Lilien schnein

[9] Die Winterwolken tropften,

Auf Gräbern lag der Schnee.

Zween heiße Herzen klopften,

Ihr Scheiden tat so weh.


»Und wirst du mir genommen,

Du bittersüßer Knabe,

Einst sollst du wiederkommen,

Daß ich dich ewig habe.«


Der Knabe hub die Augen,

Vielherbe zuckt sein Mund:

»Du hoffest noch, wir taugen

Zu einem Erdenbund?


Mag sein, es wird gefreiet,

Herzallerliebste mein,

Wenn's weiße Lilien schneiet,

Und regnet Hochzeitswein.«


Er schied. Und nur im Traume

Kam Trost für ihre Pein:

Sie sah beim Gräberbaume

Wein regnen, Lilien schnein.
[10]

Und wie sie dann erwachte,

So war es lauter Nichts.

Da weinte sie und lachte

Ob ihres Wahngesichts:


»Laßt mich zum Gräbergarten,

Zum kühlen Erdverließ,

Das Wunder zu erwarten,

So doch mein Schatz verhieß.


Sprach er denn nicht: gefreiet

Wird, Allerliebste mein,

Wenn's weiße Lilien schneiet,

Und regnet Hochzeitswein?


Ein Dach soll mich bedecken,

Wenn endlich Lilien schnein,

Ein Hügel mich verstecken,

Wenn's regnet Hochzeitswein.«


Bald raunten dumpfe Glocken:

»Willkommen unterm Dach,

Tu Myrten um die Locken

Und ruh im Brautgemach!«
[11]

Nach Jahren kommt gegangen

Der Knabe durch das Gras,

Erblichen seine Wangen,

Die Augen kummernaß.


Da hat sein Fuß geholpert,

Und übers Totenhaus

Ist er dahingestolpert,

Der Odem ging ihm aus.


Nun horch, es lacht im Grabe:

»Erfüllt soll also sein,

Dein Spruch, getreuer Knabe:

Wein regnet, Lilien schnein!


Der Schnee sind deine Wangen,

Dein Augentau ist Wein.

Nun halten sich umfangen

Auf ewig Mein und Dein.«

Quelle:
Bruno Wille: Der heilige Hain. Jena 1908, S. 9-12.
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