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[409] Johanna erzählte Eva, der vergötterten Freundin, von ihrem Leben. Für Eva war es unerwarteter Ausblick in die graue Niederung der Bourgeoisie. Abstoßend klang der Bericht, doch war es Reiz, der Verschmachtenden, der Fliehenden Asyl zu gewähren.

Auch sie selbst erschien sich bisweilen wie eine Fliehende. Aber sie hatte ihre Bollwerke. Die Zeit wehte sie kalt an, und wenn ihr vor den geschäftigen Marionetten graute, deren Drähte sie zog, fühlte sie sich härter werden. Sie betrachtete es wie eine Ruhepause im Rasen ihres Schicksals, als sie dem ergebenen Mädchen Freundschaft schenkte.

Sie duzten einander. Susanne Rappard murrte. Sie machte die Augen auf, und Eifersucht entwickelte Gaben einer Spionin. Sie begann zu merken, was zwischen Christian und Johanna im Werke war.

Bei der Mittagstafel hatte es lustiges Gelächter gegegeben. Johanna hatte eine Anzahl wollener Zipfelmützen gekauft, hatte sie sorgfältig in weißes Papier gepackt, hatte witzige Verschen darauf geschrieben und jedem von Evas Trabanten ein solches Päckchen zum Besteck gelegt. Niemand war der Urheberin gram. Bei aller Spottsucht und Querköpfigkeit war ihr etwas Liebliches eigen, das rasch versöhnte.

»Wie übermütig du heute bist, Rumpelstilzchen,« sagte Eva. Auch sie bediente sich des Necknamens. Das Wort, nicht ganz leicht bezwungen, klang entzückend aus ihrem Mund.

»Übermut kommt vor den Tränen,« antwortete Johanna, sich abergläubischer Befürchtung so ungehemmt überlassend wie bisher dem Scherz.

Ein reicher Schiffsreeder hatte Eva eingeladen, seine Gemäldesammlung zu besichtigen. Er wohnte vor der Stadt. Sie fuhr im Auto mit Johanna hin.

Arm in Arm standen sie vor den Bildern. Da war etwas[410] Geläutertes um beide. Johanna liebte dies ebensosehr, wie wenn sie Gedichte miteinander lasen, Wange an Wange fast. In entselbsteter Anbetung ausgelöscht, vergaß sie, was hinter ihr lag, das ängstliche, klebende, streberische Dasein der Börsianerfamilie; was vor ihr lag, Druck und Zwang, gewiesener, unfroher Weg.

Jede Bewegung offenbarte Schmelz des Gefühls und Zärtlichkeit.

Auf der Rückfahrt war sie blaß. »Dir ist kalt,« sagte Eva und umhüllte sie mit einem Schal.

Johanna ergriff dankbar Evas Hand. »So ists gut, so sollte es immer sein. Ich brauche jemand, der mirs sagt, wenn mir warm oder kalt ist.«

Dieser melancholische Witz berührte Eva tief. »Was duckst du dich so?« rief sie, »warum verkriechst du dich? warum wendest du die Augen von dir und wagst nicht, dich zu freuen?«

Johanna antwortete: »Weißt du nicht, daß ich eine Jüdin bin?«

»Nun?« gab Eva verwundert zurück; »außerordentliche Menschen, die ich kenne, sind Juden. Die stolzesten, feurigsten, weisesten.«

Johanna schüttelte den Kopf. Sie sagte: »Im Mittelalter mußten die Juden gelbe Flecke auf den Kleidern tragen. Ich trage den gelben Fleck in der Seele.«

Eva kleidete sich für die Teestunde um, und Susanne Rappard half ihr. »Was gibt es Neues bei uns, Susanne?« fragte Eva und löste die Spangen aus ihrem Haar.

Susanne Rappard antwortete: »Das Gute ist nicht neu, das Neue nicht gut. Dein häßliches Hofnärrchen hat ein Liebesverständnis mit Monsieur Wahnschaffe. Sie treiben es ziemlich geheim, aber man tuschelt bereits. Ich begreife nur ihn nicht. Er ist schnell genügsam geworden. Ich habs ja immer gesagt, es fehlt ihm an Geist, es fehlt ihm an Herz; nun sieht man, daß ihm auch die Augen fehlen.«[411]

Eva war dunkel errötet. Jetzt wurde sie bleich. »Das ist Lüge,« sagte sie.

Trocken versetzte Susanne: »Es ist die Wahrheit. Frag sie selbst. Ich glaube nicht, daß sie leugnen wird.«

Kurz darauf schlüpfte Johanna ins Zimmer. Sie trug ein einfaches, schwarzes Samtkleid, das ihre Gestalt reizend machte. Eva saß noch vor dem Spiegel. Susanne frisierte sie; sie hatte ein Buch in der Hand, las darin und schaute nicht empor.

Auf einem Sessel neben dem Toilettentisch lag eine geöffnete Schmuckkassette. Johanna stand davor, blickte lächelnd hinein und entnahm ihr zaghaft eine schön geschnittene Kamee, die sie sich spielend an die Brust steckte; dann ein Edelsteindiadem, das sie entzückt betrachtete und auf ihrem Haar befestigte; dann ein paar Ringe, die sie einen um den andern über ihre Finger schob; dann ein goldenes, mit Perlen besetztes Armband, das sie auf dem Ärmel anbrachte. So geschmückt, trat sie, halb mutlos, halb selbstverspottend lächelnd, vor Eva hin.

Eva kehrte langsam die Augen vom Buch ab, sah Johanna an und fragte: »Ist es wahr?« Und nach einigen Sekunden leiser, mit größer aufgeschlagenen Augen noch einmal: »Ist es wahr?«

Johanna stutzte, verlor die Farbe aus den Wangen, ahnte, wußte, begann zu zittern.

Da erhob sich Eva, ging dicht zu ihr hin, löste die Agraffe von des Mädchens Brust, das Diadem aus dem Haar, zog die Ringe von den Fingern, das Armband vom Arm und legte alles in die Kassette zurück. Danach setzte sie sich wieder hin, nahm das Buch wieder zur Hand und sagte: »Mach fertig, Susanne, ich will noch ein wenig ruhen.«

Johanna stockte der Atem. Sie sah aus wie eine Geschlagene. Eine zarte Blüte des Herzens war für immer geknickt; ihr Hinwelken hauchte Miasmen aus. Fast ohnmächtig verließ sie das Zimmer.[412]

Wie zur Besiegelung eines beendeten Lebensabschnittes und Drohung schwereren Unheils empfing sie zwei Stunden später eine Depesche ihrer Mutter, die sie in dringlichster Form, mit dem Hinweis auf eine geschehene Katastrophe, nach Hause rief. Fräulein Grabmeier packte sogleich die Koffer. Der Zug ging um fünf Uhr morgens.

Von Mitternacht an saß Johanna in Christians Zimmer und wartete auf ihn. Sie hatte das Licht nicht angezündet und saß in der Dunkelheit am Tisch, den Kopf auf die Hand gestützt, regungslos und mit starrem Blick.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 409-413.
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