8

[263] An dem Tag, an welchem Eva zum letztenmal in Petersburg auftrat, flog durch die Entzündung einer Mine der Hauptpavillon der landwirtschaftlichen Ausstellung in die Luft.

Der Anschlag hatte der Person des Großfürsten gegolten. Sein Besuch war erwartet, die Reihenfolge in der Besichtigung der Gebäude vorher festgesetzt worden. Sein Automobil erlitt jedoch eine Panne, und durch diesen Zufall war er mit seinem Hofstaat einige Minuten nach der peinlich fixierten Zeit eingetroffen.

In dem Augenblick, als er seinen Fuß auf die Treppe des Pavillons setzte, ertönte fürchterliches Krachen. Der Himmel verschwand unter Qualm und aufschießenden Trümmern. Einige Industrielle und hohe Beamte, die dem Großfürsten beflissen vorausgeeilt waren, sowie zehn oder zwölf Arbeiter fanden den Tod. Im Umkreis von einem Kilometer wurden durch den Luftdruck an allen Häusern die Fensterscheiben zerschmettert.

Der Großfürst stand eine Weile regungslos. Ohne Neugier und ohne Schrecken, mit unsäglich düsterer Miene aber betrachtete er die Verwüstung. Als er sich zum Gehen wandte, wichen die herzugeströmten Menschenmassen lautlos zurück; es bildete sich eine Gasse lautlosen Volks, die er mit den Säerschritten seiner abnorm langen Beine finster und säbelklirrend durchmaß.[263]

Als Abschiedsvorstellung hatte Eva die Rolle des gefesselten und dann befreiten Echos in dem Ballett Pans Erwachen gewählt. Sie hatte damit stets Begeisterung hervorgerufen, aber einen Triumph wie dieses Mal hatte sie nie gefeiert.

Es war ein Tanz der Freiheit und der Erlösung, der unmittelbar auf die Nerven des dichtgefüllten Hauses wirkte und Spannungen milderte, die vom Tag her kamen. Der bacchantische Trotz, die feurige Angst der Verfolgten, die Umkehr, der heroische Entschluß, der Schmerz über das erste Unterliegen, das Spiel mit der Rachefackel, der Jubel über die aufdämmernde Morgenröte, dies alles hatte aktuelle Beredsamkeit.

Zweitausendfünfhundert Menschen saßen nach dem Fallen des Vorhangs versteinert. Da richteten sich zahllose Augenpaare nach der Loge des Großfürsten. Sie blickten hin und sahen in seine trägen Augen, die niemals blickten. Sie erfaßten seine Schmächtigkeit und die unproportionierte Länge seines Körpers, seinen sehnigen Vogelhals über dem Uniformkragen, seinen dürren Bart, die höckerige Stirn, an der nichts Hautähnliches war, die Atmosphäre, die sich vor ihm herwälzte und die er hinter sich ließ, ein in Millionen Atome zerstäubter Tod; und mittendrin die trägen Augen.

Dann brach der Beifall los. Vornehme Damen wanden sich in Konvulsionen; Greise mit zahnlosen Mündern schrien wie Knaben; blasierte Theatergänger stiegen auf die Sitze und winkten aufgeregt. Als Eva vor die Rampe trat, verstummte der Lärm, und zehn Sekunden lang war es so still, daß man nur das Röcheln aus Brustkästen und das Knistern von Kleidern vernahm.

Sie schaute in das blendende Meer von Gesichtern. Die Falten ihres weißen griechischen Gewands erinnerten an Marmor. Von neuem begann der Sturm, die Zurufe, das Tücherschwenken. An die Brüstung der Galerie drängte sich ein Mädchen, streckte die Arme aus und rief mit einer schluchzenden[264] Stimme, die alles übertönte: »Du hast uns begriffen, Seelchen!«

Eva verstand die russischen Worte nicht, aber es war nicht nötig, die Worte zu verstehen. Sie schaute hinauf und empfing den Sinn.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 263-265.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman