Der verlorene Sohn

[163] Ein Mysterium


Es sprach die Ewigkeit:

»Nur still, ihr Kindlein, ruht!

Bewahrt vor allem Streit,

Bleibt Gottes Fleisch und Blut.«


Doch ein Geschrei erwacht:

»Laß uns geboren werden!«/

So wurden Tag und Nacht,

Luft, Wasser, Himmel, Erden.


Das Menschenkindlein sog

Mit Auge, Mund und Ohr.

Die Sondergier betrog,

Daß es sein Herz verlor.


Von Habsucht ausgefüllt,

Denkt es der Herkunft kaum;

Die Heimat liegt verhüllt,

Vergessen wie ein Traum.


Und wenn es rückwärts lauscht,

Grüßt keine Mutter mehr;

Und nur ein Garten rauscht,

Ein wogend Wipfelheer.
[164]

Mit lichtem Schwerte droht

Ein Wächter vor der Pforte.

Wie Blitz sein Auge loht;

Wie Donner seine Worte:


»Im Heim der Ewigkeit

War einer bei dem andern.

Die unrastvolle Zeit

Läßt euch entfremdet wandern.


O Wüste Einsamkeit,

Wo jeder einzeln irrt!

Die Völker sind entzweit,

Die Sprachen sind verwirrt.


Und weil um Rache schreit

Vergossnes Bruderblut,

Nun denn, ihr Mörder, seid

Einander Höllenglut!«


So grollt der Rachegeist.

Doch horch, der Garten Eden,

Er säuselt und verheißt:

»Herbei! Ich heile jeden!
[165]

Erlösung wird beschert,

Wenn ihr, der Wüste leid,

Euch reuevoll bekehrt

Zur treuen Ewigkeit.


Herbei, ihr Zagen! Kommt

An meine Gartenmauer!

Zu eurem Troste frommt

Der ahnungsvolle Schauer.


Wenn meine Wipfel raunen

Und Nachtigallen singen,

Will euch vor süßem Staunen

Das volle Herz zerspringen.


Und so sich zwei vereinen

In Lieben und Erbarmen,

Da halten sie mit Weinen

Ihr Eden in den Armen.«

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 163-166.
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