[228] Frau Schneckle, Studentenmutter in der Neckarhalde, hatte ihrem frühern Mieter Herrn Hainlin sein altes Zimmer eingeräumt. Weil nun das Haus, wo wir wohnten, unterhalb der Neckarhalde liegt, konnte ich durchs offene Fenster sowie vom Garten her das Flötenspiel des Kandidaten belauschen, wenn er abends auf Schneckles Altane saß und mit seinen Flötenseufzern Rosel grüßte, die in der Laube träumte. Der kranke Herr Bolkendorf, dem Rosels Mutter die Wirtschaft führte, hatte, wie gesagt, neben uns seine Wohnung. Unsere Beziehungen zu dieser Nachbarschaft waren freundlich. Sah ich Rosel bei der Tanne gärtnerisch hantieren, so war ich bereit, ihr zu helfen, und habe manche Gießkanne auf ihre Salatbeete getragen. Mein Vater saß zuweilen am Bette des Patienten und plauderte mit ihm von der Heimat.
»Gespannt bin ich,« – sagte meine Mutter zum Vater – »was nun mit Rosel und dem Kandidaten wird.« – »Sag einfach: ob er die Anstellung an der Töchterschule erhält. Das ist entscheidend. Alsdann, wenn er Rosel ernähren kann, wird er wohl ernstlich um sie anhalten – und sie gibt ihm keinen Korb.« – »Oder,« entgegnete die Mutter, »wie's im Liede heißt, das Hainlin gestern geflötet hat, wird sie sagen: Für die Zeit, wo du geliebt mi hast, dank i dir schön – und wünsch, daß dir's anderswo besser mög gehn.« – »Oho! sie liebt ihn! Und Bolkendorf hat seiner Sorge Ausdruck gegeben, mit ihrem[229] Jugendfreunde werde sich Rosel unauflöslich verbunden fühlen.« – »Unauflöslich? Irdische Verhältnisse sind niemals unauflöslich. Rosel, im Grunde eine verständige Natur, muß sich sagen: Jugendschwärmerei ist bald verflogen, und was dann? Einen vermögenden, übrigens herzensguten Mann zu haben, ist besser als einen Schwärmer, arm wie ne Kirchenmaus.« – »Ach ja!« seufzte mein Vater – »man könnte wahrhaftig meinen, nicht der liebe Gott regiert unsre Welt, sondern der Geldbeutel. Aber Gott sei Dank gibt's noch Menschen, die auch das Herz mitsprechen lassen beim Eheschluß.« – »Du bist eben kein Realist! Hast selber was von diesem Träumlesjörg – so nennt ihn Rosel und hat ganz recht!«
»Und was würde Bolkendorf sagen – wie würde er fühlen – wenn sich nur vermuten ließe, daß Rosel solchem – Realismus huldigte?« – »Na ja, erbaulich wär's nicht. Aber was ist da zu machen? Bolkendorf hat nun mal das Pech, Krüppel zu sein – und hat herzliche Pflege nötig – ist zudem verliebt in Rosel. Also wird er ein Auge zudrücken! Ich wundere mich übrigens über dich – du bist Bolkendorfs Landsmann und besuchst ihn – da solltest du ihm die Rosel gönnen. Wirst doch wohl einsehn, daß es edelmütig von ihr getan wäre, Bolkendorf nicht zu verlassen?« – »Edelmütig, ja! Aber aus bloßem Edelmut soll man nicht heiraten. Was wird sie denn, wenn sie den Patienten heiratet? Seine barmherzige Schwester – so eine mit der Diensthaube! Schließlich entartet sie zur Madeere-Kuh.« – »Frauenlos!« versetzte die Mutter herb. – »Vor solchem Frauenlos sollte Hainlin sie eben bewahren. Sollte ihre Hand ergreifen – oder wenigstens ein ernstes Wort mit Bolkendorf sprechen – ihm dringend abraten ...«
»Nun bin ich aber gespannt, was du in Bolkendorfs Lage machen würdest,« fragte die Mutter. Der Vater räusperte sich,[230] und, obwohl zögernd, kam die Antwort: »Ich? Wenn ich Bolkendorf wäre? Hätte dann allerdings – warum auch nicht? – den Wunsch, Rosel – bei mir zu haben – es zu dürfen! Wenn ich aber sähe, daß sie innerlich zu Hainlin gehört, würd ich sagen: Heiratet euch! Hier, Rosel, hier ist ein Geldzuschuß! Und wenn ich sterbe, vermach' ich euch ein Auskommen. Und zu Hainlin würd' ich sagen: Mach' sie glücklich! Im Grunde will ich ja nichts anderes, als Rosel soll glücklich sein, das ist die Hauptsache!« – Tief atmend, schwieg meine Mutter – dann meinte sie nachsichtig, wie man zu einem törichten Kinde spricht: »Aber, Mann!«
»Ja!« bekannte mein Vater leise. »Es ist nichts mit jener Verliebtheit, die den Menschen haben will, wie man Eigentum hat. Wahre Liebe ist anders!« – Die Mutter seufzte: »Ach Gott, Mann! Was du wahre Liebe nennst, ist bei den Engeln daheim – nicht bei uns Menschen. Ich glaube übrigens, selbst dir würde es schwer fallen ... Hand aufs Herz! Wärst du fähig, so uneigennützig, so engelhaft ... wie?« – Demütig versetzte der Vater: »Ueber meine Fähigkeit wage ich nichts zu behaupten. Aber eins weiß ich: Wer solche Liebe fertigbringt, rutscht nicht vom Glasberg ab – der ist und bleibt im Engelheim.«
Die Mutter schien gerührt: »Solche Liebe – wir Frauen meinen sie, wenn wir ein Kind haben. Mann und Frau, die lieben einander anders – wenigstens gewöhnlich – nein, fast immer!« – »Allerdings, mit dieser andern Liebe fängt ein Paar gewöhnlich an – während es nicht mal den Grund zur Freundschaft gelegt hat.« – »Du meinst, anfangen sollten sie mit der Engelhaftigkeit? Dann wären die Ehen so selten wie Engel auf Erden, und an der Engelhaftigkeit würde die Menschheit aussterben. Adam und Eva – heißt es – waren zwar anfangs im Engelheim – aber ich kann mir nicht denken, daß der liebe Gott gemeint hat, sie sollten sich bloß in heiliger Seelenfreundschaft[231] finden – wie Hainlin und Rosel. Bei Hainlin vermute ich allerdings, daß seine Unfähigkeit mitspielt, das Leben realistisch zu nehmen. Er will lieber träumen und Junggesell als verheirateter Schulmeister sein.«
»Ganz einfach!« platzte ich dazwischen – »er will nicht ins Tinten-Zuchthaus! So sagt Uli! Der durchschaut die Geschichte! Und weil Hainlin nicht dazu paßt, Pennal-Lehrer zu sein – und weil Rosel das einsieht, drum eben will sie ihn nicht dazu verleiten.« – »Der Junge mag recht haben,« – sagte mein Vater – »was kein Verstand der Verständigen sieht ... Hainlin will Rücksicht auf Rosel nehmen – sie auf ihn – auch natürlich auf ihre Mutter – und auf Bolkendorf. Und so entsagt Hainlin – wie Rosel entsagt. Daß es aber dahin kommen kann, macht die Dumpfigkeit, die Sumpfigkeit, dran unser öffentliches Leben krankt. Staat und Kirche und Schule und alles wird beherrscht von den Philistern. Einem Menschen wie Hainlin gewähren sie kein Brot, wenn er nicht mitmachen will. Soll ich sagen, wer mit Bestimmtheit eine Madeere-Kuh ist? Unsere Zivilisation! Um Futter zu haben, versauert sie im Stall auf der Beletage. Und kennt die Sonne nicht. Neulich hat Hainlin das rührende Lied geflötet vom Wanderer, der seine Engelheimat sucht: Ich bin ein Fremdling überall. Wo bist du, wo bist du, mein geliebtes Land? Gesucht – geahnt – und nie gekannt!«