterwarf. Er brachte ihr die[274] Rechnungen seiner Lieferanten. »Man beutet Ihre Unerfahrenheit aus; Sie werden betrogen,« war Judiths Urteil. Er war beschämt.

»Haben Sie Geld ausgeliehen?« fragte sie. Es verhielt sich so. Er hatte zahllosen Schmarotzern seit Jahr und Tag beträchtliche Summen geborgt. Judith zuckte die Achseln und bemerkte: »Sie hätten Ihr Geld ebensogut zum Fenster hinauswerfen können.«

Lorm antwortete: »Es ist so lästig, wenn sie kommen und bitten; ihre Gesichter sind mir unappetitlich; ich gebe ihnen, was sie verlangen, nur um sie loszuwerden.«

Dergestalt bewegten sich ihre Unterhaltungen ausschließlich im Kreis der gewöhnlichsten Alltagsdinge. Aber gerade dies und nichts andres entbehrte und brauchte Edgar Lorm. Es war für ihn so neu und so ergreifend wie für einen nach Poesie und Leidenschaft hungernden Bürger die Entdeckung einer schwärmerisch entrückten Seele.

Judith hatte einen Traum. Sie lag nackt bei einem großen, schlüpfrigen, eiskalten Fisch. Sie lag bei ihm, weil er ihr gefiel, und sie schmiegte sich eng an ihn an. Auf einmal aber begann sie, ihn zu schlagen, denn seine kühlen, feuchten, schlüpfrigen, silbern glänzenden und am Rücken opalisierenden Schuppen flößten ihr eine hexenhafte Wut ein. Sie schlug und schlug, bis ihr die Besinnung schwand und sie erschöpft aufwachte.

Man unternahm eines Nachmittags einen Ausflug ins Isartal: Crammon, Felix, ein junger Freund Imhofs, Lorm und Judith. In einem Wirtsgarten war Kaffee getrunken worden; der Rückweg führte durch den Wald, man ging paarweise, Lorm und Judith waren die letzten. »Ich habe meine goldene Tabatiere verloren,« sagte Lorm plötzlich, in die Tasche fassend, »ich muß das Stück Wegs noch einmal gehen. Im Ort drüben hatte ich sie noch.« Es war eine Kostbarkeit, auf die er besonderen Wert legte, ein Geschenk des Königs,[275] dem er in seiner Jugend in überschwänglicher Freundschaft verbunden gewesen, und ihm unersetzlich als Erinnerungszeichen.

Judith nickte. »Ich werde hier warten,« antwortete sie; »den Weg dreimal zu machen, bin ich zu müde.«

Er entfernte sich, Judith blieb stehen, den Kopf an einen Baum gelehnt, und sann. Ihre Stirn faltete sich, ihr Auge blickte bohrend. Es war still im Wald; die Luft regte sich nicht, kein Vogel schrie, kein Tier ließ Zweige knistern. Die Zeit verging; keineswegs von Ungeduld getrieben, nur von ihren Gedanken, die heftig und bestimmt waren, verließ sie endlich ihren Platz und wanderte langsam in die Richtung, aus der Lorm kommen mußte. Als sie eine Weile gegangen war, sah sie im Moos etwas Goldenes blitzen. Es war die Tabatiere, und sie hob sie ruhig auf.

Lorm kam verstimmt zurück; er schwieg, und als er an ihrer Seite weiter schritt, reichte sie ihm die Dose auf der offenen Hand. Er machte eine Gebärde freudiger Überraschung, und sie mußte ihm berichten, wo sie die Tabatiere gefunden hatte.

Danach schien er eine Weile mit sich zu kämpfen. Auf einmal sagte er: »Mit Ihnen wäre das Leben leichter zu leben.«

Judith erwiderte lächelnd: »Sie sprechen davon wie von etwas Unerreichbarem.«

»Ich glaube, es ist unerreichbar,« murmelte er mit gesenktem Kopf.

»Wenn Sie an meine Ehe denken,« versetzte Judith, immerfort lächelnd, »so halte ich das Wort für übertrieben und den Ausweg für einfach.«

»Ich denke nicht an Ihre Ehe. Ich denke an Ihren Reichtum.«

»Wollen Sie sich deutlicher erklären?«

»Soll geschehen.« Er suchte mit den Blicken in der Runde und trat an einen Baum. »Sehen Sie den kleinen Käfer da?[276] Sehen Sie, wie er sich plagt, um in die Höhe zu kommen? Er hat wahrscheinlich schon ein ganz anständiges Stück Arbeit geleistet heute. Seit Sonnenaufgang mag er schon krabbeln, und wenn er oben ist, hat er was vollbracht. Nehm ich ihn aber jetzt zwischen meine Finger und hebe ihn hinauf, dann ist ihm sogar der Pfad, den er sich selber gebahnt hat, nichts mehr wert. So ist das mit dem Käfer, und so ist es mit mir.«

Judith überlegte. »Vergleiche müssen hinken, das ist ihr Vorrecht,« sagte sie spöttisch. »Ich begreife nicht, daß man einen Menschen verwirft, bloß weil er nicht mit leeren Händen zu einem kommt. Ein lächerlicher Einfall.«

»Zwischen einer Hand, die leer ist, und einer, die über unermeßliche Schätze gebietet, ist ein Unterschied,« antwortete Lorm ernst. »Ich habe mich aus der Armut emporgedient. Sie ahnen nicht einmal, was das ist: Armut. Alles, was ich bin und habe, verdanke ich unmittelbar meinem Körper, meinem Kopf, meinem Gehirn. Sie sind von Geburt an und durch Geburt daran gewöhnt, die Körper, Köpfe und Gehirne andrer Menschen zu kaufen. Und wenn Sie noch tausendmal mehr Sinn und Auge für die Wirklichkeit und vernünftige Lebensführung hätten, als Sie haben, Sie wissen nichts und können nichts wissen von dem sittlichen und höchst achtunggebietenden Gesetz, das Leistung und Entgelt gegeneinander sichert. Ihre Hilfsmittel geben Ihnen immer die Macht, dieses Gesetz zu ignorieren und eine Willkür dafür zu schaffen. Ihr Reichtum wäre mir eine Lähmung, ein Hohn, ein Gespenst.«

Er sah sie mit zurückgeworfenem Kopf an.

»So ist also unser Fall hoffnungslos?« fragte Judith trotzig und blaß.

»Da ich nicht erwarten kann und darf, daß Sie verzichten und Millionen im Stich lassen, um sich einem Komödianten zugesellen, ist er allerdings hoffnungslos.«[277]

»Gehen wir,« sagte Judith, ohne Farbe im Gesicht, »die andern werden uns vermissen. Ich will nicht Anlaß zum Gerede geben.«

Sie schritten rasch und stumm weiter. Der Wald öffnete sich, unter schwarzer Wolkenwand hing die glutbebende Sonnenkugel. In rasendem Zorn starrte Judith hinein. Zum erstenmal war ihr Wille an einen stärkeren Willen geraten. Vor Zorn füllten sich ihre Augen mit Nässe. Vor Zorn stieß sie ein Gelächter aus, das nichts Melodisches hatte. Als Lorm sie betroffen anschaute, wandte sie sich ab und biß die Zähne in die Lippe.

»Ich bin imstande und tus,« sprach sie im Zorn zu sich selbst. Dann wurde es trotziger Entschluß: ich tus, ich tus.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 271-278.
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