Neuntes Buch

[367] Wie, wenn der Fuhrmann, der seine Rosse durch Fluch und Peitsche zum unumschränkten Gehorsame gewöhnt hat, sein allmächtiges O! ruft, der ganze Postzug sogleich in einem Tempo, wie angemauert, stillsteht; so schwamm das abgerißne Stück Land mit Belphegorn und seinen Gefährten eine lange Strecke fort, und plötzlich ruhte es unbeweglich und ward zur festen Insel, nicht weit von Kalifornien; und wie verschiedene große Gelehrte an ihrem Schreibetische überzeugend eingesehn haben, so wurde der schwimmende Boden auf einen spitzigen Felsen aufgespießt, der ihn bis an den jüngsten Tag tragen kann, wenn nicht ein Erdbeben einen Strich in die Rechnung macht.

Die Gesellschaft, die diese bedenkliche Fahrt nicht ohne eine kleine Besorgniß, daß der Tod mit dem Spiele Ernst machen möchte, aber doch glücklich und wohlbehalten zurücklegte, bestund aus Belphegorn, Akanten und dem Alten, der in seiner Unterredung mit ihnen durch das gräuliche Erdbeben gestört wurde. Belphegor war nicht übel zufrieden, daß ihn das Schicksal so einsam, fern von allen Menschen, auf die offne See hingesetzt hatte, und ward es viel weniger, als er sich gegenüber[367] ein großes festes Land wahrnahm, welches die übrigen, weil sie nicht so viel Menschenfeindlichkeit besaßen, doppelt erfreute. Doch auch für ihn mußte das Vergnügen über seine Einsamkeit nur von kurzer Dauer seyn, wenn er die Dürftigkeit und Hülflosigkeit betrachtete, worinne sie sich befanden. Das Erdbeben hatte ihnen wohl einen guten Vorrath Brennholz mitgegeben, aber nicht einen einzigen Fruchtbaum, nicht ein einziges Gewächse, nicht eine Staude, die nur im mindesten geschickt gewesen wäre, einen menschlichen Hunger zu stillen. Fische zu fangen hatten sie keine Werkzeuge, und eben so wenig Materialien, sie zu verfertigen; gleichwohl war dieß die einzige Nahrung, deren sie habhaft werden konnten. Zum Glücke hatte der Alte auf seiner Jagd nach goldnen Fischen in jüngern Jahren die Kunst gelernt, sie bey hellem Wasser mit der Hand zu fangen: der Hunger trieb ihn an, daß er eine Fertigkeit wieder versuchte, die er schon längst aufgegeben hatte, allein durch das Alter und die Ungewohnheit waren seine Hände unsicher und unstät geworden, daß er also mit der äußersten Anstrengung in einem Tage kaum genug fieng, um sich und seiner Gesellschaft das Leben zu fristen, aber nicht um sie zu nähren. Oben drein mußte das Unglück ihren Jammer vermehren und den Alten, dessen schwächlicher Körper einen so kümmerlichen Unterhalt nicht ertragen konnte, in wenig Tagen sterben lassen. Was nun zu thun? – Nichts als zu hungern oder zu sterben![368]

In dieser schrecklichen Verlegenheit mußte sich Belphegor bequemen, den Ton seiner Menschenfeindlichkeit um vieles herabzustimmen: so sehr er sonst vor dem Anblicke der Menschen flohe, so eifrig spähte er itzt an dem Rande seiner Insel, um vielleicht an dem entgegenstehenden Ufer menschliche Figuren zu entdecken, denen er durch Rufen und Zeichen verständlich machen könnte, daß hier einige von ihren Brüdern ihres Beystandes bedürften: er dünkte sich zwar etwas bewegliches wahrzunehmen, allein sein Auge reichte nicht völlig bis dahin, um es gehörig zu unterscheiden. Endlich, nach langem vergeblichen Warten, warf er sich verzweiflungsvoll nieder und rief:

O Natur! o Schicksal! daß ihr doch in ewiger Uneinigkeit wider einander seyn müßt! Sollte das Unglück die Bande der Menschheit näher zusammenziehn, sollte es ein Geschöpf dem andern theuer und nothwendig machen, warum mußte das Schicksal wohl tausend Unglücksfälle in unser Leben hinwerfen, aber unter diesen tausenden kaum einen die Wirkung thun lassen, wozu er nach unsrer Meynung bestimmt ist? – Meine traurige Hülflosigkeit, die Nähe des Todes, die Möglichkeit der Rettung, die Zudringlichkeit der Gefahr – alles zusammen hat mein Herz wieder geöffnet: ich fühle einen Zug nach Menschen; ich würde sie vielleicht lieben, wenn sie mich retteten; ich hasse sie schon weniger: aber wenn ich meine Hände gleich zu Freundschaft und Wohlwollen ausstrecke, und Niemand mir die seinigen[369] bietet? Wenn mich das Schicksal auf der einen Seite zu den Menschen hinstößt, und auf der andern sie wieder von mir entfernt?– O Labyrinth! O Räthsel! Der Tod schneidet den Knoten am besten entzwey. Wohlan! zeugt die Natur Geschöpfe, um sie in Qual zu versenken; macht sie so herrliche Anstalten, um sie unter einander zusammenzuknüpfen, daß sie erst hungern, frieren, schmachten, die äußerste Erschöpfung der Kräfte durch Schmerz und Gefahren erdulden, sich kränken, verfolgen, martern, erwürgen müssen, damit der kleine Rest, der der Gefahr und dem ganzen tollen Spiele der Welt entrann, sich lieben und in Friede bey einander wohnen könne; durchwebte sie dieses Leben mit Dornen, um uns die einzeln blühenden Blümchen desto wohlthuender, einnehmender zu machen; gab sie ihren Geschöpfen eine so traurige Fruchtbarkeit, daß sie mehrere ihres Gleichen hervorbrachten, als nach der Veranstaltung des Schicksals ernährt und erhalten werden konnten: – mag sie es verantworten! Ich kann nicht mit ihr rechten: denn – unglücklich genug! – wir haben keinen Richterstuhl, der über uns erkennt; der Mensch, ihre Kreatur, muß leiden, weil er der schwächere, weil er nichts ist. – O Akante! warum sollten wir uns nach Hülfe umsehen? Um noch einmal so lange unter Schlangen, Eidexen, Skorpionen herumzukriechen? Haben wir nicht Bisse und Stiche genug bekommen? – Laß das verächtliche Geschlecht, das zum Quälen allzeit, und zur Hülfe nie bey der[370] Hand ist, laß es! Wir wollen ihn fluchen und sterben! –

Mit diesen schwarzen Gedanken faßte er sie halb sinnlos in die Arme; sie weinte, er fluchte; sie dachte an alle Oerter der Freude zurück, wo sie jemals in Lust und Entzücken geschwommen hatte. – O wie schön, dachte sie, war es im Serail des großen Fali! wie schön bey dem Markgrafen von Saloica, ob ich gleich alle meine Schönheiten dort einbüßte! wie schön bey Alexander dem sechsten! wie schön überhaupt in Europa in den Armen meiner Geliebten, Belphegors und Fromals und Stentors und Bavs und Mäos und Euphranors und andrer schönen Jünglinge! Ach, die glückliche Zeit ist vorüber; und hier soll ich nun auf dieser dürren öden Insel ohne Gesang und Klang – nicht einmal begraben, sondern vermodern und von den Vögeln des Himmels zerstückt werden! Kein Jüngling soll eine einzige Strophe auf meinen Hintritt singen! kein Liebhaber eine Thräne auf meine erblaßten Wangen tröpfeln und sie wieder aufküssen! – Nichts, alles nichts! alles nichts! alles ist aus! Ich muß sterben, unbeklagt sterben! – Belphegor, du hast Recht: das lächerliche thörichte Leben ist nicht werth, daß man es durchlebt, weil man es so bald missen muß. Ich habe von Heiden, Juden und Christen leiden müssen, und die gräulichen Keile waren alle eins: aber ich habe auch Freuden genossen, und da ich sie wieder zu erlangen hoffe, so soll ich gar sterben! sie auf ewig missen! – O du tolles abgeschmacktes[371] Leben! wärst du nur schon vorüber! – Sie weinte bitterlich.

Beide wollten sterben; allein da der Tod mit seiner saumseligen Hülfe nicht allzeit auf die erste Bitte erscheint, so kam indessen zu Stillung ihrer Schmerzen sein Bruder – der Schlaf.

Bey ihrem Erwachen, das etwas spät des Tages darauf erfolgte, sahen sie einen Trupp Kanote nicht weit von ihrer Insel in Ordnung gestellt und mit einer Menge wilder Mannspersonen angefüllt; und so sehr sie Tages vorher unwillig waren, daß nicht zween Menschen zu ihrer Hülfe herbeyeilten, so sehr erschraken sie itzt, daß ihrer eine so große Menge bey der Hand war. Wirklich hatten sie auch alle Ursache zu erschrecken: denn nicht aus brüderlicher Liebe, sondern aus Besorgniß für Feindseligkeiten waren sie herbeygekommen. Sie hatten ihre Schiffahrt mit der Insel angesehn und viel Bedenkliches dabey gefunden, daß sich in ihrer Nachbarschaft eine so große Masse niederließ, die vorher nicht vorhanden gewesen war: da dieses verschiedne wunderliche Gedanken veranlaßte, besonders daß es vielleicht gar eine Rotte böser Geister seyn konnte, die nicht in den besten Absichten auf die Nachbarschaft mit einer so ansehnlichen Wohnstätte angekommen seyn möchten, so beschlossen sie, nicht länger in einer quälenden Ungewißheit zu bleiben, sondern die Sache stehendes Fußes in Augenschein zu nehmen. Daher waren sie in der Nacht mit ihrer ganzen Flotte von Kanoten abgesegelt,[372] einige hatten sich in der Entfernung gehalten, und andre waren gelandet, um heimlich die neue Insel zu untersuchen. Als sie aber so wenig erschreckendes und nur zween in tiefen Schlaf versenkte Sterbliche antrafen, so schien es ihnen das rathsamste den Tag in Schlachtordnung abzuwarten und sie alsdenn die Probe ihrer Gottheit oder Sterblichkeit ablegen zu lassen. Zu diesem Ende wurden die beyden Schlafenden durch ein heftiges Geschrey, das alle anwesende Hälse zugleich anstimmten, bey Tages Anbruche aufgeweckt, und etliche tollkühne Wagehälse hatten sich schon in ihren Kanoten um die Insel herumgeschlichen, um sie von hintenzu anzufallen, zu binden und triumphirend in ihre Heimath zu führen, um ihren Stand und ihre Macht weiter zu untersuchen.

Sobald als Belphegor bey seinem Erwachen die Menge Menschen erblickte, so war seine erste Empfindung – Schrecken, wie bereits gesagt worden ist: doch belebte die Nothwendigkeit der Hülfe und eine Art von Verzweiflung seinen Muth so sehr, daß er durch bittende Zeichen und demüthige Geberden sie auf seine Insel zu locken und ihnen zu gleicher Zeit verständlich zu machen suchte, wie sehr er ihres Beystandes bedürfe. Anstatt einer gütigen freundschaftlichen Antwort tönte ihm ein fürchterliches Kriegsgeschrey entgegen, das bald hinter seinem Rücken wiederholt wurde, worauf etliche sie überfielen, mit Seilen von Baste fesselten und ihren Gefährten winkten, mit den Kanoten herbeyzurudern[373] und die Gefangnen einzunehmen, welches im Augenblicke geschah.

Obgleich die Art, mit welcher diese Wilden die beiden Europäer bewillkommten und aufnahmen, nicht die erfreulichsten Aussichten versprach, so war doch Belphegor äußerst zufrieden, das er auf ein langes festes Land gebracht werden sollte, wo er wenigstens Einen Fleck mit hinlänglicher Nahrung anzutreffen hofte: Akante hingegen, deren Keuschheit eben keine sonderliche Mühe und Vorsorge mehr verdiente, weil sie schon leider! so sehr als ihr Gesicht zerfezt und verstümmelt war, dachte an alles, während der Ueberfahrt, nicht so sehr und angelegentlich als an die Gefahren, die unter so wilden Barbaren ihrer weiblichen Ehre drohen konnten. So natürlich, so tief mit dem weiblichen Wesen verwebt ist Sittsamkeit und Keuschheit, daß hier Akante so gar, nachdem sie schon in neun und neunzig Fällen besudelt worden sind, doch im hunderten noch für die Erhaltung ihrer Reinlichkeit sorgte!

Belphegor räsonnirte indessen unaufhörlich bey sich über die Feindseligkeit und das Mistrauen, das die Wilden bey ihrer Aufnahme blicken ließen. – Ein neuer Beweis, sagte er sich, unter den vielen, die ich schon erlebt habe, daß die Natur ihren Söhnen keine angeborne brüderliche Zuneigung zur Mitgift ertheilte. Warum fühlt der Wilde diesen Zug zu keinem Fremden? Warum ist ihm außer der kleinen Gesellschaft, die lange Gewohnheit mit ihm eins hat werden lassen, alles Feind![374] – O Natur! Natur! Du mußtest dem Menschen dieses Mistrauen einpflanzen, um deine Kreaturen Selbsterhaltung zu lehren: aber trauriges Mittel! damit jedes sich erhalte, muß jedes des andern geborner Feind, von allen sich trennen und nur durch Gewohnheit, Eigennutz, Zwang der Freund von etlichen wenigen werden! Unglückliche Geselligkeit! magst du doch Instinkt oder vom Bedürfnisse erzeugt seyn, du bist allzeit ein trauriges Geschenk: du sammeltest die Menschen in Rotten, um sich zu befeinden und zu zerfleischen. War es aus Oekonomie oder um das Schauspiel blutiger zu machen, daß nicht Menschen gegen Menschen, sondern Trupp gegen Trupp streiten mußte? Doch weg mit den trüben Gedanken! Ich bin vom Hunger und vom Tode gerettet: diese unverdorbnen Kinder der Natur, die Unerfahrenheit fürchten, und die Furcht feindselig verfahren lehrte, werden unsre friedlichen Gesinnungen kaum merken und uns eben so friedlich begegnen. Der Zunder der Feindschaft, der in der ganzen Welt glimmt, kann sich nicht bey ihnen gegen uns entflammen: freue dich, Akante, wir sind wenigstens dem Tode, wo nicht fernern Ungemächlichkeiten entflohen! – Es muß doch so eine Anordnung, so ein geheimes Etwas seyn, das die menschlichen Begebenheiten zum Besten der einzelnen Mitglieder der Erde zusammenknüpft: ein Etwas, das aus den widerwärtigsten Saamen den entgegengesezten Vortheil, aus Mistrauen und feindlicher Furcht Errettung entwickeln kann. –[375]

Die Freude, sich aus der augenscheinlichsten Todesgefahr so unvermuthet geholfen zu sehn, gab seiner Philosophie einen so geschmeidigen Fluß, daß sie bis zum Landen sich in diese Selbstbetrachtung ergoß.

Nachdem sie unter einem ununterbrochnen Jubel in das erste Dorf eingezogen waren, so glaubte Belphegor nichts gewisser, als daß man auf seine erste Bitte, sobald sie nur verstanden worden wäre, mit der größten Bereitwilligkeit seinen Hunger befriedigen werde. Er that zwar seine Bitte, aber niemand schien sie zu verstehen, sondern man sperrte ihn nebst Akanten nach einer langen Prozession in ein Gebäude ein; und eine kleine Weile darauf trug man ihnen Speisen im Ueberflusse auf, deren Ungewohnheit ihnen die Ueberladung ersparte. Die Einwohner, die sie genau beobachteten, frohlockten nicht wenig als sie ihre Gefangnen mit so vielem Appetite essen sahen, welches Belphegorn, der es sich als eine Freude der Menschenliebe und des Mitleids ausgab, beinahe auf bessere Gesinnungen von der menschlichen Natur brachte und seine bisherigen Beschwerden über sie bereuen ließ. – Hier, sagte er zu Akanten, hier ist unverdorbne Natur: in keiner sogenannten polizierten Gesellschaft würde man so naife Ausdrücke des Mitleids und vielleicht auch schwerlich eine so sorgsame Verpflegung, ohne alle Rücksicht auf eignes Interesse, angetroffen haben.

Nur das einzige war ihm unbegreiflich, daß diese mitleidigen Versorger sie gleich anfangs aller Kleider[376] beraubt hatten, beständig gefesselt hielten und auf das schärfste bewachten: er sann tausend günstige Ursachen dafür aus, die insgesammt ganz wahrscheinlich, aber keine die wahre war.

Nach einer achttägigen Wartung und Beköstigung, die ihnen ihre Kräfte völlig wieder hergestellt hatte, wurden sie des Morgens unter dem Zusammenlaufe des ganzen Dorfs ausgeführt, und jedes in der ganzen natürlichen Blöße an einen Pfahl gebunden: beide zitterten nicht ohne Grund für ihr Leben; doch war ihnen alles noch Räthsel. Verschiedene von den Umstehenden waren mit bedenklichen Werkzeugen bewaffnet, die zu nichts als zum schneiden und sägen geschickt waren: ein großes Feuer loderte in hohe Flammen empor, und nichts war wahrscheinlicher, als daß sie beide gebraten werden sollten. Mitten unter dieser unseligen Vermuthung rennte eine Weibsperson, unsinnig wie ein Mänade, auf Belphegorn zu und zwickte ihm mit einem steinernen Instrumente ein Stück Fleisch aus dem Arme, daß er vor Schmerz vergehn mochte; das Blut quoll aus der Wunde, und schnell hielt einer der Dastehenden ein Gefäß unter, um es aufzufangen und zu verschlucken. Dem Beispiele des rasenden Weibes folgten einige andre, und in kurzer Zeit waren die beiden Leidenden vor Schmerz fast erschöpft und ganz mit Wunden bedeckt, ihr Blut von verschiedenen getrunken, und Stücken von ihrem Fleische im Triumphe davon getragen worden. Aus diesem tragischen Ende, das ihre[377] gütige Verpflegung nahm: konnte man schließen, daß man nur die menschenfreundliche Absicht dabey gehabt hatte, ihr Blut und ihr Fleisch fetter und wohlschmeckender zu machen und ihnen Kräfte zu geben, daß sie durch ihre Martern desto länger ihrer Grausamkeit zur Kurzweile dienen konnten.

Von dem schrecklichen Schauspiele war kaum der erste Akt vorüber, als plözlich ein Schwarm von der benachbarten Völkerschaft eindrang, nach einem kurzen Gefechte die Barbaren vom Schauplatze fortschlug, das Dorf anzündete und die blutenden Europäer mit sich hinwegnahm, die diese Sieger sogleich nach der Ankunft in ihrem Dorfe verbanden und sorgfältig verpflegten. Weder Belphegor noch Akante trauten itzt dem Glücke mehr, sondern argwohnten eine neue Grausamkeit hinter dieser Gütigkeit: da sie aber so sehr lange bis zur völligen Heilung anhielt, so wußten sie wenigstens nicht, was sie denken sollten, wenn sie auch gleich nichts Gutes erwarteten.

Ihre gegenwärtigen Verpfleger waren sehr religiöse Leute. Sie hielten es für höchstsündlich, einen Menschen zu essen, ohne ihn vorher den Göttern geopfert zu haben; und um ihre Nachbarn, die gewissenlose Leute waren und sie fraßen, ohne ihren Göttern einen Bissen davon anzubieten, von dieser ärgerlichen Gottlosigkeit abzuhalten, unternahmen sie beständige Anfälle auf sie: so oft sie durch Kundschafter erforschten, daß man eine solche Mahlzeit halten wolle, so brachen[378] sie auf, befreyten die für die Gefräßigkeit jener Barbaren bestimmten Opfer mit Gewalt, kurirten sie sorgfältig wieder aus, opferten sie ihren Göttern und aßen sie mit der größten Anständigkeit.

Kein andres Schicksal ist also von der Frömmigkeit dieser Leute für unsre beiden Europäer zu hoffen: und kurzer Zeit nach ihrer völligen Genesung erfuhren sie es selbst, daß kein andres auf sie wartete. Belphegor raste vor Zorn und Verdruß; er wollte nicht essen, und man zwang ihm die Speisen ein: er wurde gemästet, um ein würdiges Gericht für die Tafel der Götter zu werden. Der Termin des Opfers, das Hauptfest des Jahres, näherte sich, und die Vorbereitungen nahmen ihren Anfang.

Unterdessen fühlten ihre Nachbarn ein gewaltiges Jucken der Tapferkeit in Armen und Füßen, sie hatten lange müßig zu Hause gelegen, und wie das unvernünftige Vieh nichts gethan als gegessen, getrunken und bey ihren Weibern geschlafen. Um sie dieser unrühmlichen Ruhe zu entreißen, fand sich bey einem unter ihnen gerade zu gelegner Zeit ein Traum ein, der kaum erzählt war, als alle bis zum kleinsten Nervengefäße sich begeistert fühlten, nach den Waffen griffen und auszogen, als brave Menschenkinder ihre Gliedmaßen gegen ihre Nachbarn zu brauchen, die izt mit ihrem Feste beschäftigt waren und also ihren Muth nicht in der gehörigen Bereitschaft hatten. Sie kamen; sie fielen das Dorf an, wo Belphegor und Akante zum Opfer aufbewahrt wurden,[379] sie ermordeten und erwürgten, was ihnen in den Weg kam, und um so viel hitziger und unbarmherziger, weil die lange Ruhe ihre Kräfte und ihren Muth thätiger gemacht hatte. Die Uebereilten wurden in die Flucht getrieben, und die Sieger bemächtigten sich der zum Opfer bestimmten Gefangnen, unter welchen auch Belphegor und Akante mit fortgeschleppt wurden: allein da sie von den Einwohnern des Dorfs eine hinreichende Anzahl bekommen hatten, um ihr blutbegieriges Vergnügen an ihnen zu befriedigen, so gaben sie auf die übrigen weniger sorgfältig Acht. Als sie nach Hause kamen, wurden sie wegen großen Ueberflusses ausgetheilt, und jedermann, der einen Anverwandten im Treffen eingebüßt hatte, bekam einen von den Gefangnen an dessen Stelle: unter welchen die beiden Europäer zu einer Wittwe kamen, die ihnen die Ehre anthat, erstlich den Verlust ihres Mannes auf das empfindlichste an ihren Leibern zu rächen, und dann sie zu ihren Sklaven zu machen.

Der gegenwärtige Zustand war unangenehm, aber in Vergleichung der nächstvorhergehenden vortreflich; wenigstens war das Leben sicher. In kurzer Zeit bekam das ganze Dorf einen neuen Paroxismus von Tapferkeit, und alles zog aus, sogar die Weiber waren nicht davon ausgenommen: auch Belphegor und Akante mußten, so wenig sie auch den Kützel der Tapferkeit empfanden, den Zug verstärken helfen. – Da sie aber voraussehen konnten, daß das Ende des Feldzugs ihren Zustand[380] wohl verschlimmern aber nicht verbessern könne, so beschlossen sie bey der ersten Gelegenheit zu entwischen, in eine Einöde zu fliehen und da lieber kümmerlich zu verhungern, als in beständiger Gefahr zu seyn, daß man der Grausamkeit eines Barbaren mit langsamen Martern zur Belustigung und endlich gar mit seinem Fleische zur Sättigung dienen müsse. Die Gelegenheit zeigte sich, und sie entflohen, versteckten sich lange Zeit, um der Nachstellung zu entgehn, in einem Moraste, und rückten, so oft sie sich sicher genug glaubten, weiter fort. Aber ihre Noth hatte nur eine andre Mine angenommen: der Tod drohte ihnen immer noch, nur unter einer neuen Larve. Ihre Nahrung mußten sie mühsam suchen und fanden sie nicht einmal in zureichender Menge, und die Beschwerlichkeiten der Witterung machten ihre traurige Situation vollständig.

Wer hätte sich in solchen Umständen nicht den kummervollsten Reflexionen überlassen sollen, auch ohne so viele Misanthropie, wie Belphegor, im Leibe zu haben? – Um so viel mehr mußte ER es thun: der Strom seiner ärgerlichen Klagen ergoß sich von neuem über den Menschen und die Natur. Als er eines Morgens sein Kummerlied unter einem Brodfruchtbaume sang, so hörte er plözlich einige Stimmen und erschrack, wie leicht zu vermuthen, weil er izt bey jeder unbekannten Stimme einen Menschen vermuthete, der ihn schlachten wollte: er verkroch sich und horchte. Der Ton hatte nichts barbarisches, und bey seiner Annäherung wurde[381] er inne, daß es Akante war, die zween Fremde in europäischer Kleidung zu ihm führte. Er verließ also seinen Schlupfwinkel und er fuhr, daß es zween Spanier waren, die man mit einem Schiffe von PANAMA abgesendet hatte, um Untersuchungen in dieser Gegend anzustellen, Fahrten und Länder zu entdecken. Akante, die bey dem Don, dessen Mätresse sie ehemals gewesen war, ein wenig Spanisch gelernt hatte, wußte wenigstens noch genug davon, um zu erkennen, daß es Spanisch war, was diese beiden Leute mit einander sprachen, als sie ihrer bey einer Quelle ansichtig wurde, wo sie tranken: sie wagte sich zu ihnen, entdeckte ihnen die Verlegenheit, in welcher sie nebst Belphegorn hier schmachtete, nebst einigen andern Umständen so deutlich, als ihre kleine Fertigkeit in der Sprache es zuließ. Die Fremden ließen sich bewegen, zu Belphegorn mit ihr zu gehn, kamen zu ihm, und erboten sich, sie beide auf das Schiff mit sich zu nehmen. Der Vorschlag wurde freudig angenommen, und der Marsch zu dem Schiffe angetreten.

Sie kamen an den Ort, wo sie das Boot befestigt hatten, das sie über einen nicht allzu breiten Fluß wieder zurückführen sollte; aber sie suchten umsonst: das Boot war unsichtbar. Sie riefen, sie sahen, und siehe da! in einer weiten Entfernung sahen sie es, mit Hülfe eines Fernglases, den Fluß hinuntertreiben, und nur einen einzigen Menschen auf ihm, der, so viel sich unterscheiden ließ, durch unaufhörliche Bewegungen, die auch[382] von einem Geschrey begleitet werden mochten, seine Rettung vermuthlich zu bewirken suchte. Man eilte, so schnell man konnte, an dem Rande des Wassers hin, es einzuholen, und bemühte sich durch beständiges Schreyen theils die Leute herbeyzubringen, die es verlaßen hatten, theils dem armen Hülflosen, der darauf zurückgeblieben war, Hofnung zu machen, daß seine Errettung vielleicht nicht weit mehr sey. Das Boot stieß indessen an eine kleine Sandbank an, wo es aber der Strom bald wieder losarbeitete. Dieser Umstand ließ wenigstens die, welche ihm nacheilten, Zeit gewinnen, und sie waren ihm itzt schon so nahe, daß sie mit dem Verlaßnen darinne sprechen konnten. Man wollte ihm helfen und wußte nicht wie: man hielt sich indessen mit Stangen in Bereitschaft, um sie bey der ersten günstigen Gelegenheit anzuwenden. Der Strom näherte zuweilen ihrem Ufer das Boot und einmal so sehr, daß einer von den Spaniern es mit seiner Stange erreichen konnte; er zog es ein gutes Stück näher, der darinne sitzende frohlockte schon, Belphegor warf sich ins Wasser, schwamm zu dem Taue, womit es am Ufer befestigt gewesen war, und das itzt nicht weit vom Rande schwamm, ergriff es, nahm es zwischen die Zähne und schwamm zurück, der andre Spanier haschte es mit seiner Stange, man griff zu, und nach etlichen Drehungen und Wendungen war man so glücklich es mit vereinten Kräften so nahe zu bringen, daß man es bis zu einem Aussteigeplatze von dem Strome forttreiben lassen[383] und mit dem Taue zurückhalten konnte, daß es sich nicht zu weit vom Ufer wieder entfernte.

Mit einer unbeschreiblichen Freude sprang der Errettete aus dem Boote und dankte seinen Errettern so lebhaft, daß man beynahe das Fahrzeug, das ihnen zu ihrer eignen Zurückfahrt zu dem Schiffe unentbehrlich war, hätte entwischen lassen: besonders wurde Belphegor für seine muthige Handlung mit Liebkosungen überschüttet und in Umarmungen fast erdrückt. Man besichtigte das Tau und wurde mit Erstaunen überzeugt, daß es entzweygeschnitten war. Jedermann war deswegen um so viel mehr begierig, die besondern Umstände von der Losreissung des Bootes zu wissen: man stürmte von allen Seiten auf den Erretteten mit Fragen zu, und er versicherte sie, daß er weiter nichts von dem traurigen Vorfalle sagen könne, als daß die vier übrigen, die sie im Boote bey ihm zurückgelassen, unter dem Vorwande, daß sie Enten auf einem nahen Sumpfe schießen wollten, aller seiner Vorstellungen und Verweise ungeachtet, ausgestiegen wären und mit einem Jagdmesser hinterlistig den Tau entzweygehauen hätten, um ihn der Willkühr des Stroms zu übergeben. Die Ursachen ihrer Bosheit waren ihm unbekannt: wenn er aber eine vermuthen sollte, so mußte es nach seiner Meynung Unzufriedenheit seyn, daß man IHM die Aufsicht über das Boot anvertraut und ihn einen Fremden jenen Eingebornen vorgezogen habe. Die Spanier, die man itzt für ein Paar Offiziere erkannte, wüteten wider[384] die Bösewichter, und am meisten darüber, daß sie sich durch die Flucht ihrer Strafe entzogen hatten.

Unterdessen flog der Gerettete, den seine Dankbarkeit noch ganz begeisterte, noch einmal auf Belphegorn zu und versuchte – als er merkte, daß er kein Spanisch verstand – eine Sprache zu finden, worinne er ihm seine Empfindungen frey und geläufig auszudrücken wußte: es gelang ihm, und dann empfieng Belphegor eine feurig warme Danksagung, eine so freundschaftlich warme, als sie ihm sein vertrautester Freund hätte geben können, und oben drein die Versichrung, daß er nebst seiner Gefährtinn in Karthagena so lange bey ihm bewirthet werden sollte, als es ihm nur gefiele. – Die Vorsicht lebt noch, sprach der dankbare Mann mit frölichem Tone: sie hat mir mit meinem Bootchen aus dem grimmigen Flusse geholfen, warum sollten sie mir denn nicht nach Karthagena wieder verhelfen, um dir für deine Wohlthat zu danken? – Ja die Vorsicht lebt noch: wenn wir zum Schiffe kommen, Brüderchen, so wollen wir ihr zu Ehren eine Flasche zusammen ausleeren.

Das Boot wurde unterdessen bestiegen, und man ruderte den Strom hinab, um wieder zu dem Schiffe zurückzukehren, und jeder spannte dabey seine Geschicklichkeit und seine Kräfte an. Sie erreichten das Schiff, und Belphegor wurde mit Akanten von ihrem neuen Freunde auf das herrlichste bewirthet: die Flasche lößte allen die Zunge, und jedes ließ seinen Gedanken und Worten ungehinderten Lauf: man erzählte sich und[385] erzählte sich so lange bis der Bewirther die Flasche vor Hastigkeit hinwarf und Belphegorn um den Hals flog. – Brüderchen, schrye er, bist DU es? bist DU es? Gewiß? DU, Brüderchen? der mich, deinen MEDARDUS, in dem abscheulichen Palaste zu NIEMEAMAYE mitten in den Flammen zurückließ? – Sagte ich doch: die Vorsicht lebt noch: wir dachten einander nimmermehr wieder zu finden, aber siehe! hier sind wir beysammen. Wer hätte das denken sollen? – Und Du auch, Akantchen? – Wohl uns! wenn wir erst wieder in Karthagena sind! Dann solls euch gehn! – so gut, als ihrs itzt schlecht gehabt habt! Glückliches Wiedersehn, und nimmermehr wieder Verlieren! – und so trank er munter sein Glas aus. –

Aber, sprach Belphegor, wenn die Vorsicht noch lebt, wie Du noch immer fest glaubst, warum ließ sie mich erst so lange Zeit zweifeln, ob überhaupt eine existirte? Warum mußte ich geschunden, zerschnitten, gesengt und beynahe gefressen werden, um davon überzeugt zu werden? und noch kann unser Wiedersehn eben so sehr die Wirkung eines Ohngefehrs, eines zufälligen Schicksals als einer Vorsicht seyn? Meine Leiden machen meinen Glauben an sie kein Haarbreit stärker; ja so gar – sie schwächen ihn. –

Bist Du noch so ein Grübelkopf, Brüderchen? unterbrach ihn Medardus. Ersäufe Zweifel und Grillen in der Flasche: genug, ich glaube, daß eine Vorsicht ist, und wers nicht glaubt, den soll der Teufel holen! –[386] Nun, Brüderchen! – und so stieß er an sein Glas – alle, die eine Vorsicht glauben, sollen leben! –

Man merkte es, daß die Flasche den jovialischen Medardus begeistert hatte; und da Belphegors Rausch ein trüber melancholischer Rausch war, so hätten beyde beynahe über Schicksal und Vorsicht in einen unseligen Zwist verwickelt werden können, wenn nicht Akantens Dazwischenkunft sie getrennt und im Frieden erhalten hätte.

Als der Rausch ausgeschlafen war, so kehrte zwar die alte Vertraulichkeit wieder zurück, allein Belphegor blieb doch trübsinnig. Akante heiterte sich mit jeder Stunde wieder auf: mit jeder Erzählung, die ihr Medardus von dem Reichthume und den Schönheiten zu Karthagena machte, mit jeder Aussicht auf Ruhe, Bequemlichkeit, Ergötzlichkeit, die er ihr eröffnete, verschwand das Andenken der überstandnen Beschwerlichkeiten, und es verstärkte sich ihre Munterkeit und Lebhaftigkeit; sie quälte sich nicht, ob diese angenehme Erwartungen ein Geschenk des Schicksals oder der Vorsehung seyn möchten: genug, sie sollte sie genießen, und war damit zufrieden, daß sie sie genießen sollte. Belphegor hingegen lief täglich und stündlich die traurige Geschichte seines vergangnen Lebens durch, fand überall Gelegenheit zu klagen und mit seinem Glauben sich auf die Seite eines blinden Schicksals zu neigen, wozu Medardus mit seinem unumschränkten Vertrauen auf eine Vorsehung nicht wenig beytrug, weil er ihm dadurch[387] immer Gelegenheit gab, zu seinen Zweifeln und dem Nachdenken darüber zurückzukehren.

Indessen hatte das Schiff seinen Weg nach Panama angefangen und jede Stunde, die Medardus missen konnte, brachte er mit Belphegorn zu, um einander zu erzählen und Anmerkungen darüber zu machen.

Was findest Du nun in meinem ganzen Lebenslauf? fragte Belphegor eines Abends, als er seine Geschichte von dem Brande in NIEMEAMAYE bis auf den gegenwärtigen Augenblick geendigt hatte – was findest Du darinne, blindes Schicksal oder überlegte Vorsehung? Ich wollte durch eine Reihe Beschwerlichkeiten dahin, die Neid und Bosheit meistens nur gelegentlich über mich ausgossen: keins hängt mit dem andern zu einem gewissen Zwecke zusammen, sondern ich wurde gequält, weil die Menschen nun einmal so gemacht sind, daß sie nach ihren Gesinnungen und Leidenschaften, die auch nicht ihr Werk sind, nicht anders als mich quälen mußten. Die Barbaren, die mich und Akanten nach einer langsamen Marter fressen, oder die uns ihren Göttern opfern wollten – was können diese dazu, daß sie dieß nicht eben so sehr, wie wir, für die schrecklichste Grausamkeit halten? Eine fortgesetzte Reihe von Begebenheiten, nebst ihren ursprünglichen natürlichen Anlagen, Trieben und Neigungen, stellten ihnen allmählich jenes als zuläßig und dieses als vortreflich vor, so wie uns eine andre lange Reihe von Begebenheiten die Handlung, einen Menschen zu schlachten, als abscheulich[388] abmalte. Was für ein Plan ist es aber, Menschen so anzulegen, daß aus ihrem ersten Triebe der Selbsterhaltung Leidenschaften aufwachsen müssen, die solche barbarische Grundsätze erzeugen? Was sind diese in jenem vorgeblichen Plane? Zweck oder Mittel? – Zweck können sie nicht seyn: denn welche Idee, Kreaturen zu schaffen, damit sie einander fressen! – Mittel eben so wenig: denn wozu führen solche Unthaten im Ganzen oder im Einzelnen? – Entweder müßte also hier in dem Plane der Begebenheiten ein thörichter Zweck oder ein thörichtes Mittel angenommen werden, oder die ganze Sache muß ein zufälliger, nicht intendirter Umstand seyn; und, und! – vielleicht war die ganze Reihe meines, deines Lebens, die Begebenheiten der ganzen Erde nichts als dieses – Wirkungen des Zufalls und der Nothwendigkeit, wo Leute, die diese Wörter nicht leiden konnten, Zweck und Mittel herauskünstelten, und, wie die Wahrsager, auch zuweilen diese beyden Sachen selbst herausbrachten. –

Brüderchen, Du schwatzest zu subtil: Du grübelst und grübelst, und hast am Ende nichts als Unruhe und Ungewisheit zum Lohne: ICH glaube frisch weg, ohne mich links oder rechts umzusehen, daß alles gut und weise angeordnet ist, und wenn mich die Kerle, die Dich verschlingen wollten, schon halb hinuntergeschluckt hätten, so dächte ich doch: wer weiß, wozu das gut ist? Ich komme am besten dabey zu rechte: ist auch wirklich alles Nothwendigkeit und Zufall; muß[389] ich mich von diesen beyden Mächten herumstoßen laßen – wohlan! ich wills gar nicht wissen, daß sie mich blind herumstoßen. Der Kopf wird so dadurch wirblicht genug, soll ich mir ihn noch durch Grübeleyen wirblicht machen? – Nein! jede Freude genossen, wie sie sich anbietet, jeden Puff angenommen, wie er kömmt, und immer gedacht: wer weiß, wozu er gut ist? – das heißt klug gelebt! – Und das kannst Du mir doch nicht läugnen, Brüderchen, daß die gottlosen Kerle, die mich mit dem Boote fortwandern ließen, mich in die Angst versetzen mußten, damit ich dich wiederfände? Wäre ich in dem Palaste zu Niemeamaye nicht beynahe verbrannt, hätte ich nicht so viele Gefahren zur See und in Amerika ausgestanden, so wäre ich itzt nicht bey Dir, so freueten wir uns itzt nicht –

Bester Freund! unterbrach ihn Belphegor: dieser Zweck ist auf deiner Seite erreicht, aber auf der meinigen nicht. In dem Sturme der Leidenschaften, unter dem Gefühle der Widrigkeiten wütete meine Seele, wie ein Betrunkener; alles war mir schwarz, ich deklamirte, aber ich räsonnirte nicht. Itzt da sich durch dein Wiedersehn meine Aussichten erheitern, da der Taumel des widrigen Gefühls verfliegt, itzt tritt eine Stille ein, die tausendmal quälender als der Sturm ist – überlegtes Räsonnement in dem trüben Tone, in welchem ich vorher deklamirte: kurz, ich bin aus dem Getümmel der Schlacht, Wunden und Schmerzen herausgerissen worden, um an mir selbst zu nagen. Soll dieses Zweck oder[390] Mittel von einem künftigen Zwecke seyn? – und so wird wohl der letzte, auf dem alles abzielt, der Tod seyn.–

Wer weiß, wozu Dir das gut ist, Brüderchen? sprach Medardus. Du mußt nur Muth schöpfen –

Lieber Mann! heißt das nicht zu einem lahmen Fuße sagen: hinke nicht? – Führe ICH die Federn meines Denkens und Empfindens an der Schnure, um sie nach Wohlgefallen lenken zu können? –

Brüderchen, mir war bange, als ich in dem Palaste zu Niemeamaye mitten unter den Flammen, wie in einem Feuerofen, steckte: aber ich dachte doch, wenn Du gleich zu Pulver verbrennst, wer weiß, wozu das gut ist? wo nicht Dir, doch einer lebendigen Kreatur auf der Erde itzt oder in Zukunft; und siehst Du? ich kam glücklich durch. –

Aber wie kamst Du durch, Freund? –

Durch einen besondern Zufall. Du weißt, der Bösewicht, der mit Dir nach Niemeamaye kam, um mich schändlicher Weise zu tödten, wurde zu einem ewigen Gefängnisse verdammt, weil wir kein Blut vergießen wollten, ob er gleich den Tod verdient hatte. In dem Tumulte, als ihn seine Wache verließ, hatte er sich durchgearbeitet, strich durch die Burg, fand die Kleidung, die Du von Dir geworfen hattest, zog sie an, weil sie ganz mit Goldkörnern angefüllt war, und wollte so in ihr entfliehen. Da aber die königlichen Insignien darauf waren, so hielten ihn die Feinde für den König,[391] nahmen ihn gefangen, und während daß alles jauchzte und nach dem Orte zulief, wo man den gefangenen König zeigte, erwischte ich eine Oeffnung und entkam glücklich. Ich wanderte bis zur Hauptstadt des großen abißinischen Reichs, wo ich mir durch die mitgebrachten Goldkörner die Bekanntschaft einiger Kaufleute erwarb, die mir nach NEUGUINEA zu helfen versprachen, damit ich von da nach Europa zurückgehn könnte, wohin ich mich außerordentlich wieder wünschte. Mein Verlangen wurde befriedigt: ich gieng mit einem englischen Sklaventransporte ab, aber um zwischen zwey Elementen, Wasser und Feuer, beynahe umzukommen. Siehst du, Brüderchen? Den schwarzen Afrikanern wurde in ihrem engen Loche bange: sie wollten mit Gewalt in ihr Vaterland zurück, sollten sie auch durch den Tod dahinkommen: denn die närrischen Kreaturen bilden sich ein, daß sie sicher ihre Heimath wieder finden, so bald sie gestorben sind. Um diese Reise zu thun und sich zu gleicher Zeit an den Leuten zu rächen, die sie wider ihren Willen in eine andre Gegend versetzen wollten, stiegen sie in der zwoten Nacht nach unsrer Abreise einer dem andern auf die Schultern, um die Fallthüre ihres Behältnisses aufstoßen und herausklettern zu können: der Raum von dem Boden bis an die Thür war so hoch, daß wenigstens drey Mann über einander stehen mußten, um sie zu öffnen. Der böse Streich gelang ihnen wahrhaftig: einer von ihnen kletterte heraus und fand die Sklavenwache schlafend. Hurtig warf[392] er seinen zurückgebliebnen Kameraden eine Strickleiter hinunter, ergriff das Gewehr der Wache und brachte sie mit einem guten Degenstoße um, worauf er den Getödteten mit Hilfe der übrigen herzugeeilten Negern über Bord warf. Zum Unglücke schlief alles, was schlafen durfte, fest, weil jedermann die ganze vorhergehende Nacht hatte arbeiten müssen, und die wenigen Wachenden wachten nur halb: dieser Umstand verstattete den Negern durch das Schiff zu streichen. Sie fanden einen schlafenden Matrosen, der seinen Tabaksbeutel mit dem Feuerzeuge an sich hängen hatte: sie schnitten ihn los und brachten wirklich ein Stück Schwamm zum brennen; durch etliche andre brennbare Materien brachten sie es zur Flamme, die sie in verschiedene Theile des Schiffs ausstreuten. Damit aber niemand SIE für die Urheber des Bubenstücks erkennen möchte, krochen sie in ihr Behältniß zurück, und waren bereit, in dem Feuer mit umzukommen, wenn es das Schiff ganz zu Grunde richten sollte, welches sie von Herzen wünschen mochten. Die Flamme griff auch schon wirklich weit um sich, verwüstete hin und wieder, als man es erst gewahr wurde. Brüderchen, das war ein Schrecken! das war ein Tumult! – Verbrennen oder ertrinken! Das schien die einzige Wahl: aber, Brüderchen, ich sollte Dich wiedersehn: das Feuer wurde gedämpft und die Urheber entdeckt. Die einfältigen Geschöpfe hatten vergessen, die Strickleiter an ihrer Fallthüre wegzuschaffen: kurz, der böse Handel wurde ausfündig gemacht und hart gestraft.[393]

Waren wir dem Feuer entgangen, so war es nur, um in die Hände der Feinde zu fallen. Die Spanier und Engländer hatten damals das Recht, einander allen ersinnlichen Schaden und Feindschaft anzuthun: denn kurz vorher war zwischen beiden ein Krieg ausgebrochen. Siehst Du, Brüderchen? wir wußten nichts davon, und erwarteten also gar nicht, daß jemand unser Feind seyn wollte, weil wir niemanden etwas zuwider gethan hatten: allein da die beiden Mächte uneinig waren, so mußten wir arme Unschuldige ihren Zorn entgelten und uns – mochten wir, mochten wir nicht – als Feinde behandeln lassen, weil uns ein englisches Schiff trug. Ein spanisches griff uns an und führte uns glücklich nach Karthagena, wo ich bewies, daß ich kein Engländer war und auch nicht einmal den Namen nach an dem Mißverständnisse zwischen den beyden Königen einigen Antheil hätte: auf diesen Beweis gab man mir die Erlaubniß, mein Glück zu suchen, wo ich es finden konnte. Ich fand einen Platz bey einem Kaufmanne, wo ich mich gegenwärtig noch befinde, und auf dessen Verlangen ich diese Reise nach dem kalifornischen Busen mit unternehmen mußte. – Glückliche Reise! ich habe Dich wiedergefunden; ich bringe Dich nach Karthagena, und nun leben und sterben wir beysammen.

Seine Wünsche wurden erfüllt: sie erreichten glücklich Panama und machten alsdann in kurzer Zeit den Weg bis nach Karthagena, wo Medardus seinem Freunde eine anständige Versorgung verschafte, und dieser[394] Akanten, die Gefährtinn seiner Schmerzen und seines Unglücks, zu seiner wirklichen Ehegattinn erhub.

Belphegor glaubte sich nunmehr am Ende seiner Leiden, heiterte sich durch seine Zerstreuungen und Geschäfte genugsam wieder auf, um seine bisherige trübe Laune ziemlich zu vergessen; allein der herrschende Ton seiner Empfindungen und seiner Gedanken blieb beständig der schwermüthige, der melancholische, und seine Unterhaltungen mit seinem Freunde betrafen meistens das große Labyrinth – die Begebenheiten und Schicksale der Menschen. Er wankte mit seinem Glauben zwischen Nothwendigkeit und Vorsehung hin und wieder, und seine eigne Ueberzeugung zog ihn allezeit zu der erstern, ob ihn gleich sein Freund zu der letztern zu ziehen suchte. Wenn aber auch sein innerlicher Zustand nie völlig ruhig werden konnte, so glaubte er wenigstens, daß die Menschen und das Schicksal seinen äußerlichen nicht weiter beunruhigen würden; aber auch hierinne glaubte er falsch: die Menschen mußten ihn in seiner Ruhe stören, weil er sie im Laster und der Unterdrückung stören wollte.

Seine Geschäfte führten ihn oft in solche Verbindungen, daß er das ganze Spiel der Leidenschaften und des Eigennutzes in dem deutlichsten Lichte sehen konnte: er fand, daß auch in dieser neuen Welt, wie in der alten, der Neid beständig den Bogen gespannt hielt, und jeder seine Obermacht zur Unterdrückung mißbrauchte. Anfangs ließ er sich zwar von der Klugheit zurückhalten,[395] allein in kurzem häuften sich die Reizungen so sehr, daß sein Unwille alle Klugheit überstimmte: er riß ihn hin und stürzte ihn in tausend Unannehmlichkeiten und eben so viele Gefahren.

Der Herr, in dessen Diensten er stand, war ein Kreole20 und hatte deswegen den Haß aller gebornen Spanier auszustehn: bey jeder Gelegenheit, wo von einem unter diesen das Interesse oder die Ehre seines Herrn gekränkt wurde, focht Belphegor mit allen Kräften seiner Beredsamkeit und seines Leibes, ihn zu vertheidigen. Sein Eifer machte ihn bey seinem Herrn beliebt und wurde dadurch um so viel stärker angefacht.

So lange er wider die Ungerechtigkeiten und den Stolz der gebornen Spanier deklamirte und mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit auf die Verachtung loszog, die sie gegen alle Kreolen blicken ließen, auch zuweilen dadurch, daß er zu heftig die Partie der Kreolen nahm, sich blaue, braune, gelbe und rothe Flecken, Wunden und Beulen verursachte, so überhäufte ihn sein Herr mit Liebkosungen und Geschenken, Belphegor empfieng die freundlichsten gütigsten Blicke unter allen im ganzen Hause, sein Gespräch war die liebste, die einzige Unterhaltung seines Herrn, und dieser konnte ihm stundenlang zuhören, wenn er eine Strafpredigt über Welt und Menschen hielt und die Züge in seinen Gemälden des kindischen menschlichen Stolzes von gebornen[396] Spaniern entlehnte: sobald er aber Einen Zug der Unterdrückung einfließen ließ, die der Kreole so gut als der Spanier begieng, so schwieg man anfangs still, und wenn er seine Schilderungen mit solchen Dingen gar zu sehr überladete, so wurde die Unterhaltung abgebrochen. Belphegor, der seinen Herrn, im Durchschnitte gerechnet, für gut hielt, dünkte sich verpflichtet, ihm auch die kleinen Flecken abzuwischen, die die Grundfläche seines Charakters beschmuzten und die sich nur durch die Länge der Gewohnheit so tief eingefressen hatten, daß er sie, wie alle Menschen seines Schlages um ihn, für keine Flecken hielt. Dahin gehörte vorzüglich diese Art von Grausamkeit, die auch Menschen begehen, wenn sie nichts als gerecht sind, andern zwar sehr pünktlich ihre eignen Obliegenheiten entrichten, aber auch mit der äußersten Strenge ihr Recht von andern verlangen. Da diese Strenge sich am meisten da äußert und auch, ohne gerichtliche Straffälligkeit, am meisten da äußern kann, wo eine alte verjährte Unterdrückung zum Recht geworden ist, und ein Trupp armseliger Kreaturen, so bald sie zu existiren anfangen, schon die Möbeln eines andern sind – kurz, wo Leibeigenschaft und Sklaverey herrschen; so fand Belphegor für seinen Strafeifer nirgends reichlichern Stoff als in seinen gegenwärtigen Umständen. Die Indianer, diese armen Lastträger, diese Soufre-douleurs von Amerika, und man möchte sagen, der ganzen Menschheit, reizten seinen Unwillen am heftigsten. Er sah, daß alles sich[397] vereinigte, auf die Kosten dieser Elenden wohl zu leben, und sein Ungestüm, da er so viele Nahrung fand, brach von neuem los. – Ihr seyd Unmenschen, sprach er einst zu seinem Herrn; ihr macht eure Schultern leicht und legt alle Lasten der Menschlichkeit diesen Kreaturen ohne Mitleid auf: ihr drückt sie, weil sie keine rechten Christen sind, ohne zu bedenken, daß sie Menschen sind. Laßt diesen Unglückseligen ihren Pachacamac21 oder wie sie ihn sonst nennen wollen, und erleichtert ihnen die Mühe zu leben, und ihr seyd ihre wahren Wohlthäter. Ist es nicht ewige Schande, eine halbe Welt zu erobern, ihre Einwohner zu Sklaven zu machen und dann noch an ihrem dürftigen Unterhalte zu saugen? – Aber warum konnte nun die Natur ihr Werk so anlegen, daß alle diese Härte eine nothwendige Folge von seiner Einrichtung seyn mußte? daß ein Theil der Menschen von dem andern nicht allein zur Arbeit gezwungen, sondern auch überdieß noch hart behandelt werden mußte? daß ein Theil ganz erniedrigt werden mußte, damit der andre desto höher sich emporhebe? – O Gott! mir schwellen alle meine Adern, wenn ich diesen tollen Lauf der Welt überdenke! – Was sind diese Befehlshaber, diese Corregidoren anders als privilegirte Unterdrücker! Was seyd ihr, die ihr den Reichthum des Landes der Erde abgewinnt, anders, als immerwährende Unterdrücker? als vom Recht geschüzte[398] Unterdrücker, wenn ihr auch noch so gelinde verfahrt? Und wenn der Elende diese beiden Ruthen bis zum Verbluten gefühlt hat, dann setzt noch der geistliche Blutsauger den Rüssel an und zieht dem armen Einfältigen den wenigen Saft aus, der ihm übrig blieb, verkauft ihm schnöde nichtsnutze Possen und pflanzt ihm den häßlichsten Aberglauben ein, damit ihn Gewissen und Blödsinn zum Kaufe zwingen. – Ist es erhört, o Natur, daß du eine Gattung von deinen Geschöpfen so ganz stiefmütterlich vernachlässigen konntest? Waren die Indianer nicht auch dein Werk? Und doch ließest du sie vielleicht viele tausend Jahre in Dummheit und dem grausamsten Aberglauben herumkriechen, Sklaven ihrer Tyrannen und ihrer Götter seyn, dann sie zu tausenden erwürgen, in das Joch der Europäer stecken und nun langsam von allen Seiten bis zur Vernichtung quälen: du schufest sie, um sie langsam aufzureiben. –

Einen solchen Sermon hielt natürlicher Weise sein Herr nicht länger aus, als bis er sich das erstemal getroffen fühlte, wo er sich meistentheils wegwandte, räusperte, eine Beschäftigung vornahm, jemanden rief, das Zimmer verließ, oder etwas anders that, das ihn darauf zu hören hinderte. Eine jede solche Unterhaltung schwächte bey ihm den Geschmack an Belphegors Umgange, und obgleich dieser sich sehr oft durch ein kleines Lob auf die Gutherzigkeit des Mannes wieder in Gunst sezte, so hieß das doch nur, einen schlimmen[399] Eindruck benehmen, aber keinen guten geben. Diesen Umstand nüzten seine Kameraden, die schon längst mit schielen Augen die Vorzüge angesehn hatten, die er von seinem Herrn genoß, ihn dieser Vorzüge zu berauben. Sie stellten Belphegors Deklamationen von der schlimmen Seite vor, erdichteten etliche, die er wider seinen eignen Herrn namentlich in seiner Abwesenheit gesagt haben sollte: sie fanden leicht Glauben, und bald wurde Belphegor zurückgesezt, verachtet, und jedes auch das mindeste seiner Worte übel genommen, man machte ihm, ob er gleich von Wunden und Beulen verschont blieb, das Leben doch so schwer, daß er diesen innerlichen Schmerz gern gegen alle körperliche vertauscht hätte: er wurde es endlich müde, verlies das Haus und lebte von der Gütigkeit seines Freundes Medardus, der sich mit der größten Bereitwilligkeit seiner annahm und auf einen andern Plaz für ihn dachte.

So schwer ihm diese Bemühung wurde, so gieng sie ihm doch endlich glücklich von statten: er verschafte seinem Freunde einen andern Platz, aber keine Ruhe. Er brachte ihn in das Haus eines Mannes, der recht dazu geschaffen schien, seinen bisherigen Unwillen über die amerikanische Unterdrückung zu erhöhen, und den ganzen Belphegor in Feuer und Flammen zu setzen. Ein Mann war es, der sein Leben in der wollüstigsten Trägheit dahinschlummerte, und wenn er ja handelte, doch nie über die Gränzen der Sinnlichkeit hinauswich: wenn er geschlafen hatte, so aß oder trank er, und wenn[400] er gegessen oder getrunken hatte, so schlief er, und wenn er dessen überdrüßig war, so ließ er sich von einem Pferde tragen oder von etlichen ziehen: zuweilen gebrauchte er sogar Sklaven, hierzu, um zugleich seinen Stolz zu kützeln, wenn er Geschöpfe, die mit ihm einerley Figur hatten, so unter sich erniedrigt sehen konnte. Wenn er speiste, mußte einer von seinen Hausbedienten ihm mit lauter Stimme seinen Stammbaum, der von Erschaffung der Welt anhub, vorlesen, desgleichen jede Lobrede, die auf einen seiner Vorfahren gehalten worden war; und da er meistens über dem Lesen einschlief, so war es kein Wunder, daß die Geschichte seiner Abstammung seine einzige Lektüre schlafend und wachend ausgemacht hatte, ohne daß er mehr davon wußte, als daß Adam sein erster Stammvater gewesen sey, weswegen er es bey jeder Gelegenheit mit großem Stolze zu rühmen wußte, daß seine Familie unmittelbar von Gott selbst gemacht worden sey.

Der Anblick eines so vegetirenden Geschöpfes mußte Belphegorn natürlich aufbringen, besonders wenn er es mit den hülflosen Mitgeschöpfen verglich, die ihm die Mittel zu einer so weichlichen Bequemlichkeit erarbeiten mußten: er wollte nicht mehr dieselbe Luft mit ihm athmen, oder von Einem Dache mit ihm bedeckt seyn; und als er eines Tages den Auftrag bekam, ihn mit der Verlesung seines Geschlechtsregisters einzuschläfern, so that er ihm mit dem Eifer eines Bußpredigers eine so nachdrückliche moralische Vorhaltung seiner noch weniger[401] als thierischen Lebensart und der Unterdrückung, die er begehn müßte, um sie genießen zu können, daß der Mann kein Auge zu thun konnte, worüber er so ergrimmte, daß er den armen Belphegor, als einen unbrauchbaren Bedienten, zum Hause augenblicklich hinausweisen ließ. Das Schicksal war hart, aber ein kleiner Rest von Stolze, der ihn überredete, für die Wahrheit eine Aufopferung gethan zu haben, stärkte ihn hinlänglich, daß er so aufgerichtet und frölich, wie ein Märtyrer, über die Schwelle schreiten konnte.

Er nahm seine Zuflucht zu Akanten, die noch, so sehr sich ihre Reize auch vermindert hatten, aus dem nämlichen Grunde gern mit der Liebe spielte, aus welchem ein alter Fuhrmann gern klatschen hört, wenn sein Arm zu steif ist, die Peitsche selbst zu regieren. Sie war – wenn man ihre Verrichtung bey dem eigentlichen Namen nennen darf – eine Kupplerinn, und genoß die Freuden ihrer Jugend wenigstens in der Einbildung, wenn sie den fremden Genuß derselben vor sich sahe, da das unbarmherzige Alter sie leider! unfähig gemacht hatte, sich in der Wirklichkeit daran zu vergnügen. Ihr Mann, der mit seinem Kopfe immer auf irrendritterliche Fahrten ausgieng, konnte über dem Eifer, die ganze Welt zu bessern, nicht daran denken, sein Haus zu bessern, das durch die Geschäftigkeit seiner Frau einem Bordelle nicht unähnlich geworden war. Er merkte nicht das mindeste hiervon, sondern lebte nunmehr von[402] der Einnahme seiner Frau, unbekümmert, daß sie der Gewinst einer Unterdrückung war, die alle andern überwiegt – der Unterdrückung der Tugend. Indessen daß diese ohne sein Bewußtseyn täglich hinter seinem Rücken geschah, schwärmte er mit seinen Gedanken in der Welt herum, suchte Materialien zum Aerger auf und zürnte, daß die Natur nicht IHN um Rath gefragt hatte, als sie eine Welt schaffen wollte. Mitten unter seinem traurigen Zeitvertreibe gerieth er in die Bekanntschaft eines Mannes, der sein Haus oft besuchte, Akanten reichliche Geschenke machte, ohne jemals mehr zu thun, als bey ihr ein und auszugehen. Da er also bey den Lustbarkeiten, die an dem Orte vorgenommen wurden, blos ein überflüßiger und oft lästiger Zuschauer war, so bekommplimentirte ihn Akante so lange, bis er sich zuweilen bereden ließ, sich zu ihrem Manne zu begeben und mit ihm zu unterhalten.

So zurückhaltend und lakonisch der Fremde war, so offenherzig aus der Brust heraus redte hingegen Belphegor: und bald fanden sie beide, daß ihre Denkungsart nicht ganz disharmonisch war; sie wurden einander interressant und in kurzem Freunde, doch lange nicht so sehr, daß der Fremde auf die vielen Zunöthigungen, sich entdeckt hätte. Endlich machte einstmals die Flasche, womit er Belphegorn häufig bewirthete, seine Zunge so geläufig, das er folgendes Bekenntniß ablegte: – Ich war ehemals ein Herrenhuter, konnte aber den verschleierten Despotismus, der diese Gemeine unter[403] den heiligsten Benennungen tyrannisirt, nicht länger mehr erdulden, und trennte mich deswegen von ihr. Menschen geboten uns willkührlich und wollten uns überreden, daß die Stimme des heiligen Geistes durch sie gebiete. Ich glaubte dem heiligen Geiste nicht mehr blindlings und wurde deswegen gemishandelt: ich verlies eine Sekte, wo die natürliche Freiheit ungleich mehr eingeschränkt ist, als in der despotischen Monarchie, und die Schranken ungleich schwerer erweitert werden, weil sie mit der Heiligkeit überfirnißt und zugleich die Stützen des Ganzen sind, um dessentwillen sie je länger, je mehr vervielfältigt werden müssen, so daß zuletzt entweder ein Pabst mit etlichen listigen Füchsen den übrigen Haufen ganz abrutiren muß, um ihn in Ruhe nach Willkühr, wie Marionetten, zu regieren, oder die ganze Gesellschaft ein Trupp so verdorbner Christen voll Zanks, Uneinigkeit und Tumult werden wird, wie die übrigen alle. Solltest du denken, daß unter der stillen friedfertigen Mine des Bruders das nämliche Herz lauscht, und daß seine Gesellschaft eine Welt ist, wo der Schwächre eben so sehr unter schönen Namen betrogen und tyrannisirt wird als in andern Gesellschaften? – Glaube mir, es ist so! Ich entsagte dem separatistischen Despotismus und durchlief Königreiche, Herzogthümer und Fürstenthümer, Aristokratien und Republiken, allenthalben begegnete ich dem Despotismus im Großen oder im Kleinen, unter dieser oder jener Maske, versteckt oder offenbar. In jedem, auch dem[404] kleinsten Staate lauschte dieß vielköpfichte Ungeheuer, und ganz Europa schien von ihm verschlungen zu werden. Regierungsgehülfen, denen die Gunst des Fürsten mehr galt als die Glückseligkeit des Volks, untergruben listig die Schutzwehren, die die Monarchie vor den Eingriffen des Despotismus sichern sollten, oder warfen sie aus eigner Herrschsucht mit Gewalt nieder: sie legten der Nation Lasten auf, daß sie sich unter der Bürde krümmte: und beschwerten sie, um sie glücklich zu machen.

Um es glücklich zu machen! rief Belphegor verwundert. –

Ja, Freund! Man ersann eine Philosophie, deren oberster Grundsatz im Grunde war: man muß den Menschen das Leben sauer und schwer machen, um sie glücklich zu machen. Man hatte bemerkt, daß Staaten durch Industrie und Geschäftigkeit blühend und glänzend geworden waren: man hielt den Glanz des Staats und die Glückseligkeit seiner Mitglieder für untrennbare Dinge! oder man würdigte vielleicht nicht einmal die leztern einiger Rücksicht, und sezte es also als einen Grundsatz fest, daß die Glückseligkeit eines Volks mit seiner Industrie zunehme; und jedermann dachte auf Mittel sein Volk auf diesen sichern Weg zur politischen Glückseligkeit zu führen. Sogar Junker, die eine Hand voll Bauern unter ihrem Kommando hatten, die ihnen ihr Feld pflügen und ihr Vieh hüten mußten, sprachen von Industrie, und wollten ihre Arbeiter industriös machen,[405] weil sie alsdann noch mehr faullenzen zu können hoften. Indem man allenthalben Mittel zur Industrie aufsuchte, bemerkte man, daß die Einwohner einiger Länder mit wenigen Auflagen beschwert und nicht industriös gewesen waren: sogleich erklärte man dieß für die Wirkung von jenem, was es vielleicht in einigen einzelnen Fällen wirklich seyn mochte, ob es gleich in den meisten nur ein begleitender, oder höchstens mitwirkender Umstand war. Das Geheimniß war gefunden, und jeder Politiker, der rechnen gelernt hatte, machte es zum Glaubensartikel, daß man dem Volke viel nehmen müsse, damit es viel gewinne; und ein junger Sekretär einer Kammer fertigte mich, da ich aus meinem gesunden Menschenverstande Einwendungen dawider machen wollte, frisch weg damit ab, daß ich das Ding nicht verstünde. – Freund! heißt das nicht einen Esel mit Peitschenschlägen zum Laufen bringen? Gut! er läuft stärker nach Empfang der Hiebe; aber ist nicht ein gewisser Punkt, wo das gute Müllerthier nicht stärker laufen kann, wo er entweder unter den Schlägen erliegen, oder seinen Führer sich wiedersetzen muß? und ist nicht ein gewisser Punkt, innerhalb dessen die Industrie durch die erschöpften Kräfte der Menschen, durch die besondre Lage und Beschaffenheit des Landes und tausend andre Ursachen eingeschränkt wird, über die sie nie hinausgebracht wird, man lege dem Volke jeden Tag neue Lasten auf? – Und ist denn die Glückseligkeit der einzelnen Mitglieder bey der Berechnung[406] eine bloße Null? Sollen die Menschen nichts als Lastträger seyn, denen man täglich mehr auflegt, damit sie täglich mehr tragen lernen? Sollen sie immer gieriger nach Gewinn trachten, um immer mehr geben zu können? Heißt das nicht, sie zu allen den Lastern hinstoßen, die man für Schandflecken der Gesellschaft erkennt? zur Habsucht, List, Betrug – kurz, zu allen Vergehungen, die durch den leichten Zaun der Gesetze durchschlüpfen können? –

Verflucht sey die Industrie! rief Belphegor. Je mehr sie steigt, je mehr raubt sie der Gesellschaft Annehmlichkeit, Zierde, und den einzelnen Mitgliedern die Glückseligkeit. – Was thut sie? Sie schiebt einigen wenigen das Kopfküssen der Bequemlichkeit unter, macht alle, mehr oder weniger, zu habsüchtigen Wölfen und listigen Füchsen, und wirft den größten Haufen auf den harten Pfühl der Arbeit, der Beschwerlichkeit, der Kümmerniß, des Mangels. – Wohl euch! ihr Thiere, und ihr Menschen, die ihr ihnen gleicht, denen thierisches Bedürfniß den ganzen Kreis ihrer Glückseligkeit schließt! –

Freund! Du bist voreilig. Die Industrie rottet eben so viele Laster aus als sie giebt –

Was ist da gewonnen? –

Was bey jedem Wechsel auf unserm Planeten gewonnen wird – man tauscht ein andres Uebel ein. Daran kann ich mich gewöhnen, nur an die Unterdrückung nicht. Mein Gefühl von Freiheit, das bey jeder Spur[407] von ihr bis zum Tumulte aufrührisch wird, trieb mich aus der alten Welt, wo despotische Grundsätze die Schranken derselben immer enger zusammenzogen, so enge, daß an manchen Orten kein Mensch mehr ein freies Wort zu flüstern wagte. Aber Freund! welch ein Wechsel! hier fand ich die Unterdrückung in roher unbekleisterter Gestalt, und mit feiner Tünche überzogen; gerade dieselbe Welt, wie auf der andern Halbkugel, an manchen Orten besser, an manchen schlimmer. Ebendieselbe Kraft, die in der Bewegung der körperlichen Welt ein gewisses Gleichgewicht erhält, muß auch die moralische und politische Vollkommenheit des Ganzen in einer gewissen Temperatur erhalten, daß alle Zeiten und alle Orte im Besitz und Mangel sich die Wage halten.

Leider! seufzte Belphegor, ist die Welt sich allenthalben gleich. Aber muß es so seyn? Oder ist nicht zu vermuthen, daß einst ein Mann, der mehr Geist ist als seine Mitbrüder, die groben Fesseln zerbrechen wird, die diesen und jenen Theil der Menschheit an den Bock der Sklaverey anketten: denn die feinen gewohnten Banden, an welchen der Gewaltige den Schwachen allzeit führt, diese zu zerreissen, ist Gott und Mensch zu schwach, so lange die Natur keine Umschaffung unternimmt: aber ein solcher Mann, der die Indianer an ihren Unterdrückern rächet, zwar tausend Unschuldige bey seiner Rache mit hinraft, aber sie doch zu einem edlen Zwecke hinraft –[408]

Diese Erlösung wird die Zeit bewerkstelligen. –

O die leidige langsame Zeit, die erleichtern aber nicht erlösen kann! – Die Menschen kämpften um Herrschaft, bis der Mächtigere obsiegte und den Schwächern niederwarf: so lange diesem das Joch neu war, trug er es unwillig und regte sich, wenn jener zu hart drückte: mit der Zeit wurde er durch die Gewohnheit eingeschläfert, und fühlte gar nicht mehr, daß ihm der Druck auf dem Halse lag: – siehe! das ist bisher die Hülfe gewesen, die die träge langsame Zeit gereicht hat. –

O Freund! ich bin nicht der Mann, der diese hohe Unternehmung wagen könnte; aber eins kann ich! ich kann Vorschläge und Projekte thun. Von jeher war es meine Lieblingsbeschäftigung, über die Gebrechen der Regierungen nachzudenken und Plane zu ihrer Verbesserung auszusinnen: keine darunter sind ausgeführt worden, aber die Welt befände sich gewiß wohl dabey, wenn sie alle ausgeführt wären. Ich habe einen Entwurf ersonnen, wie alle Kriege, wenigstens in Europa, auf immer unthätig gemacht und ganz vertilgt werden könnten. –

Willkommnes Projekt! O Natur! warum gabst du mir nicht Kräfte in meinen Arm und Muth genug in mein Herz, ein so erhabnes Projekt zu bewerkstelligen? –

Er braucht weder Muth noch starken Arm dazu, um die Uebereinstimmung aller Mächte von Europa, über die Beylegung ihrer Fehden etlichen aus ihrem Mittel[409] den Auftrag zu geben.22 Herrliches Projekt, das Schwerdt und Kanone unschädlich, einen ganzen Welttheil ruhig, bevölkert, wirklich polirt machen, und jedes empfindende Herz mit dem Menschengeschlechte aussöhnen wird? Freund, wenn ich den Anfang eines solchen Glücks erlebte! und sich dabey bewußt zu seyn, daß man die Idee dazu im Kopfe gehabt hat, was für eine Freude müßte das seyn! –

Bester Freund! eine überschwengliche Freude! Allein Krieg ist seltner, doch Unterdrückung dauert Tag für Tag: hättest Du ein Projekt, dieß Ungeheuer zu vertilgen. –

Auch dafür weiß ich eins. Alle Regenten dürften nur mehr für die Glückseligkeit ihrer Staaten als für ihren eignen Glanz sorgen, alle despotische Grundsätze aus sich und ihren Dienern verdrängen, das Leben und Wohlseyn des geringsten Unterthans höher schätzen als allen Pomp, sich und das Volk nicht als zwo Parteyen betrachten, worunter eine die andre immer feiner zu überlisten sucht, eine nicht geben, und die andre nehmen will, sondern sich als eine Gesellschaft behandeln, die ein gemeinschaftliches Interesse vereint –[410]

Wenn soll dieß Projekt ausgeführt seyn? –

Ja – wollte er antworten, aber man rief Feuer im Hause, und die Antwort blieb unvollendet.[411]

20

Ein in Amerika von europäischen Eltern geborner.

21

Gott der Peruaner.

22

Vermuthlich ist seine Meynung, daß eine Veranstaltung getroffen werden sollte, die den Austrägen der Fürsten im deutschen Reiche gleich kämen, wo bey entstehenden Zwistigkeiten die Untersuchung und Entscheidung einigen selbstgewählten Mächten von Europa aufgetragen würde. Freylich ein herrliches aber schweres Projekt!

Quelle:
Johann Karl Wezel: Belphegor, Frankfurt a.M. 1979, S. 367-413.
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Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

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