Erste Szene

[53] SOPHIE. Nun, lieber Franz, was hast du für heute nachmittag vor?

FRANZISKA. Um vier Uhr erwarte ich einen Versicherungsagenten. Ich bin etwas heiser und wenn ich das Gastspiel in London nicht absolviere, verfalle ich in eine Konventionalstrafe von zwanzigtausend Mark. Ich schrieb deshalb an einen Versicherungsagenten. Ich will mich in eine Haftpflichtversicherung einkaufen.

SOPHIE. Vor unserer Verheiratung kanntest du solche Sorgen nicht.[53]

FRANZISKA. Dafür ging es mir ja manchmal auch schlecht genug. Im äußersten Notfalle konnte ich immer auf den alten Hohenkemnath rechnen. Aber für solche Summen, wie sie jetzt auf dem Spiel stehen, käme seine rührende Opferfreudigkeit natürlich kaum mehr in Frage.

SOPHIE. Als Mädchen ließ ich es mir nicht träumen, wieviel Geld der einfachste Haushalt verschlingt!

FRANZISKA. Eigentlich tut dein Vater ganz recht daran, daß er von deiner Verheiratung mit einem Kehlkopfakrobaten nichts wissen will. In dem Augenblick, wo ich heiser werde, ist die ganze Herrlichkeit futsch.

SOPHIE. Und du hattest bei unserer Verheiratung doch sicherlich auch ein wenig darauf gerechnet, eine Millionärstochter zur Frau zu bekommen.

FRANZISKA. Aber Sophie, ich liebe deinen Vater! Außerdem ist er der Eisen- und Kohlenkönig von Magdeburg-Buckau. Einmal kommt uns der Ertrag seiner Arbeit ja doch zugut.

SOPHIE. Ich hätte nie geglaubt, daß man sich auch gegen Konventionalstrafen versichern kann.[54]

FRANZISKA. Versichern kann man sich gegen jedes Unheil.

SOPHIE schüchtern. Auch gegen Untreue?

FRANZISKA. Liebe Sophie! Zwischen Untreue und Untreue ist ein großer Unterschied. Wir Männer tragen unsere Natur nicht zu Markte, wir sind Käufer. Das Bezahlen allein macht uns schon Vergnügen. Für uns ist die Natur ein Genuß, für euch ist sie das Geschäft. Bei uns ist Untreue Luxus, bei euch ist sie Betrug. Der Markt, auf dem wir Männer unsere Person versteigern, ist der Weltmarkt. Je höhere Preise die Welt für uns bezahlt, desto mehr können wir verschwenden, um uns einen möglichst reichen Naturgenuß dafür zu kaufen.

SOPHIE. Lieber Franz! Wenn ich mir einen Hausfreund halte und du findest uns in Zärtlichkeiten beisammen, dann schießt du den Menschen über den Haufen. Ich sehe nicht ein, warum ich mit deiner Geliebten nicht das gleiche tun soll. Die Pistole habe ich bereit.

FRANZISKA. Liebe Sophie! Hättest du mir gesagt, du wolltest dir einen Hausfreund nehmen, dann wären wir nicht verheiratet. Ich wollte dich nur zur Geliebten haben.[55]

SOPHIE. Ich hegte überhaupt keine besonderen Wünsche.

FRANZISKA. Nur mich wolltest du?!

SOPHIE. Jedes junge Mädchen will sich verheiraten.

FRANZISKA. Ich dachte aber im Traum nicht ans Heiraten. Du hast mich aufs höchste überrascht. Mich beschäftigen wichtigere Dinge. Ich frage mich, ob auf meinen Kopf nicht vielleicht eine Krone gehört.

SOPHIE. Für solchen Mumpitz hat ein Mädchen keine Zeit. Wir sind mit dreiundzwanzig verblüht.

FRANZISKA. Ein Schulfreund von mir hatte sich in deiner Art verliebt. Er wollte sich eine Kugel vor den Kopf schießen, wenn ihn irgendein Mädchen nicht nahm. Jetzt sind sie glücklich verheiratet. Ich glaube aber nicht, daß je noch etwas Welterschütterndes aus ihm wird.

SOPHIE. Als wir uns heirateten, rechnete ich allerdings damit, Kinder zu bekommen.

FRANZISKA. Damit willst du wohl andeuten, daß ich dir nicht genüge?[56]

SOPHIE. Aber Franz! Deine Bemerkung ist mir unfaßbar. Innerlich bin ich dir gänzlich fremd. Ich entwürdige doch nur mich selber, wenn ich mich über Mangel an Zärtlichkeit beklage. Du bist doch wirklich nicht schuld, daß ich dich nicht stärker reize.

FRANZISKA. Es wäre ebenso töricht von dir, als wollte ich mich über deine Ansprüche beklagen.

SOPHIE. Du, Franz, der du dir eine Geliebte hältst?!

FRANZISKA. Es wäre einfach eine Entwürdigung meiner geistigen Fähigkeiten. Ich brauchte dich ja nur geistig mehr in Anspruch zu nehmen, damit du dich nicht über Mangel an Zärtlichkeit beklagst.

SOPHIE. Hätten wir ein Kind, dann wäre alles in bester Ordnung.

FRANZISKA. Gewiß, dann hättest du deinen Zeitvertreib, wie ich ihn in meinen Gastspielen habe. Aber bin ich daran schuld, daß es nicht so ist?

SOPHIE. Ich habe mich nicht geschaffen. Kinderlose Ehen gibt es zu Tausenden. Aber die Angst, daß meine Absonderlichkeit uns beide entzweien könnte! Bring'[57] mir ein Kind von einer Geliebten, ich erziehe es als unseres. – Franz, ich tue Abbitte. Laß mich meine Aufrichtigkeit nicht entgelten.

FRANZISKA. Bitte, nur zu!

SOPHIE. Als du vor einem Jahr in Magdeburg im Konzert sangst, da hielt ich dich für einen ganz mittelmäßigen Menschen. Du glaubst nicht, wie dumm ich das heute finde. Aber es schien mir ganz ausgeschlossen, daß sich ein anderes Mädchen in dich verlieben könnte.

FRANZISKA. Die Weiber haben mich nie verwöhnt. Das ist wahr.

SOPHIE. Jetzt tun sie's aber! Ich sah in dir damals meine Seligkeit ganz für mich allein. Aber seitdem bist du mir so himmelhoch über den Kopf gewachsen! Kein Tag vergeht, ohne daß du mir etwas Neues zu denken gibst, an das ich nie gedacht habe. Jetzt weiß ich erst, wie abgrundtief ich unter dir stehe. Nein, unterbrich mich nicht! Das wunderbarste ist nämlich: Ich selber erscheine mir auch jeden Tag bedeutender, wertvoller. Allerdings bin ich mir auch jetzt über meine Engherzigkeiten und Albernheiten völlig klar. Du tatest immer, als merktest du gar nichts davon. Dadurch hieltst du[58] mich so unentrinnbar fest in deiner Gewalt. Aber um keinen Preis der Welt, das kann ich schwören, möchte ich heute auch nur für eine Stunde wieder die herzlose, selbstgefällige Egoistin sein, die ich vor unserer Verheiratung war.

FRANZISKA. Das Weib kann nun einmal über die Grenzen seiner Natur nicht hinaus. Sein Glück bleibt immer auf seine Naturbestimmung beschränkt.

SOPHIE. Franz, ich komme auf den Vorschlag zurück, den ich dir vor acht Tagen machte. Hättest du etwas dagegen, wenn wir ein Kind adoptieren?

FRANZISKA. Nicht das geringste. – Ich muß dir etwas erzählen, Sophie. Als Gymnasiast litt ich infolge der Streitigkeiten meiner Eltern viel an Schlaflosigkeit. Mein Vater sprach ein ganzes Jahr lang kein Wort mit mir. Auf der großen Treppe, die durch die Matte zum Schloß hinaufführte, flehte ich in meiner Einfalt dann eines Abends auf den Knien zum Himmel, er möge dem Streit ein Ende machen. Voll Zuversicht ging ich nach Hause und warf mich meinem Vater zu Füßen. Natürlich hatte es nicht das geringste genützt. Ich erzähle das nur, damit du manchmal Nachsicht mit mir hast. Ich glaube, daß ich von jener Zeit her immer noch etwas mit dem Leben zerfallen bin.[59]

SOPHIE. Ich sehe darin nichts anderes als die ersten Äußerungen deiner herzberückenden Künstlernatur. Deshalb wird es dir jetzt so leicht, jede menschenmögliche Leidenschaft vorzuspiegeln, als wärest du ihr mit Leib und Seele ausgeliefert.

FRANZISKA. Mir ist der Gesichtspunkt neu. – Um ein absolut sicheres, unumstößliches Verständnis für die Welt zu finden, trat ich vor einem Jahr zum Katholizismus über. Seitdem fühle ich mich glücklicher.

SOPHIE. Das ist das einzige, Franz, worin ich dir nicht zustimmen kann. Ich bin protestantisch erzogen. Ich glaube überhaupt nichts, aber ich hasse Spitzfindigkeiten. Es läutet im Flur.

FRANZISKA. Das ist mein Versicherungsagent!

SOPHIE will gehen. Ich lasse dich mit dem Herrn allein.

FRANZISKA. Bleib doch! Du bekommst Einblick in eine staunenerregende Art von Weltbeherrschung.[60]


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 53-61.
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