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[138] Als Frau Richberta Wahnschaffe, während einer ihrer seltenen Ausfahrten, eines Tages im Elektromobil gegen Schwanheim fuhr, bemerkte sie am Eingang zum Poloplatz eine Gruppe von jungen Leuten; unter diesen war einer, der sie so lebhaft an Christian erinnerte, ein Schlanker, edel sich Bewegender, ihr ein so täuschendes Gefühl von Christians Nähe gab, daß sie dem Lenker zu halten gebot und mit matter Stimme ihre Begleitdame ersuchte, sie möchte hinübergehen und sich erkundigen, wer der junge Mensch sei.

Die Dame gehorchte; Frau Richberta, den: Gruppe zugewandt,[138] harrte regungslos. Man erteilte der Botin bereitwillig Auskunft; sie kam zurück und meldete: »Der Herr ist ein Engländer, Frau Geheimrat; er heißt Anthony Potter.«

»So; ach so,« sagte Frau Wahnschaffe; weiter nichts. Und ihr Interesse war geschwunden.

Am gleichen Abend wurde ihr ein Brief überreicht, der mit der Eilpost angelangt war. Sie erkannte Christians Handschrift. Vor ihren Augen tanzte alles durcheinander. Das erste, was sie lesen konnte, war der Name eines kleinen Frankfurter Hotels vom dritten Rang. Nach und nach festigte sich ihr Blick, und sie las: »Liebe Mutter, ich bitte dich, mir morgen im Lauf des Vormittags eine Unterredung zu gewähren. Heute ist es zu spät, als daß ich noch kommen könnte; ich bin den ganzen Tag gereist und daher zu müde. Wenn ich nichts weiter höre, bin ich um zehn Uhr draußen. Daß wir allein sein werden, hoffe ich zuversichtlich.«

Der einzige Gedanke der Frau war: Endlich. Sie sagte es laut vor sich hin: »Endlich«.

Sie schaute auf die Uhr: es war zehn. Noch zwölf Stunden! Wie sollte sie diese zwölf Stunden hinbringen? Das ganze vergangene Leben schien ihr kürzer zu sein als diese vor ihr liegenden zwölf Stunden.

Sie ging hinunter; ging durch die leeren Säle, in denen es dunkel war, durch die Marmorhalle mit den Wandsäulen, den riesigen Speisesaal mit den Spiegeln, in denen der Rest des Sommerabends verglomm; sie ging in den Park und hörte eine Nachtigall schlagen. Sterne blitzten auf, ein Brunnen rauschte, von weither tönte Musik. Zurückgekehrt, fand sie, daß erst fünfzig Minuten verflossen waren. Ein Ausdruck von Wut entstellte ihr kaltes und starres Gesicht. Sie erwog, ob sie nicht in die Stadt fahren solle, in das kleine Hotel dritten Ranges; sie verwarf den Plan wieder: er schlief ja, er war von der Reise ermüdet. Aber warum ist er dort? fragte sie sich, in dem geringen Hause, unter fremden und geringen Leuten?[139]

Sie setzte sich in einen Lehnstuhl, und was nun in ihr vorging, war ein erbitterter Zweikampf mit der trägen Zeit, von jetzt bis Mitternacht, von Mitternacht bis zum ersten Grauen des Tages, vom ersten Grauen bis zum Frührot, vom Frührot zum erwachten Morgen, vom Morgen bis zur zehnten Stunde.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 138-140.
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