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[195] Der Hungerturm sollte uns Zutritt verschaffen zu den Heimlichkeiten des Tübinger Schlosses. Eine Entdeckungsfahrt war verabredet und sogar umständlich vorbereitet. Ich erschien mit einem Bergstock, als gelte es eine Gletscherpartie. Wendelin hatte eine Strickleiter, Enzio ein Bündel Dietriche, vom Schlosser geliehen, Jahn eine Laterne und eine Pechfackel, die einem Studenten vom Fackelzuge übrig geblieben war. Ritter Uli wurde von einem Weingärtnerbuben begleitet, der ein Rapier, einen Kübel mit Most und ein Trinkhorn schleppte und dafür zwei Groschen bekam. In den Hungerturm zu gelangen, fiel nicht sonderlich schwer, wenn auch die Schießscharte so eng war, daß Uli und ich etwas gezwängt wurden. Wir standen in halber Dunkelheit, neugierig sahen wir uns um. Es war da nichts als Schutt, ein paar alte Bretter und etwas Asche. Diese mochte von einem Feuer herrühren, das Eindringlinge unserer Art angezündet hatten, um Allotria zu treiben. Die aus Felsquadern gefügten, sehr dicken Mauern atmeten eine schaurige Erhabenheit.
»Wie alt mag das Schloß sein?« fragte ich, und Uli antwortete: »Genau läßt sich dees net sagen – jedenfalls uralt. Hier sollen die Römer den Alemannen die letzte Schlacht geliefert und von den Tübinger Weingärtnern Schläg bekommen haben.« Der belesene Wendelin gab die Auskunft: »Die älteschte Benennung von Burg und Stadt lautet Twingen –[196] in einer Urkunde aus dem Jahre 1000 heißt es: Castrum Alemannorum, quod Twingia vocatur. Twing oder Zwing bedeutet Festung, Zwingburg. Heißt net die Stadtmauer bei der Neckarbrück noch heutigen Tages Zwingle – gelt?« – »Solle mer jetzt den Moscht trinke?« fragte Enzio. Uli entgegnete: »Da gfallt mer's net! Suche mer weiter zu komme.«
Morsche Holzstufen führten zu einer eisenbeschlagenen Tür. Sie war verschlossen, und wenn auch Enzios Dietriche versagten, so gelang es mit dem Handwerkszeug, das Türschloß abzuschrauben. Die Pforte gab nach, und wir traten in einen gähnend weiten, finstern Raum. Lauschend hörten wir nichts als das leise Pfeifen einer Ratte. Wir zündeten die Laterne an, da kam eine Fledermaus geflattert. »Wir sind im Schloßkeller,« raunte Uli. Unsere Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit, und Enzio rief: »Das große Faß – da leit 's!« Den ganzen Nordbau des Schlosses schien die Unterkellerung zu umfassen – ein hohes Gewölbe, zu dem das Tageslicht nur spärlich durch vergitterte Luken eindrang. Inmitten ragte das Faß wie ein Riesenelefant. Als wir es umringten und beklopften, erklärte der belesene Wendelin: »Acht Meter Länge hat's, fünf Meter Höhe – aber den Inhalt einer großen Stub – es faßt noch hundert Hektoliter mähr als das berühmte Heidelberger Faß. Schaut, waas ungschlachte Knochen dees Viech hat! Wißt ihr, wieviel Eichen Meischter Simon von Bönikheim zum Bau hat verarbeiten müssen? Zu den Bohlen – geradezu Balken sind's – ond Dauben vierzik Eichen, zu den Reifen weitere fünfzik. Als Lohn für sein Kunschtwerk hat er hundertfufzik Gulde kriegt, dazu ein Hofkleid.« Jahn beleuchtete mit der Laterne eine Tafel, die am Faß angebracht war, und buchstabierte: »Als großes Buch bin ich bekannt, durch Herzog Ulrich so genannt, 1546 wurd' ich erbaut, aus neunzig Eichen,[197] wie ihr schaut – zweimal ward ich gefüllt mit Wein, 286 Eimer nehm ich ein.« – »Herrschaft!« staunte Enzio. »Gelt, hier tun mer den Moscht trinke?« Aber Uli meinte, wir sollten erst noch rekognoszieren und jedenfalls den unterirdischen Schloßbrunnen ausfindig machen. Wir wagten, die Fackel zu entzünden – ihre qualmige Röte sprühte durch das gotische Gewölbe, wo nun mehrere Fledermäuse herumhuschten.
»Hier ischt die Richtong zom Brunne,« sagte Uli, auf einen finsteren Seitengang deutend – »den Bauplan des Schlosses kenn i.« Schräg aufwärts ging's über Bretter und Felsenstufen. Moderluft hauchte kalt. Eine Kuppel wölbte sich über einer Schranke, die aus Felsenquadern kranzförmig erbaut war und vier Meter Weite haben mochte. Es war der Schacht eines Ziehbrunnens. Mit der Fackel leuchteten wir hinein, unergründlich schien der Abgrund. Nach Enzios Behauptung betrug die Tiefe bis unter den Neckar hundertfünfzig Meter. Den Zweck dieser Anlage setzte Uli auseinander. Im Schloßhof sei ein laufender Brunnen, der genüge aber nicht, wenn die Burg belagert werde. »Na ka mer ja aus dem Riesefaß saufe,« meinte Enzio – aber Uli gab zu bedenken, wieviel Wasser nötig sei, für Hunderte von Menschen sowie für all die Pferde, Rinder und Schafe, mit denen man während der Feindesnot versehen sein müßte. – Wir warfen Steine in den Brunnen – man hörte sie sausen, seitlich wiederholt anprallen und nach einer Weile unten aufschlagen. Ein Zeitungsblatt, das wir angezündet hatten, schwebte effektvoll nieder. Die brausende Flamme beleuchtete tief und tiefer den Schacht, bis sie auf einmal erlosch.
Enzio wollte noch weiter in die unterirdische Romantik vordringen, er schwärmte vom Femgericht und der Folterkammer. Es sei da auch ein Burgverlies, aus dem hab ein Gefangener[198] ausbrechen wollen, mit den Fingernägeln ein Loch in die Felsenmauer geklaubt, einen Meter tief. Aber drei Meter dick sei die Mauer. »Ein andermal!« vertröstete Uli – »für heute hänt mer noch e wichtige Tagesordnung. Zurück zum Faß!«
Dort füllten wir Most in das Trinkhorn, und Uli erhob es feierlich: »Knappen vom Glaasberg! Rühmlich soll unsre Freiheitsbande ihren Weg gehn. Ond jetzt stehn mr vor ener neuen Stuf unsres Aufstiegs. Ahne könnt ihr net, waas i mein – drum rund heraus: Net graad, daß mr eine Räuberbande gründe wolle – aber eine Zeitong! E Pennälerblatt, e heimlichs! Wir selber wollen's schreibe. Redaktör Wendelin. Bruno macht die Bilder. Jahn tut's drucke ond verlege. Hektographisch vorläufik. Ond jetzt ratet, wie dees Blättle heiße soll!« – »Böhmische Wälder,« schlug Enzio vor. – »Ah waas!« lehnte Uli ab – »Der Glaasberg! Ein Blatt für solche, die hinauf wollen.« – »Famos!« rief ich – »das gibt ein Titelbild.«
Uli fuhr fort: »Da ihr also gewillt seid, ans Werk zu schreiten, guet! So begießen mr's zur Weihe mit eme Trunk. Hier schwing i's Horn von eme Auerochse, wie sie einscht durch Germaniens Eichenwälder gstapft send. Gfüllt mit schäumendem Met, drin unsere Väter hänt ihrer Götter Minne trunke. Wohlahn, dr erschte Schluck sei Wotan geweiht, dem Gotte der Begeischterung!« Ein Teil des Trankes platschte auf den Boden, und Ulis Baß stimmte das Lied an: »Alles schweige! Jeder neige ernsten Tönen nun sein Ohr!« Die Weise, von den Studenten Landesvater genannt, war uns halbwegs geläufig – wir wiederholten, wenn auch etwas schüchtern, den Rundreim: »Hört, ich sing' das Lied der Lieder! Hört es, meine deutschen Brüder! Hall' es wider, froher Chor!« Uli tat aus dem Horn einen tiefen Zug und reichte es Enzio, der's aber bloß zu halten hatte – während Uli, seine Schülerkappe[199] abnehmend, weiter sang: »Seht ihn blinken, in der Linken, diesen Schläger, nie entweiht. Ich durchbohr' den Hut ond schwöre: Halten will ich stets auf Aehre – stets ein braver Bursche sein.« Schwärmerisch gröhlten wir: »Du durchbohrscht den Hut – so schwöre: Halten sollscht du stets auf Aehre, stets ein braver Bursche sein.« Die Reihe, Solo zu singen, war an Enzio. Obwohl er sich bemühte, Ulis tiefe Stimme nachzuahmen, schnappte sie ihm quiekend über. So ging das Trinkhorn von Mund zu Mund, und mit dem Schläger hatte jeder seine Schülerkappe zu durchbohren: »Nimm den Becher, wackrer Zecher, vaterländischen Trankes voll – nimm den Schläger in die Linke – bohr ihn durch den Hut und trinke – auf des Vaterlandes Wohl!«
Erhabene Wonne, als teutscher Knabe durchschauert zu sein von der Ahnung eigener Bedeutung. Je tiefer die Züge aus dem Trinkhorn gerieten, desto heldenhafter dünkten wir uns. Aber wie ein Hund, der im wohligen Sonnenscheine liegt, jählings auffährt, weil ein boshafter Schusterjunge einen Eimer kalt Wasser über ihn ausschüttet, so schlug uns Bestürzung in die Knochen, als eine rauhe Mannesstimme schimpfte: »Ssauballa dreckete! Wart no, i tu mei Knüppel hole! Verschlag uich die Köpf'!« Vor diesem Feind, der uns fast im Nacken saß, ergriffen wir die Flucht. Enzio stolperte über den Kübel, der Most netzte mir die Beine. Wendelin rannte mit dem Trinkhorn, Jahn mit der Laterne. Zurückblickend sah ich, wie Uli, in der Linken die Fackel, den Schläger drohend erhob – während auf der Treppe, die vom Schloßhof in den Keller führte, im hereinflutenden Tageslicht ein bärtiger Mann stand, unschlüssig, was er machen solle.
Den Flüchtlingen hastete ich nach und war wieder im Hungerturm. Enzio schlüpfte zur Schießscharte hinaus, Jahn folgte[200] mitsamt der Laterne. Wendelin wandte sich: »Wo'scht dr Uli?« Indem war Uli zur Stelle. »Haseherze!« schimpfte er. »Der knotige Philischter soll nur komme – mit dem nehm i's auf. Ha! Der hat sich zurückgezoge!« Aber Wendelin warnte: »Beistand wird er hole. Ond wenn wir ons net bald fortmache, so kommt er vom Schloßgrabe, na ischt ons der Rückzug abgschnitte.« Uli sah das ein: »Retraite!« Er half Wendelin zum Ausschlupf und kroch hinterdrein.
Ich hatte bereits ein Bein und einen Arm in der Schießscharte, aber die Brust ließ sich nicht hindurchzwängen. Ich wurde ängstlich, weil ich mir sagte: Faßt man mich hier ab, so riskier ich geschaßt zu werden. Hinaus, hinaus! Aber das ging nicht, wollte nicht gelingen, wie ich mich auch wand. War ich denn behext? Von unsrer Großmannssucht geschwol len? Ich stöhnte: »Uli! Uli!« – »Waas?« erwiderte er von außen. – »Ich komme nicht durch.« – »Onsinn!« – »Hilf!« – Meinen Arm faßte er und zog. »Au! Halt!« – »Sei gscheit!« mahnte Uli und zog nun auch am Bein. – »Au! So geht es nicht!« – »Du bischt doch nei komme, so mußt auch wieder raus! Tu di zsammereiße! Hup! Komm ra!« – »Au! Ich bin zu dick geworden – von der verfluchten Sauferei.« – Uli lachte und begann aus Schelmerei auch noch zu kneifen.
»Seid ihr verrückt?« raunte Wendelin. »Grad kommt ebber über die Grabebrück gloffe – der meint ons!« – »'s ischt der Knote!« sagte Uli – »also, Wille, schau, wie du fertik wirscht! Aber nix verrate, wenn mr dich abfaßt – verstande?« – Ich vernahm die Tritte der enteilenden Kameraden und zog mich in den Hungerturm zurück. Bald darauf schimpfte die Männerstimme hinter den Fliehenden her: »Gymnasischte seid ihr – ja versteckt nur eure bunte Kappe! – I kenn uich, Halunke! Schasse mueß mr uich!«[201]
Mir kam der Gedanke, in seiner Hast könne der Mann die Kellertür offen gelassen haben – sofort kehrte ich in den Keller zurück. Glimmend lag die Fackel neben dem umgeworfenen Mostkübel. Ich raffte sie auf und leuchtete mir zur Kellertreppe. Aber die Tür war verschlossen. Um das Maß meiner Ratlosigkeit voll zu machen, verrieten Stimmen, man wolle den Keller durchsuchen. Ich flog die Treppe hinab und wandte mich, um die Verfolger irrezuführen, nach links. Als der schmale Gang um die Ecke bog, glaubte ich, verborgen zu sein. Wie gut, daß ich die Fackel hatte – allerdings war sie fast heruntergebrannt. Ich stieg eine Treppe empor, hohe Steinstufen. Es war, als wollten die Mauern sich zusammenpressen. Kalt fühlten sie sich an, glitzernd vor Nässe. Als ein Seitengemach kam, stand ich verschnaufend. Die Stimmen waren verstummt – man schien das Suchen aufgegeben zu haben. Aber eingesperrt war ich, und die Fackel ging zur Neige.
Als ich mich umsah, merkte ich, daß ich in jenem Raume war, den Enzio als das Femgericht bezeichnet und beschrieben hatte. Ein zylindrisches Gewölbe – hier unten war die Stelle für den Angeklagten, droben die kranzförmige Galerie war für die Femrichter. Meine aufgeregte Einbildungskraft sah auch jetzt unheimlich vermummte Gestalten, und es war, als halle eine dumpfe Stimme: »Gras und Grein, Stock und Stein, Maus und Molch, Daus und Dolch.« Und weiter tappte ich durch die Gänge – abermals Stufen hinan. Ich muß zu den Gefängniszellen gelangt sein – es waren gemauerte Löcher, so eng, daß die Gefangenen nicht aufrecht hatten stehen können. In einen dieser Steinsärge kroch ich, weil es mir vorkam, man könne von da in einen weiten Raum gelangen. Ich hatte mich getäuscht, überdies erschreckte mich eine unheimliche Entdeckung: Ich befand mich in dem Verliese, das Enzio erwähnt[202] hatte. Da war ja das Loch in die Mauer geklaubt; jahrelang mochte der Gefangene daran gearbeitet, mit den Fingern gekratzt haben – Werkzeuge hatte er nicht besessen. Wie verzweiflungsvoll mußte die Verlassenheit des Aermsten gewesen sein, daß der Kerkerwärter, der ihm Wasser und Brot durch die Lücke schob, vom Fluchtversuch so lange nichts gemerkt hatte.
Teufel! schießt es mir durch den Kopf – wenn mich der Uli im Stich läßt! Wenn jetzt die Fackel ausgeht! So muß ich hier die Nacht kampieren, bei Ratten und Fledermäusen, umkrächzet nur von Molch und Unk! – Tatsächlich ist die Fackel dahingeschwunden, und es hilft nichts, daß ich den Stummel zu entfachen suche. Eine Gänsehaut überschauert mich, das Haar auf dem Kopfe tut mir weh, die Knie beben.
»Hilfe!« brülle ich. Vom hohlen Echo vollends erschreckt, stürze ich fort – mein Schädel stößt ans Gemäuer. – So mag einer Maus zumute sein, hinter der die Falle zugeschnappt ist. Verstört rennt sie hierhin, dorthin, mit allen Sinnen nach dem Ausschlupf suchend. – In Angstschweiß gebadet, tappe ich durch die Eingeweide des Burgverlieses. Schon hat der Stummel meiner Fackel kein Fünkchen mehr – da zeigt sich hinten im finstern Gange ein bläuliches Dämmern. Ich stolpere hin – ertaste eine schwere Holztür, durch deren Ritze ein Strahl des Tages lugt. Ein plumper Riegel – verzweifelt rüttle ich daran – drücke, ziehe – und – auf geht das Tor – Licht! Ich schlüpfe hinaus.
In einem Gärtchen bin ich – an molliger Sonne grünen Stachelbeersträucher – Veilchen blühen und Milchstern. Im Bärengraben muß es sein – ach, freilich! Da staffeln sich die Beete empor – noch ein kleiner Aufstieg, und ich bin aus aller Not. – Sonnenschein! Frühlingsgrün! Blauer Himmel! O süße, süße Freiheit!
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