Der Sagenstein

[72] Aus Bergen schleicht der Abendhauch, ein Raunen

Im wüsten Hain.

Das Tannenvolk umringt mit scheuem Staunen

Den Sagenstein.


Hier stund ein Schloß; sein Glitzern machte trunken

Wie Abendstrahl.

Verwunschen wards. Und wo die Pracht versunken,

Bezeugt dies Mal.


Verdüstert hockt der Stein/ wie seinen Sorgen

Ein Bettler grollt.

Verkappter Fürst! Im Grunde dir geborgen

Ruht Perl und Gold.


Kein Gräber drang noch durch die Felsenrinde

Zum güldnen Schacht.

Ein Glimmen winkt nur dem Johanniskinde

In Zaubernacht.


Sein Träumeraug erschaut in Höhlenwildnis

Den Perlenschrein,

Auch marmorweiß ein Königinnen-Bildnis

Im Dom von Stein./
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Ich kenne sie, die heilgen Heimlichkeiten

Der Innenschau.

Verwunschen sank auch mir ins Grab der Zeiten

Mein Königsbau.


Doch was dereinst an Seligkeit erblühte,

Ist nimmer tot;

Es bleibt mein Schatz, versunken im Gemüte,

Der magisch loht.


Ich selber bin das Schloß mit güldner Tiefe,

Der Sagenstein.

Und ob ich ganz der Oberwelt entschliefe,

Der Traum ist mein.


Die Königin ward diesen heißen Sinnen

Hinweggebannt.

Verklärt zum Engel weiht sie nun mein Minnen

Dem Geisterland.


Als Dom von Tropfgestein soll mich umflechten

Die Innenwelt.

Braut meiner Jugend, throne mir zur Rechten

Im Höhlenzelt!

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 72-74.
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