Zweite Szene

[61] Die Tür wird von außen geöffnet und Lydia Höpfl tritt ein.


LYDIA. Wollen Sie mir sagen, verehrter Meister, in welchem Kostüm ich in London die Aretikoru-Tulorimena tanzen soll?

SOPHIE. Franz, ich gehe!

FRANZISKA vorstellend. Fräulein Lydia Höpfl – meine Frau.

LYDIA zu Sophie. Wie beneide ich Sie darum, diesen Halbgott zum Mann zu haben!

SOPHIE. Wenn ich mein Mann wäre, fände ich an Ihnen sicherlich auch mehr Gefallen, als er an mir findet. Ich verachte die Frau, die ihrem Mann eine Freude mißgönnt. Aber dann will ich auch den Dank, den ich für meine Großmut verdiene. Seelengröße muß Seelengröße bleiben! Bevor ich mir meine eigene Erniedrigung als unerläßliche Pflicht vorschreiben lasse, greife ich zur Waffe und räume die Gefahr, die meinem Glücke droht, aus dem Wege.[61]

FRANZISKA. Aber Sophie, du hast den unvorteilhaften Ausfall gar nicht nötig.

LYDIA. Der Meister unterwies mich bis jetzt nur in den fünf Positionen Sie führt sie aus. erste Position – zweite Position – dritte Position – vierte Position – fünfte Position. Es läutet im Flur.

FRANZISKA. Endlich mein Versicherungsagent! Sie verläßt das Zimmer.

SOPHIE in Lydias Anblick versunken. So also muß man sein!

LYDIA. Ich wäre lieber wie Sie, gnädige Frau.

SOPHIE. Welchen Genuß finden Sie nun darin, einer Frau, die nichts Besseres kennt, ihren Mann wegzuschnappen? Gibt es für Sie nicht unverheiratete Männer genug?

LYDIA. Gnädige Frau dürfen sich vor mir nicht so klein hinstellen.

SOPHIE. Mich vor Ihnen klein hinzustellen, fällt mir gar nicht ein! Sie können tanzen, das kann ich nicht. Aber bringen Sie erst einmal zu irgend etwas all[62] die Liebe auf, die mich für diesen Mann erfüllt und die ich jeden Augenblick zu beweisen bereit bin.

LYDIA. Da hätte ich viel zu tun. Ich werde mich hüten. Mir wär' das viel zu umständlich.

SOPHIE. Das glaube ich. Wenn man soviel Männer kennt, kann es einem ganz gleichgültig sein, ob einer darunter etwas mehr oder weniger auf die Selbstlosigkeit unserer Liebe angewiesen ist.

LYDIA. Alle großen Künstler, die ich getroffen habe, hatten irgend etwas Absonderliches an sich.

SOPHIE. Ich kenne nicht soviel. Aber glauben Sie, wir, die wir das bißchen Zuneigung täglich mit einem übermenschlichen Aufwand von Liebe neu erkämpfen, wir wollen uns dann noch ruhigen Herzens hinterlistig darum bestehlen lassen?!

LYDIA. Verzeihen, gnädige Frau, ich denke Tag und Nacht an nichts anderes, als daß ich in meiner Kunst weiterkomme.

SOPHIE. Wollen Sie denn etwa leugnen, daß Sie mit meinem Mann in Beziehungen stehen?![63]

LYDIA. Künstlerisch gibt es für uns in der ganzen Welt nirgends ein Weiterkommen, wenn wir keine Lebensart haben.

SOPHIE. Also doch! Also doch! Oh, es ist nicht zu ertragen! – Und das nennen Sie Lebensart?

LYDIA. Selbstverständlich müssen wir Lebensart haben. Darauf bilden wir uns sicherlich nichts ein. Unser einziges Ziel ist die Kunst. Wenn eine das nicht hat, dann geht sie ja so wie so zugrunde.

SOPHIE. Ich möchte Sie etwas fragen, mein Fräulein. Tritt ihr näher. Fürchten Sie nicht, ein Kind zu bekommen?

LYDIA. Möglich ist freilich alles, aber ...

SOPHIE. Reden Sie bitte!

LYDIA. Dazu wären es viel zu viel Väter.

SOPHIE. Deshalb also. Viel zu viel! – Ich muß Ihnen noch etwas sagen ...

LYDIA. Aber Sie, gnädige Frau, Sie sind verheiratet. Sie haben von einem Manne doch zehntausendmal mehr[64] Liebes und Gutes, als unsereins von einem ganzen Dutzend Männer hat.

SOPHIE. Das hatte ich vergessen. Darin haben Sie vollkommen recht.

LYDIA. Wenn ich mir hätte träumen lassen, wie man durch die unwichtigsten Dinge anderen weh tut!

SOPHIE. Sie sind ein gutes Geschöpf. – Aber wissen Sie auch, daß Sie in Lebensgefahr schweben?

LYDIA. Das ist doch Scherz, gnädige Frau!

SOPHIE. Nein, nein, seien Sie auf das Allerschlimmste gefaßt. Ich scherze durchaus nicht. Sie schweben in der furchtbarsten Lebensgefahr!


Quelle:
Wedekind, Frank: Franziska. Ein modernes Mysterium in fünf Akten, München 1912, S. 61-65.
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