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[265] Um Mitternacht erschien sie, einer Zusage getreu, im Palast des Fürsten Fjodor Szilaghin.

Respektvolles Murmeln und Verstummen entstand, als man ihrer ansichtig wurde. Träger erlauchter Namen, die schönsten Frauen des Hofes und der Gesellschaft, hohe Offiziere und die fremden Gesandten waren versammelt. Einige Herren hatten sich bereits um sie geschart, da trat Fjodor Szilaghin auf sie zu, führte ihre Hand ehrerbietig an die Lippen und löste sie geschmeidig plaudernd aus der Gruppe.

Sie ging durch mehrere Säle an seiner Seite; er war darauf bedacht, sie an sich zu fesseln, und es gelang ihm, ihre Aufmerksamkeit zu erregen.

Kein Hauch von Banalität war an ihm. Bewegungen und Worte waren mit äußerster Kaltblütigkeit und Feinheit auf den Effekt berechnet. Die Augen waren beim Sprechen schmachtend niedergeschlagen, und die allen Russen eigne Leichtigkeit und Fülle der Rede hatte bei ihm außerdem etwas unablässig Schillerndes. Ein anmaßendes und fast zynisches Bewußtsein davon, daß er schön, geistreich, apart, umworben, mysteriös war, verließ ihn nie. Seine Brauen waren gefärbt, seine Lippen geschminkt. Das stumpfe Schwarz des üppig-glatten Haares hob die durchleuchtete Blässe des bartlosen Gesichtes faszinierend.

»Ich muß es rühmen, Madame,« sagte er mit einer Stimme von unergründlicher Falschheit, »ich muß es rühmen, daß Ihre Kunst für uns Slawen nicht das westlich Überzüchtete[265] hat wie bei den meisten Sternen des Auslands. Sie gibt sich wie die Natur selbst. Es müßte belehrend sein, den Weg zu kennen, auf dem Sie, von einer andern Seite her, zu den nämlichen Gesetzen und Formen gelangt sind, auf denen sowohl unsre nationalen Tänze als auch unsre modernen orchestrischen Bestrebungen beruhen. Von diesen wissen Sie doch zweifellos?«

»Ich weiß davon,« antwortete Eva, »und was ich gesehen habe, ist ungewöhnlich; es hat Kraft, Charakter und Schwärmerei.«

»Schwärmerei, gewiß, und vielleicht noch etwas mehr: Raserei,« sagte der junge Fürst mit beziehungsvollem Lächeln. »Ohne Raserei wird nichts Großes in der Welt geschaffen. Glauben Sie nicht, daß sogar Christus ein Rasender war? Was mich betrifft, ich kann mich mit der allgemein angenommenen Figur des sanften und harmonisch ausgeglichenen Christus nicht befreunden.«

»Es ist ein neuer Gesichtspunkt, man müßte darüber nachdenken,« versetzte Eva freundlich gelassen.

»Wie es auch sei, bei uns ist alles noch im Werden, der Tanz und die Religion,« fuhr Fjodor Szilaghin fort. »Diese beiden in einem Atem zu nennen, enthält für mich keine Blasphemie; sie haben etwas Verwandtes, wie eine rote Rose und eine weiße Rose. Verzeihen Sie den vorwitzigen Exkurs. Wenn ich sage, wir sind Werdende, so heißt das, daß wir im Guten und im Bösen ohne Grenzen sind. Ein Russe kann den grausamsten Mord begehen und gleich hernach Tränen vergießen beim Anhören eines schwermütigen Gesangs. Er ist jeder Wildheit, Zügellosigkeit und Schändlichkeit fähig, aber auch der Hochherzigkeit und Selbstverleugnung, und kein Wandel kann schneller und schrecklicher sein als der vom Haß zur Liebe bei ihm, von Liebe zum Haß, vom Glück zur Verzweiflung, von der Treue zum Verrat, von der Furcht zur Tollkühnheit. Man vertraue ihm und gebe sich ihm hin; man wird[266] in ihm das gefügigste, großmütigste und zärtlichste Wesen finden. Man enttäusche und mißhandle ihn, – er stürzt in Finsternis und verliert sich in Finsternis. Er kann geben, geben, geben, ohne Ende, ohne Besinnung, bis zur Entäußerung, bis zur Phrenesie, und erst wenn er in die unterste Tiefe der Hoffnungslosigkeit geschleudert ist, erwacht die Bestie, und er zertrümmert alles um sich her.« Der Fürst blieb stehen. »Ist es indiskret, zu fragen, wo Sie den Mai verbringen werden, Madame? Man sagte mir, Sie wollten an die See,« unterbrach er sich in verändertem Ton und blickte Eva erwartungsvoll an.

Diese war von der Frage betroffen wie von einem Überfall.

Sie hatten die für die Gäste bestimmten Räume unversehens verlassen und befanden sich in den ausgedehnten Glashäusern des Wintergartens. Nach allen Seiten führten labyrinthische, von Pflanzen überwucherte Wege. Ein dämmeriges Licht herrschte, und da, wo sie standen, in einer etwas theatralischen Einsamkeit, hauchten Tausende von gespenstisch gefleckten Orchideenblüten ihren beklemmenden Duft aus.

Eva hatte Sinn und Hinweis der Worte Szilaghins erfaßt, so geschickt und deutbar sie auch gewählt waren. Das Eidechsenschlüpfrige seines Geistes lockte sie, sich mit ihm zu messen, trotzdem es sie drohend anrührte. Spiel mit Spiel vergeltend, hüllte sie sich in ein Lächeln, das undurchdringlich war wie Szilaghins Stirn und großpupillige Augen und antwortete: »Ja, ich gehe nach Heyst am Meer. Ich will ruhen. Das Leben in diesem Land der verkappten Rasenden hat mich müde gemacht. Was ich leider entbehren mußte, Fürst, war ein Mentor und Seelenkundiger wie Sie.«

Plötzlich ließ sich Szilaghin auf ein Knie nieder und sagte leise: »Mein Herr und Freund bittet durch mich um die Gnade, dort, wohin Sie gehen, in Ihrer Nähe sein zu dürfen. Er besteht auf keiner Zeit, er fügt sich Ihrem Geheiß. Ich kenne nicht den Grad und die Ursache Ihres Schwankens,[267] schöne Eva, aber welches Unterpfand fordern Sie denn, welche Bürgschaft für die Aufrichtigkeit eines Gefühls, das keine Probe zu scheuen hat und kein Opfer scheuen will?«

»Stehen Sie auf, Fürst,« befahl Eva, indem sie einen Schritt zurücktrat und die Arme zart, in widerwilliger Vertraulichkeit gegen ihn ausstreckte; »Sie sind zu verschwenderisch mit sich selbst in diesem Augenblick. Stehen Sie auf.«

»Nicht, ehe Sie mich ermächtigen, der Überbringer guter Botschaft zu sein. Ihr Entschluß wiegt schwer. Wolken sammeln sich und warten auf den Wind, der sie vertreibt. Prozessionen ziehen aus, um das Verhängnis abzuwenden durch Gebete. Ich bin nur ein Einzelner, zufällig Beauftragter. Darf ich jetzt aufstehen?«

Eva schloß die ausgebreiteten Arme über der Brust und wich bis in ein grünes Lianengehänge zurück. Nun spürte sie des Schicksals gewaltigen und unverstellten Ernst. »Stehen Sie auf,« sagte sie mit gesenktem Kopf, und zweimal wechselten Glut und Blässe auf ihren Wangen.

Szilaghin erhob sich, lächelte schnellatmend und führte abermals ihre Hand, in schweigender Ehrfurcht, an seine Lippen. Dann geleitete er sie, wie vorher geschmeidig plaudernd, zu den übrigen Gästen zurück.

Zwölf Stunden später war es, als Christian das Telegramm erhielt, das ihn nach Berlin rief.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 265-268.
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