Drittes Bild


[536] Damenschneiderwerkstatt.

Der König in Gesellentracht sitzt, an einem reichen Frauenkleid arbeitend, mit untergeschlagenen Beinen auf den Stufen. Meister Pandolfo tritt geschäftig herein.


MEISTER PANDOLFO. Pünktlich bei der Arbeit, Gigi! Pünktlich bei der Arbeit! Brav, Gigi!

DER KÖNIG. Der Hahn hat gekräht, Meister!

MEISTER PANDOLFO. Künftig rüttle mir nur auch die Gesellen gleich aus dem Schlaf! In Gesellschaft, Gigi, arbeitet sich's besser[536] als allein. Nimmt ihm die Arbeit aus den Händen. Sieh her, Gigi! Er zerreißt das Kleid. Ratsch! – Was helfen Frühaufstehen und Spätschlafengehen, wenn die Nähte nicht halten! Und die Knopflöcher, Gigi! Haben dir die Ratten dabei geholfen? Ich habe für Ihre Majestät die Königin Amalie schon gearbeitet, als ihr Mann noch Mortadella und Salami fabrizierte. Soll mir deine Pfuscherei die hohe Dame jetzt abspenstig machen? He, Gigi?

DER KÖNIG. Wenn ich Euch zum Schaden arbeite, dann schickt mich fort!

MEISTER PANDOLFO. He, diese Grobheit, Gigi! – Du glaubst wohl, in Baschi noch die Schweine zu hüten?! Vierzig Jahre auf dem Buckel und nichts gelernt! Pack dich aus meinem Haus, Landstreicher, und sieh, wo du dein Essen findest!

DER KÖNIG erhebt sich und schüttelt die Flicken ab. Ich nehme Euch beim Wort, Meister!

MEISTER PANDOLFO. Zum Henker, Tollkopf, verstehst du keinen Spaß? Kann ich meinem Lehrbub mehr Liebe antun, als wenn ich ihm die Arbeit gebe, die sonst der Meister verrichtet?! Laß ich dich nicht, seit du bei mir bist, sämtliche Gewänder zuschneiden? Hol mich der Teufel, daß ich dir deinen Schnitt nicht absehen kann! Aber die Damen von Perugia sagen: Meister Pandolfo, seit der alte Lehrbub bei Euch schafft, hat Eure Arbeit einen vornehmen Schnitt! Aber was hilft das vornehme Zuschneiden, wenn den Jungfrauen beim Tanz die Nähte platzen! Du wirst nie Geselle, Gigi, wenn du nicht nähen lernst! Mein lieber süßer Gigi, siehst du denn nicht selbst, daß ich nur dein Bestes will?!

DER KÖNIG. Gut, Meister Pandolfo, ich bleibe bei Euch, wenn Ihr mir von nun an jede Woche außer freier Verpflegung noch dreißig Soldi bezahlt.

MEISTER PANDOLFO. Das verspreche ich dir, Gigi! – So wahr ich hier stehe, verspreche ich dir das! – Dreißig Soldi willst du? – Ja, ja, dreißig Soldi! Ja, ja! – Das Kleid für Ihre Majestät die Königin muß bis zum Mittag fix und fertig genäht sein. Also fleißig, Gigi! Immer fleißig! – Ab.


[537] Der König lächelt, nachdem Meister Pandolfo die Werkstatt verlassen, verächtlich vor sich hin und setzt sich dann wieder zur Arbeit. Prinzessin Alma steckt nach einer Weile den Kopf zur Tür herein.


ALMA. Seid Ihr allein, Vater?

DER KÖNIG freudig aufspringend. Mein Kleinod!

ALMA tritt ein. Sie trägt einen schmucken schwarzen Knabenanzug. Hört uns auch niemand?

DER KÖNIG. Der Meister sitzt oben beim Frühtrunk und die Gesellen schlafen noch. – Die Augenblicke, mein Kind, die ich mit dir zusammen bin, entschädigen meine Seele für Tage des dumpfen Hindämmerns. Wüßtest du, welch endlose Gespräche ich mit dir führe, wie lieb und verständig du mir auf alles antwortest! Verlaß mich nicht! Es ist ein neues Verbrechen, das ich mit dieser Bitte an dir begehe, aber ich bin eben ein schwacher Mensch!

ALMA sehr vergnügt, beinah übermütig. Jetzt, mein Vater, wird es bald anders mit uns werden. Der alte Gerichtsschreiber, bei dem ich vor zwei Monden als Laufbursche eintrat, läßt mich schon all seine Akten kopieren. Nächste Woche will er mich mit in den Gerichtssaal nehmen, damit ich statt seiner das Protokoll führe. – O mein Vater, wenn es mir noch einmal gelänge, daß das Todesurteil, das Euch jetzt, da wir wieder hier in Perugia sind, furchtbarer denn je bedroht, von Eurem Haupte genommen würde! – Ob man Euch wieder auf den Thron erhebt, kann ich bei meiner weiblichen Unkenntnis der Politik nicht ermessen. Aber höher als einen Fürsten würde man Euch verehren! Müßt Ihr nicht auch etwas Göttliches haben, daß Ihr trotz Eurer Bedrängnis einen Menschen so mit Seligkeit erfüllen könnt, wie ich das empfinde! Welch einen Reichtum an Glück müßt Ihr erst auszuteilen haben, wenn Euch die Fesseln abgenommen sind. Dann reißen sich Tausende um Euch und Ihr habt keinen König mehr um die Last seiner Krone zu beneiden!

DER KÖNIG. Rede nicht – weiter von mir. Ich muß in Verborgenheit abwarten, bis meine Stunde gekommen ist. – Aber du, mein Kind, fühlst du dich denn nicht todunglücklich[538] unter der Last deiner Arbeit? – Wird dein Herr nicht grob und verächtlich, wenn er gerade einen Menschen braucht, um seine schlimme Laune auszulassen?

ALMA lustig. Aber fühlt Ihr denn gar nicht, mein Vater, wie lebensfroh mir zumut ist?! Die Menschen, denen ich diene, wissen Erziehung und Bildung zu schätzen. Mit Empörung. Ihr hingegen atmet hier unter einer Menschenbrut, die Eure Seele, ohne es zu wissen und zu wollen, durch all ihre Lebensgewohnheiten peinigen muß. Ich sehe Euch über jede Erwiderung in die Zähne knirschen; ich sehe, wie Euch bei den Mahlzeiten der Ekel den Hals zuschnürt. Sich besinnend. O verzeiht meine Worte! Sie achten Eurer schmerzhaftesten Wunden nicht!

DER KÖNIG sichtlich erheitert mit wachsender Munterkeit. Nun denke dir, mein liebes Kind, infolge dieser außergewöhnlichen Ursachen werde ich von Meister Pandolfo als sein fleißigster Arbeiter geschätzt! In Baschi, wo ich das Vieh hütete, hatte ich mein Nachtlager unter einem entlegenen Vordach hinter den Ställen. Da hing ich denn jeden Morgen, auf dem Rücken liegend, meinen Träumen nach, bis die Sonne über mir im Zenit stand. Deshalb gab mir der Bauer den Laufpaß. Hier entgegen schlafe ich mit drei gemeinen Gesellen zusammen und bin deshalb der erste, der sich erhebt, und der letzte, der sich zur Ruhe legt. Für mich schläft es sich nun einmal in Gesellschaft von Menschen nicht so gut, wie unter Tieren. Nie hätte ich mir träumen lassen, daß ein so fleißiger Arbeiter in mir steckt! Die Arbeit dient mir geradezu als eine Art von Zuflucht! Begeistert. Und dann die herrlichen Farben der schweren Samte, der Glanz der Goldbrokate, alles das erfrischt mir die Seele derart, daß ich danach lechze, wie nach einem stärkenden Trank. – Stolz und selbstbewußt. Und dann hat Meister Pandolfos findiger Geist nämlich gleich in den ersten Tagen eine Begabung in mir entdeckt, von der ich selber aufs höchste überrascht war und von deren Betätigung ich mich, offen gesagt, leichten Herzens nicht wieder trennen würde. Er fand, daß ich mich besser als jeder seiner Gesellen und als er selbst dazu eigne,[539] nach freiem Auge die Stoffe für die Damenkleider so zuzuschneiden, wie sie die Gestalt am schönsten zur Geltung bringen. So zum Beispiel hätte ich dieses Wams, das du da trägst, jedenfalls in einer ganz anderen Weise geschnitten, als wie es der Sehr verächtlich. elende Stümper getan hat, dessen Schere eines so herrlichen Tuches gar nicht würdig war!

ALMA. O schweigt, mein Vater! Wie könnt Ihr so erbarmungslosen Spott mit Eurem. unseligen Geschick treiben!

DER KÖNIG verblüfft. Schmeichle mir nicht so höhnisch, mein Kind. – Das Geschick treibt seinen Spott mit mir, nicht ich mit ihm!

ALMA ihn besänftigend. Geliebter Vater, Ihr bleibt König, was immer Euch in dieser Welt auch begegnen mag!

DER KÖNIG. In deinem liebenden Herzen, ja! – Und dadurch verdrängt dein Vater aus deinem Herzen das Empfinden zum Manne, das in diesen Jahren bei dir erwachen müßte, um dich mit beseligender Gewalt deinem Lebensglück entgegenzuführen. – Um Rang und Reichtum hat dich deines Vaters selbstvergötternde Narrheit schon gebracht; nun bringt er sein Kind auch noch um die höchsten Rechte des Lebens, die die Geschöpfe der Wildnis mit der Menschheit teilen und ohne die auf Thronen so wenig wie in der Hütte das Dasein je als eine Gnade der Götter empfunden ward! – Welcher Wahnwitz verführte mich auch, meine Körperkraft an den Fluten des San Margherita-Baches zu versuchen, statt Mit der Schere das Schwert markierend. Umbrien mit Krieg zu überziehen, die Stadt an ihren vier Enden anzuzünden und meine Krone mit eigener Hand unter den glühenden Trümmern hervorzuholen! – – Aber das war nur die Fortsetzung aller vorangegangenen Torheit!

ALMA ärgerlich. Der Himmel erbarm sich meiner törichten Seele! Wie könnt ich es fertigbringen, Euch so zu kränken!

DER KÖNIG. Im Unglück tun die Menschen, ohne es zu wissen und zu wollen, einander weh, so wahr, wie im Glück ein jeder, ohne es zu wissen und zu wollen, dem andern zur Freude lebt! Laß es den Gerichteten nicht entgelten. –[540] Du mußt gehn, mein Kind. Ich höre die Gesellen oben trampeln und schreien.

ALMA ihn küssend. Auf morgen früh! Ab.


Der König nimmt seine Arbeit wieder auf. Darauf kommen die drei Gesellen herein und setzen sich dicht neben ihn.


MICHELE. Gigi, wenn du noch einmal vor dem Hahnenschrei aufstehst, dann schlage ich dir in der nächsten Nacht im Schlaf das Nasenbein entzwei. Dann such dir die Weiber, denen du deine Fratze künftig noch feilbietest!

DER KÖNIG scharf abfertigend. Dich möchte es wohl freuen, einen Schlafenden niederzuhauen. Aber nimm deine Knochen dabei in acht, sonst stehst du am nächsten Tag vielleicht überhaupt nicht auf!

NOÈ. Prächtig herausbezahlt, Gigi! Erzähl uns doch gleich noch einige von deinen Kriegstaten, damit wir Angst vor dir bekommen!

DER KÖNIG. Mir ist die Zeit nicht lang. Erzähl du von deinem Gänseraub beim Pfarrer in Bevagna, wenn deine Ohren nach Heldengeschichten dürsten!

BATTISTA. Heiliger Schutzpatron, steh uns bei! Sonst bist du immer zahm und duckmäusig, Gigi, als hätten deine Nägel noch keine Laus zerdrückt, und heute möchtest du uns am liebsten alle drei zugleich auf die Nadel spießen!

DER KÖNIG gelangweilt. Laßt mich doch in Frieden! Mich quält ein hohler Zahn, deshalb kam ich so früh vom Schlafboden herunter.

NOÈ. Sag doch die Wahrheit, Gigi! War nicht eben der Page wieder hier, der dir die glühenden Liebesbriefe von der Dame überbringt, für die du das gelbe Seidenkleid zugeschnitten hast?

DER KÖNIG. Kümmre ich mich vielleicht um deine Liebesbriefe?!

MICHELE. Du kümmerst dich noch um ganz andere Dinge! Stehst gleich nach Mitternacht auf, um dich im Speichellecken und Achseltragen zu üben! Läßt dir vom Meister die Gesellenarbeit geben und teilst uns die Lehrlingsarbeit zu! Du kommst uns wie die Pest ins Haus!

BATTISTA. – Lehrbub, bring uns die Morgensuppe!


[541] Der König verläßt die Werkstatt.


NOÈ. Da oben fehlt es ihm: mir tut er leid. Er muß bei einem Herrn von Stand so eine Art Stiefelputzer gewesen sein. Das hat ihm das Hirn im Kopf verschoben.

BATTISTA. Kam dir je ein gewesener Landsknecht vor Augen, der sich von Schneidergesellen so erbärmlich hat schuriegeln lassen?

NOÈ. Meine Mutter war Bauernmagd; ich sage das jedem, der mich fragt. Ich stelle mich nicht, als hätte ich den heiligen Vater beim Schlafengehen bedient!

MICHELE. Ich will euch sagen, warum der Bube so stockstumm ist! Von uns hat sich jeder in der Welt herumgetrieben, und wir hatten oft genug nichts zu beißen. Tut der aber sein Maul einmal auf, dann kommen Flüche aus ihm heraus von einer Ruchlosigkeit, daß sich uns dreien der Magen umkehrt! Dann schämt sich die Erde, daß sie den Unhold hervorgebracht hat; dann schämt sich der Himmel, daß er ihn beschienen hat; dann schämt sich die Hölle, daß sie ihn noch nicht verschlungen hat! – Ihr werdet's erleben!


Der König kommt mit vier hölzernen Löffeln und einem Topf voll Suppe zurück, den er vor die Gesellen hinstellt.


MICHELE. Her damit, Unhold! Du leckst unsere Löffel ab, wenn wir satt sind!

DER KÖNIG weicht im Kampf mit sich selbst zurück, sucht zuerst seiner Gefühle Herr zu werden, dann sich gegen die Stirn schlagend. O Fluch über den König, der mich hindert, mich von diesem Schurken prügeln zu lassen! O Fluch über den König, der mich hindert, diesen Schurken zu zerschmettern, da ich ihn besser begreife, als er mich begreift! O Fluch über den König, der mich hindert, ein Mensch zu sein, wie jeder andere! O dreimal Fluch über den König!


Die Gesellen sind entsetzt aufgesprungen.


MICHELE. Habt Ihr's gehört? Er lästert den König! Er lästert den König!

BATTISTA UND NOÈ zugleich. Er hat den König gelästert![542]

MICHELE. Packt ihn an! Haltet ihn fest! – Meister Pandolfo! – Meister Pandolfo! – Schlagt ihm die Zähne ein!

MEISTER PANDOLFO hereinstürzend. Immer fleißig, Burschen! Was prügelt ihr euch schon so früh in der Werkstatt? Seid ihr besessen?!

DIE GESELLEN den König an den Armen haltend. Den König hat er gelästert! Fluch auf den König hat er geschrien! Dreimal Fluch auf den König!

DER KÖNIG der sich willenlos der Gewalt fügt. Dreimal Fluch auf den König! – So falle denn des Königs Haupt unter dem Henkerbeil!

DIE GESELLEN. Hört Ihr ihn, Meister Pandolfo!

DER KÖNIG für sich. Mein armes Kind!

MEISTER PANDOLFO. Bindet ihm die Hände auf den Rücken. Fluch auf unseren lieben guten König Pietro! König Pietros Haupt soll unter dem Henkerbeil fallen! Holt Stricke her! Führt den Hund zum Gericht! Der Landstreicher verjagt mir die beste Kundschaft! Das Haupt König Pietros, der seine Rechnungen so pünktlich bezahlt, wie das überhaupt noch kein König getan hat!


Quelle:
Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Berlin und Weimar 1969, S. 536-543.
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