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[140] Wo Johanna Schöntag den Fuß hinsetzte, wurde ihr Liebe entgegengebracht. Auch die Verwandten, bei denen sie wohnte, behandelten sie mit zärtlicher Achtung. Sie gewann dadurch nicht in ihren eignen Augen, sie verlor. Ihre rabulistische Erwägung war: wenn ich diesen gefalle, was kann dann viel an mir sein?

Sie sagte: »Es gibt nichts Witzigeres als die Tatsache, daß ich in dieser Stadt lebe, in der alle Menschen so mutig, ›Ich‹ sagen. Ich bin ja das direkte Gegenteil von Ich.«

Nichts war wert, getan zu werden, nicht einmal, was im Innersten täglich drängte: den Weg zu Christian zu suchen. Sie wartete auf den Zwang; der wollte nicht kommen. Sie verspielte sich. Da saß sie still in einer Ecke und ließ ihre klugen Augen über Gegenstände und Gesichter schweifen; und sie dachte: hätte der mit dem Vollbart die Nase von dem mit der Glatze, so sähe er vielleicht wie ein Mensch aus. Oder: warum sind sechs Rosetten an der Leiste über dem Türstock, warum nicht fünf, warum nicht sieben? Damit quälte sie sich; die falsch plazierte Nase und die Rosettenzahl wurden Weltverbesserungsprobleme; auf einmal lachte sie dann und errötete, wenn sich Blicke auf sie richteten.

Jede Nacht, bevor sie entschlummerte, fiel ihr Amadeus Voß ein und daß sie versprochen hatte, ihm zu schreiben. Morgen, dachte sie und ergriff die Flucht in den Schlaf. Sein Brief lastete in ihrem Gedächtnis als das Peinvollste, was ihr je[140] geschehen. Bisweilen tauchten Worte daraus auf, die sie unruhig machten: z.B. das von der Sehnsucht des Schattens nach seinem Körper, für sie ein rätselhaftes und lockendes Wort. Alle Stimmen von außen warnten. Die Warnung erhöhte den Reiz. Man genoß die Furcht, indem man sie wachsen ließ. Eine lebhafte Verwirrung im ganzen, Ding im Spiegel von Spiegeln her. Endlich schrieb sie doch; der Pfeil schnellte von der Sehne.

Sie trafen sich am Kurfürstenplatz und gingen durch die Kastanienallee gegen Charlottenburg. Um die Zeit zu begrenzen, sagte Johanna, sie müsse in einer Stunde wieder zu Hause sein. Aber der Weg, den sie nahmen, raubte ihr die Hoffnung auf ein knapp befristetes Zusammensein; sie ergab sich. Um ihre Beklommenheit zu verhehlen, glossierte sie Bäume, Häuser, Denkmäler, Tiere und Menschen; Voß bewahrte trockenen Ernst. Da wandte sie sich ungeduldig zu ihm: »Nun, Herr Hofmeister, wollen Sie sich nicht ein wenig mit dem artigen kleinen Schüler unterhalten, den Sie spazieren führen?«

Aber Voß hatte kein Verständnis für den bangen Humor in dieser Zurechtweisung. Er sagte: »Sie haben leichtes Spiel mit mir; Sie brauchen bloß zu spotten, und ich komme schon zu Fall. An so viel Schlüpfrigkeit muß ich mich erst gewöhnen. Es ist ein schlechtes Fluidum zwischen uns. Sie sehen mich immer so prüfend an, als hätte ich ein Loch im Ärmel oder einen Schmutzfleck auf dem Kragen. Ich hatte mir vorgenommen, mit Ihnen wie mit einem Kameraden zu reden. Es geht nicht. Sie sind eine junge Dame, und das ist etwas, wofür ich rettungslos verloren bin.«

Johanna antwortete sarkastisch, es beruhige sie immerhin, daß wenigstens ihre Person und Gegenwart ihm Rücksichten auferlegten, deren sie sich vorher nicht von ihm zu erfreuen gehabt. Voß stutzte und erriet, was sie im Sinn hatte, erst aus ihrer verächtlichen Miene. Er senkte den Kopf, schritt eine Weile schweigend, dann sammelte sich Erbitterung in[141] seinem Gesicht. Johanna, geradeaus sehend, spürte die Gefahr; sie hätte sie von sich abwenden können; eine liebenswürdige Phrase, und er hatte sich nicht vorgewagt, das wußte sie. Aber sie verschmähte es, sie wollte ihm trotzen und sagte frech, sie sei durchaus nicht gekränkt darüber, daß sie ihn enttäusche, sie hätte in der Beziehung keine Ambition. Voß nahm auch dieses hin, duckte sich noch tiefer zum Angriff; da fragte Johanna in harmlosem Ton, ob er noch Christian Wahnschaffes Wohnung innehabe und, auch jetzt noch, Verwalter aller Briefangelegenheiten seines Freundes sei?

Nein, erwiderte Voß auffallend sachlich, er sei von dort ausgezogen, seine Mittel erlaubten ihm derartigen Aufwand nicht mehr; da ihm das mokante Lippenverziehen Johannas bewies, daß ihr die Verhältnisse nicht unbekannt waren, fügte er gelassen hinzu, er wolle lieber sagen, die Wahnschaffesche Geldquelle sei versiegt. Er hause in einer Studentenbude in der Ansbacher Straße und habe sich somit wieder in der Armut eingerichtet. So arm freilich finde er sich noch nicht, daß er sich das Vergnügen verweigern müsse, einen Gast zu empfangen. Ob er sie einladen dürfe, den Tee bei ihm zu nehmen. Weshalb sie darüber lache? Natürlich, er habe vergessen: junge Dame. Ob er sie dann wenigstens in einer Konditorei bewirten dürfe?

Alles das erregte Johannas Spott und Ungeduld.

Es war Sonntag, trübes Wetter; der Abend dunkelte bereits. Aus den Pavillons in Wirtsgärten rauschte Musik. Viele Soldaten begegneten ihnen, jeder mit seinem Mädchen. Johanna spannte den Schirm auf und ging müde. »Es regnet ja nicht,« sagte Voß. Sie antwortete: »Ich tu es bloß, damit ich nicht an den Regen zu denken brauche.« Der eigentliche Grund war, daß sie ihn vermittels des aufgespannten Schirmes ein bißchen weiter von sich weghalten konnte. »Wann treffen Sie Christian?« fragte sie plötzlich mit hoher Stimme, nach rechts hinüber, wo niemand war, »sehen Sie ihn oft?« Gleich[142] bereute sie die Frage, mit der sie sich in den Augen des Lauernden eine Blöße gegeben zu haben glaubte.

Aber Voß hatte gar nicht gehört. »Sie tragen mir noch immer die Geschichte mit dem Brief nach,« fing er an; »können es nicht verzeihen, daß ich mich in Ihr Geheimnis eingeschlichen habe. Was ich Ihnen zum Ausgleich gegeben, das ahnen Sie nicht. Daß ich mein Innerstes vor Ihnen aufgerissen habe, daran verschwenden Sie keinen Gedanken. Es ist Ihnen wohl kaum klar geworden, daß alles, was ich Ihnen über Christian Wahnschaffe schrieb, Konfessionen über mich waren, wie sie selten ein Mensch dem andern macht. Auf Umwegen allerdings, aber was wissen Sie vom Umweg. Ich habe wahrscheinlich Ihre Fassungskraft und Ihren guten Willen überschätzt.«

»Wahrscheinlich,« gab Johanna zurück; »aber auch meine Gutmütigkeit; denn Sie sind wieder einmal hervorragend grob. Sie hätten ja recht mit dem, was Sie sagen, wenn Sie nicht eines außer acht ließen, nämlich, daß eine Basis von Sympathie da sein muß, wenn solche Forderungen erfüllt werden sollen.«

»Sympathie!« höhnte Voß; »damit locken Sie keinen Hund vom Ofen. Was Sie so heißen, ist bürgerliches Spülwasser. Lau, flau, grau. Zur echten wieder gehört so viel Aufmerksamkeit des Herzens, daß der, der sie empfindet, ihren Namen verschweigt, weil er zu gemein geworden ist. Ich habe ja nicht auf Sympathie gerechnet. Eine solche Distanz wie die von mir zu Ihnen läßt sich nicht durch ein Allerweltsbindemittel beseitigen. Ihre Kälte, Ihre Fremdheit, Ihre Ironie, glauben Sie, ich hätte nichts davon gewittert? Glauben Sie, ich bin der Dickhäuter, der unbekümmert in eine Rosenhecke hineinsteigt, weil er im voraus weiß, daß ihm die Stacheln nichts anhaben können? O nein, Fräulein. Jeder einzelne Dorn ritzt meine Haut. Ich sage Ihnen das nur, damit Sie künftig wissen, was Sie tun. Jeder einzelne Dorn ritzt schmerzhaft[143] die Haut. Es war mir von Anfang an klar, und ich habe es doch auf mich genommen. Ich habe mich eingesetzt mit allem, so wie ich hier bin und stehe, habe mich zusammengerafft von oben bis unten und mich hingeworfen vor Sie, ohne zu überlegen, was daraus entstehen würde. Ich wollte mich einmal dem Fatum ganz und gar in die Hände geben.«

»Ich muß umkehren,« sagte Johanna und klappte ihren Schirm zu, »ich muß einen Wagen nehmen. Wo sind wir denn?«

»Ansbacher Straße, Ecke Augsburger Straße. Im dritten Hause dort, dritten Stock, wohne ich. Kommen Sie für eine Stunde zu mir. Lassen Sie es ein Zeichen sein, daß ich ein gleichgestellter Mensch in Ihren Augen bin. Sie können sich nicht vorstellen, was für mich davon abhängt. Es ist ein greulich ödes Loch, aber wenn Sie die Schwelle überschreiten, wird es für mich fortan ein Raum sein, in dem man atmen kann. Zu betteln ist meine Art sonst nicht; diesmal bettle ich. Der Argwohn, den Sie hegen, ist begründet: ja, ich habe es planmäßig betrieben, Sie so weit zu bringen; es war meine geheime Absicht, aber nicht erst seit heute, sondern seit Wochen, ich weiß gar nicht mehr, seit wie lange. Jedes andere Mißtrauen weise ich zurück.«

Er stammelte die Worte und zerhackte sie. Johanna sah hilflos zu Boden. Sie war zu schwach, der leidenschaftlichen Beredsamkeit des Menschen zu widerstehen, so abstoßend und beängstigend diese auch auf sie wirkte. Zudem lag eine gruselige Verlockung darin, sich vorzuwagen, ins Feuer zu langen, den Brand zu schüren, sich in Gefahr zu stürzen und zuzusehen, was geschah. Das Leben war so leer; man mußte etwas zu naschen, etwas zu erwarten, etwas zu fürchten haben. Näher an die Abgründe heran, die bittern Dünste schmecken, nur über die letzten Schranken nicht hinaus. Einstweilen Zeit zu gewinnen, war geboten. »Nicht heute,« sagte sie mit verschleiertem Ausdruck, »ein andermal. Nächste Woche. Nein, drängen[144] Sie mich nicht. Vielleicht Ende dieser Woche. Vielleicht Freitag. Wozu es soll, ist mir zwar unklar, aber es mag sein, Freitag will ich kommen.«

»Abgemacht also; Freitag um die gleiche Stunde.« Er forderte ihre Hand; sie reichte sie zaghaft, fühlte sie voll Widerwillen umschlossen. Ihr Blick aber war fest, beinahe herausfordernd.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 140-145.
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