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[278] Wie er es erwartet hatte, fand Christian, als er mit Amadeus Voß nach Berlin kam, viele Menschen und viel Tumult um Eva. Kaum konnte er zu ihr dringen. »Ich bin müde, Eidolon,« rief sie ihm entgegen, »führ mich fort.«

Dann wieder, als sie sich aus einem Schwarm von Bedrängern gelöst hatte: »Wie gut, daß du da bist, Eidolon, ich habe mit Schmerzen auf dich gewartet. Morgen reisen wir.«

Aber die Abreise wurde von Tag zu Tag verschoben. Es war davon die Rede, daß sie in dem holländischen Seebad, das ihr nächstes Ziel war, allein und zurückgezogen leben wollte, doch Christian hatte bereits ein Dutzend Personen gesprochen, die dort Quartier bestellt hatten, und er zweifelte an dem Ernst ihrer Absichten. Die Menschen waren ihr unentbehrlich, und wenn sie schwieg, mußten wenigstens andre um sie reden; wenn sie ruhig lag, mußte Bewegung um sie sein.

Als sie vor ihm stand, durchdrang ihn der Wohlgeruch ihres Körpers wie ein Schrecken. Er blickte verwirrt vor sich nieder.[278] Unter der Heftigkeit einer aufrauschenden Blutwelle verlor sein Pulsschlag den Rhythmus.

Er hatte ihr Gesicht vergessen, ebenso wie die erstaunliche Wahrheit ihrer Gebärde, ihr unmittelbares Wort, ihre Hingerissenheit und ihr Hingerissensein, ihre ganze machtvolle, zarte, blühende, blendende Gegenwart. Alles war ihr zu Willen, die Elemente sogar. Wenn sie auf die Straße trat, strahlte die Sonne reiner, war die Luft linder. Sie verwandelte das gehetzte Treiben um sich in einen gehorsam flutenden Strom.

Susanne sagte zu Christian: »Wir sollen hier tanzen; man macht uns Anträge; aber die Preußen gefallen uns nicht. Es sind engherzige Leute. Sie sparen ihr sauer verdientes Geld für Kanonen und Kasernen. Ich habe noch kein wirkliches Gesicht gesehen. Ein Mann sieht aus wie der andre, eine Frau wie die andre. Wahrscheinlich werden sie von Maschinen erzeugt, fünftausend im Tag, gleich ausgewachsen und fertig angezogen wie Jasons Geharnischte.«

»Eva selbst ist eine Deutsche,« wies Christian die Hämische zurecht.

»Bah, wenn der Genius aus dem Himmel verstoßen wird, stürzt er blind auf die Erde und kann sich sein Asyl nicht wählen. Wo ist Herr von Crammon?« unterbrach sie sich, »warum besucht er uns nicht? Und wen haben Sie statt seiner mitgebracht?« Sie deutete mit dem Kinn auf Amadeus Voß, der steif und befangen in einer Ecke stand; die großen Brillengläser machten ihn einem Uhu ähnlich. »Wer ist dieser?«

Wer ist dieser? fragten auch Wiguniewskis und des Marques Tavera verwunderte Miene. Amadeus Voß war bis zu einem peinigenden Grad Neuling. Der stiere Ausdruck seiner Züge hatte bisweilen etwas so Albernes, daß Christian sich seiner schämte und die andern über ihn lachten.

Voß trieb sich in den Straßen herum, zwängte sich durch Menschengewühl, stand vor Auslagen und den Spiegelglasscheiben[279] der Kaffeehäuser, kaufte Zeitungen und Flugblätter, redete fremde Leute an, aber er vermochte nichts in sich zu beschwichtigen. Er sah nur immer das Gesicht der Tänzerin vor sich; aufreizend und geziert; die Bewegung, mit der sie eine Frucht zerschnitt, einen der Freunde begrüßte, zu einem sich beugte, mit der sie sich auf einen Stuhl niederließ oder von ihm erhob, mit der sie an einer Blume roch, alle Bewegungen der Lider, der Lippen, des Halses, der Schultern, der Hüften, der Beine. Er fand sie aufreizend und geziert, aber sie waren seinem Gehirn eingeätzt wie einer photographischen Platte.

Eines Abends betrat er Christians Zimmer, sandfahl.

»Wer ist eigentlich Eva Sorel?« fing er mit Ingrimm und Verbissenheit an. »Woher kommt sie? Wem gehört sie? Was sollen wir bei ihr? Erzählen Sie mir etwas über sie. Klären Sie mich auf.« Er warf sich in einen Sessel und starrte Christian an.

Da Christian schwieg, nicht gefaßt auf diese Sturzflut von Fragen, fuhr er fort: »Sie haben mich in eine neue Haut gesteckt, aber der alte Mensch krümmt sich darin. Ist es ein Maskenball, auf dem ich mich befinde? So sagen Sie mir wenigstens, was die Figuren vorstellen. Ich bin auch maskiert, aber schlecht, scheint es. Ich hoffe von Ihnen, daß Sie die Fehler an meiner Maskerade ausbessern.«

»Sie sind nicht schlechter maskiert als ich und als die übrigen, Amadeus,« antwortete Christian mit besänftigendem Lächeln.

Voß stützte den Kopf auf die Arme. »Also eine Tänzerin ist sie, eine Tänzerin,« murmelte er gedankenvoll. »Für mein Gefühl hatte das Wort und der Begriff von jeher etwas Unzüchtiges. Wie ist es möglich, damit andre Vorstellungen zu verbinden als solche, die einem die Schamröte in die Wangen treiben?« Er schaute jäh empor und fragte mit stechendem Blick: »Ist sie Ihre Geliebte?«

Christian erbleichte. »Was Sie aus dem Gleichgewicht bringt, Amadeus,« sagte er, »glaub ich zu verstehen. Aber da[280] Sie nun einmal mit mir gegangen sind, müssen Sie auch bei mir aushalten. Ich weiß nicht, wie lange wir mit all diesen Leuten beisammen sein werden, auch wozu wir hier sind, kann ich Ihnen so genau nicht sagen. Über Eva Sorel fragen Sie mich nicht. Kein Wort von ihr, im Lob nicht und im Tadel nicht.«

Voß verstummte.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 278-281.
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