Hahnenschrei

[166] Hahnenschrei. Wie sachter Nebelregen

Rieselt Morgendämmern bleich vom Himmel;

Baum und Giebel grau und geisterhaft ...

Hahnenschrei im Dorfe hin und wieder/

Flüchtig Lallen einer Tagesahnung,

Die den Schlaf der Allnatur durchschauert.


Horch, Einsiedler! Deine schwere Wacht

Geht zu Ende. Von der übernächtig

Müden Stirne streife starre Sorgen,

Streife deiner Sehnsucht rastlos Grübeln.

Nur getrost! Die große Frühlingskraft,

Die geheimnisvoll der Erde Busen,

Wurzel, Knospentrieb und Menschenherzen

Schöpferisch durchbebt/ sie pulset weiter,

Braucht dein Sorgen nicht. Sie pulset weiter,

Wenn dein Wächteraug auch bricht, und dunkle

Todesflut den morschen Leib umspült.

Ruhst du ewig doch im Mutterschoße;

Da wird Todesflut zum Jugendborn.


Hahnenschrei. Nun auf, Einsiedler! Lisch

Endlich kummervoller Menschenliebe

Fackel/ die so düster dir zu Häupten

Schwelte diese lange, bange Nacht.[167]

Laß an sanfter Ruhe treuen Busen

Deine aufgelösten Sinne sinken!

Kühl und duftig um dein Lager wallen

Fliederzweige ... Matter Hahnenschrei/

Letzter Scheidegruß von jenem dunkeln

Ufer, das die Seele, wie ertrinkend,

Doch so gern, verlor ... Ade, ade!


Einmal taucht sie noch empor; und zwischen

Schlaf und Wachen träumend, hört sie leises

Lerchenzwitschern ... Vöglein, lieber Herold,

Spürst du droben frischen Lebensodem,

Neugebornes Licht, das aus der Nacht

Rosenüppig blüht? Ja, Todesflut

Ward zum Jugendborn! Und gläubig lächelnd

Sinkt die Seele zum ersehnten Sterben

In die dunkle Flut ... Wie süß, wie süß!

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 166-168.
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